Krisennarrative haben sich (mindestens) in den letzten 20 Jahren massiv in die soziologische Beobachtung von Gesellschaften eingeschrieben: Von Terror, Wirtschafts- und Finanzkrisen, kriegerischen Handlungen, Flucht- und Migrationsbewegungen, Gas- und Energiekrisen, der Klimakrise, Sorge- und Care-Krisen bis hin zu Krisenbewegungen sozialer Zugehörigkeiten (LGBTQ, BiPoC, Crip Movement). Die Corona-Pandemie gilt wohl immer noch als jene ubiquitär wirksam gewordene globale Krise, die sich bis heute durch ihre sinnlich erfahrbaren und materiellen Formen (Husten, Maske, Abstandsregelungen, der Bewegungseinschränkungen) und ihre gleichsam noch nicht restlos ergründeten Nachwirkungen ins individuelle und kollektive Körpergedächtnis eingebrannt hat.
Mit diesem Call möchten wir dazu anregen, das Potential körpersoziologischer Perspektiven auszuloten, die sich zur empirischen und theoretischen Beschreibung gesellschaftlicher Krisen und ihrer alltäglichen Folgen eignen. Krisen umgrenzen nicht nur einen Bereich des Außeralltäglichen. Ihre Bearbeitung und Wahrnehmung ist gleichermaßen im gesellschaftlichen Alltag situiert und kann da, wo sie sich strukturell verfestigt (bspw. durch Armut und ihre ›Ungleichheitskörper‹), zur veralltäglichten Gewohnheit werden. In zeitlicher Hinsicht gehen Krisen mit einer prozesshaften Liminalitätskonstruktion einher, die zwischen Vergangenem und Zukünftigen vermittelt oder auch bricht. Dies betrifft insbesondere sozialen Wandel und Transformationen, aber auch soziale Konflikte, die verdeutlichen, wie Sozialität durch Krisen gekennzeichnet ist. Dabei stellt dieser Call die Frage, welche (neuen) Formen von Körperlichkeit und verkörperter Sozialität mit den Aufschichtungen des Krisenhaften einhergehen? Wie manifestieren, habitualisieren und inkorporieren sich Krisen (auch als verkörpertes Wissen) und wie werden diese in und durch Praktiken und Handlungen situativ und diskursiv hervorgebracht?
Die Tagung möchte hiervon ausgehend gegenwärtige Erscheinungsformen und thematische Anknüpfungspunkte für soziologische Perspektiven kartieren. Diese können verschiedene Körperformen umfassen, die das Krisenhafte unmittelbar anzeigen und sich zugleich im Alltag über somatische Formen und Körperpraktiken artikulieren:
- Protestkörper: Die gegenwärtigen sozialen Bewegungen werden mehr denn je auch körperliche Protestbewegungen, die auch die Verletzung der eigenen Protestkörper nicht nur in Kauf nehmen, sondern ihre Physis mit politischen Anliegen verbinden (bspw. ›Letzte Generation‹ und konkrete Formen des zivilen Ungehorsams). Körper erscheinen uns in diesen Narrativen und Praktiken als Einheit wie auch als zueinander in konfliktreicher Opposition stehend, z.B. zwischen dem, was sich als Staats- und Gesellschaftskörper beschreiben lässt, bspw. mit Blick auf die gegenwärtigen Protestformen im Iran, China oder Peru.
- Flucht- und Kriegskörper: Hier treten verkörperte Erfahrungen von Gewalt, Flucht und Vertreibung aus Krisen- und Kriegsgebieten in den Blick. Gemeint sind jene Menschenansammlungen, die uns als Körperkollektive auf Booten und Schiffen zumeist medial vergegenwärtigt werden. Damit verbunden sind die traumatisierten Körper globaler Migrationsbewegungen, die zum objektivier- und disziplinierbaren Gegenstand institutionellbürokratischer und staatlicher Praktiken werden. Vermehrt treten zudem jene bildhaften Körper in den Blick, die uns in ihrer medial-repräsentierten Erscheinungsform als mehr oder weniger un/versehrte Kriegskörper begegnen.
- Sportkörper: Die Ausrichtung sportlicher Großveranstaltungen provoziert offenkundig Protestformen, in denen auch Sportkörper politischer Botschaften vermitteln. Krisenhafte Phänomene der sexualisierten Gewalt und misshandelte Körper geraten in den Blick, die die Selbstverständlichkeiten sportlicher Praktiken (etwa in Bezug auf Berührungen) hinterfragen. Ebenso ist zu beobachten, wie indifferent der organisierte (Hoch/Leistungs-)Sport auf die Diversifizierung/Diversität von Körpern reagiert: etwa im (Nicht/)Umgang mit Geschlechterkörpern jenseits heteronormativer Geschlechterordnungen (wie Trans- und Intergeschlechtlichkeit), der ungleichen Bezahlung körperlicher Höchstleistungen (Stichwort: Gender pay gap im immer noch männerdominierten Fußball) oder der medialen (Unter)Präsenz des inklusiven Sports (mit Ausnahme der paralympische Spiele).
- Klimakrisenkörper: Unsere Körper sind in klimatisch ›aufgeladene‹ Umwelten eingebunden und stehen in einem Wechselverhältnis mit nicht-menschlichen Entitäten (z.B. mit Luftqualitäten, Bakterien, Viren, Smog, Aerosolen, räumlichen Gefügen). Jedoch sind diesen Beziehungen auch soziale, materielle, politische, körperliche und kulturelle Unterschiede eingeschrieben. Im Kontext der Klimakrise bilden sich neue Praktiken und Prozesse heraus, um etwa mit Hitze- und Kältewellen oder anderen Naturkatastrophen (wie z.B. Überschwemmungen) umzugehen und sich infrastrukturell – auch gekoppelt an die gegenwärtige Gas- und Energiekrise – darauf einzustimmen. Dazu gehören sowohl Lüftungskonzepte, Klimaanlagen, Deichbau als auch etwa Protestformen und Radikalisierungen, wie z.B. ›Prepper‹-Praktiken des Lagerns von Nahrungs- und Stromreserven in Kellern. Sie sind zugleich Ausdruck von somatischen Krisenhaftigkeiten, die es soziologischzu entschlüsseln gilt.
- Sorgekörper: Sorgende und umsorgte Körper gelten im Kontext gegenwärtiger Care-Krisen auch als gesellschaftlicher Effekt eines ohnehin krisenhaften Alltags. Das Gesundheitswesen ist hier in Bezug auf den Fachkräftemangel und den gleichzeitig hohen gesellschaftlichen Sorgebedarf zu nennen. So entstehen in einer alternden Gesellschaft auch zunehmend prekäre Pflege- und Versorgungssituationen. In diesem Problemkontext sind ebenso die un/sichtbare Begleitung von und emotionale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die inklusive Arbeit im Kontext von Dis/ability sowie verschiedenste Therapieformen für erschöpfte Krisenkörper, Isolation und Vereinsamung zu nennen. Wie und über welche Verkörperungen wird in einem krisenhaften Alltag Sorge getragen und wie transformiert sich dabei das Verhältnis von sorgenden und umsorgten Körpern?
Körper, und das sollen die genannten Beispiele nur andeuten, sind und bleiben Angriffsfläche für unterschiedlichste Krisenerfahrungen. Sie sind zugleich Ausgangspunkt und Austragungsort gesellschaftlicher Krisen, wie sich u.a. an politischen Diskursen und sozialen Protestbewegungen in je unterschiedlicher kultureller Ausprägung rekonstruieren lässt. Des Weiteren fragen wir deshalb, wie sich Krisen körperlich zeigen (und umgekehrt): wie werden Krisen durch Körper im Alltag gefühlt, gelebt, somatisch ausgedrückt, angezeigt und symbolisch repräsentiert? Auf welche
körpersoziologischen Ebenen des Wissens, der Beobachtung und der Beschreibungssprache können wir zurückgreifen? Welche methodologischen Konsequenzen sind mit der Untersuchung solcher
Phänomene verbunden? Aus (auto-)ethnographischer Sicht: Wo liegen die Grenzen der Beobachtung körperlichen Krisenerlebens und was versperrt sich dem Blick? Wie lassen sich Verkörperungen von Krisen empirisch und theoretisch fassen bzw. welche Beobachtungsinstrumente müssen ggf.
weiterentwickelt werden?
Wir ersuchen Vorschläge für Beiträge im Umfang von ca. 300 Wörtern, die bis zum 04.03.2023 einzureichen sind bei dem Vorstandsteam der Sektion (E-Mails: hanna.goebel(at)hcu-hamburg.de; clemens.eisenmann(at)uni-konstanz.de; ajit.singh(at)uni-bielefeld.de; wiedemal(at)hsu-hh.de