Aktuell

Soziologie in Brasilien zwischen zwei Apokalypsen

Jacob Carlos Lima und Emil Sobottka | Brasilianische Gesellschaft für Soziologie im Juni 2020

Brasilien ist heute mit der covid-19 Pandemie konfrontiert, unter einer Regierung, die den Ernst der Situation herunterspielt und so eine landesweite öffentliche Politik zur Bekämpfung des Virus verhindert. Der Präsident der Republik besteht darauf, öffentlich mitten in Menschenmengen aufzutreten und zu sagen, dass die covid-19 Erkrankung ähnlich wie eine schwache Erkältung verläuft, und folglich nicht so ernst genommen werden sollte, selbst nachdem bereits ein Teil seines Teams und schließlich er selbst mit dem Virus infiziert wurde und das Land immer mehr Todesfälle zu beklagen hat. An seiner Seite, als starker Mann in der Regierung, steht ein Wirtschaftsminister, der eine neoliberale Wirtschaftspolitik durchsetzen will, die nirgendwo funktioniert hat. Immer wieder wird betont, dass es genauso wichtig ist, die Wirtschaft zu erhalten, wie das Leben zu schützen, denn letzteres würde mit einem Wirtschaftskollaps noch schlimmer als durch das Virus bedroht werden. Gemeinsam mit dem Präsidenten verteidigt der Wirtschaftsminister entgegen den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation das Ende jeglicher Maßnahmen zur sozialen Isolation. Sie ignorieren dabei die Erfahrung anderer Länder bei der Bekämpfung der Pandemie.

Diese Haltung in Bezug auf die Pandemie vertiefte nur eine weitere, sich  ankündigende Tragödie. Der Präsident, ein ehemaliger Soldat, der auf Grund von Disziplinlosigkeit mit 33 Jahren aus der Armee entlassen und in den Ruhestand versetzt wurde, war bereits 30 Jahre lang ein nahezu unbemerkter Parlamentarier. Bekannt wurde er in der breiteren Öffentlichkeit eigentlich nur durch seine rohen, homophoben, rassistischen und die Armen verachtende Haltungen, und dies in einem Land, das durch im weltweiten Vergleich mit den größten sozialen Ungleichheiten geprägt ist. Trotz alledem wurde er 2018 mit einem Diskurs der Anti-Politik und des Kampfes gegen ›alles, was da ist‹ gewählt. Bolsonaro profitierte von einer politisch-institutionellen Krise, die 2014 begann und 2016 in der Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) durch einen rechtlich äußerst fragwürdigen parlamentarischen Staatsstreich gipfelte. Sein Wahlkampf wurde von den Wirtschaftseliten, dem Militär, hochrangigen Mitgliedern der Justiz, den Medien und evangelikalen Kirchen unterstützt. Der Wahlkampf stützte sich auf einen starken Antikorruptionsdiskurs, eine aggressive ideologische Polarisierung gegen die Arbeiterpartei und eine angebliche Bedrohung durch den Sozialismus, auf eine selektive Kriminalisierung des gesamten linken politischen Spektrums, eingehüllt in einen populistischen Diskurs, der über die sozialen Netzwerke verbreitet und mit gefälschten Nachrichten hochgeschaukelt wurde.

Angesichts des Mangels eines politischen Programms, beschränkte sich Bolsonaro in seinen fast ausschließlich über soziale Netzwerke verbreiteten Ansprachen auf zugespitzte Parolen und auf Binsenweisheiten des Alltags und weigerte sich, an Fernseh-, Radio- und sonstigen Debatten teilzunehmen. Naivität und eine sehr lückenhafte politische Bildung von Seiten vieler Wähler/innen leisteten ebenfalls ihren Beitrag dazu, dass seine Bewerbung einen sehr großen Anklang in der Bevölkerung fand. Der in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts oft wiederkehrende Anti-Intellektualismus wurde durch das Anwachsen des evangelikalen Fundamentalismus verstärkt und entflammte unter anderem Debatten über Kreationismus und Terraplanismus (die Erde als Scheibe) und vergleichbaren Unsinn. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind zum Ziel von Ironie und Verachtung geworden. Soziologie, Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichte wurden als Zielscheiben ausgewählt, um einen Kampf gegen einen angeblichen, nicht näher bestimmten ›kulturellen Marxismus‹ anzustacheln, der angeblich die Grundlagen der brasilianischen Familie untergraben würde.

Als Bolsonaro sein Amt antrat, wählte er sich ein Team aus rechts-ideologisch orientierten Mitarbeiter/innen aus, insbesondere aus dem Militär, die sich seine verschwörerischen Angriffe gegen imaginäre Feinde zu eigen machen. Ins Visier genommen wurden Sozialist/innen, Befürworter/innen der ›Genderideologie‹ sowie soziale Bewegungen, die u.a. Rassismus und Umweltzerstörung bekämpfen oder die indigene Bevölkerung unterstützen. Diese Wahlfreiheit hat er, weil er nur solange in einer politischen Partei blieb, wie es für seine Bewerbung zum Präsidentenamt gesetzlich vorgeschrieben ist. Heute stützt er sich im Parlament auf Mitglieder unterschiedlicher Parteien, insbesondere jene opportunistischen Politiker/innen, die gegen ertragreiche Positionen so gut wie jeder Regierung unterwürfig sind. Gemeinsam setzen sie sich seitdem dafür ein, jene Institutionen zur Verteidigung von Menschenrechten und zur Umsetzung der Sozialpolitik auszuhöhlen, die in den letzten Jahrzehnten ausgebaut wurden.

Unter den Projekten der neuen Regierung und ihren Verbündeten können hier nur einige erwähnt werden: 1. Parteilose Schule: Klassenräume sollen mit Kameras überwacht werden, damit Lehrer/innen dort keine ›Ideologie‹ verbreiten. Schüler/innen werden ermuntert, den Unterricht heimlich aufzuzeichnen und gemeinsam mit den Eltern gegen die Lehrer/innen Anzeige zu erstatten. Es wurde eine Internetseite für die Aufnahmen freigeschaltet. 2. Einschüchterung: Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die sich kritisch über die Regierung äußern, werden entlassen oder versetzt, und über die sozialen Medien kriminalisiert. 3. Lehrbuchzensur: Lehrbücher, die als ›links‹ gelten, von konservativen Familien- und Sexualvorstellungen abweichen oder Geschichtsbilder kritisch darstellen, werden in öffentlichen und z.T. auch in privaten Schulen nicht geduldet. Obwohl diese Initiativen teilweise von den Gerichten gestoppt wurden, haben sie bereits zahlreiche Opfer unter Lehrer/innen verursacht, indem diese von Schüler/innen geschlagen, öffentlich verunglimpft oder wegen angeblicher ideologischer Propaganda entlassen wurden.

Der Präsident und sein Bildungsminister veröffentlichen in sozialen Netzwerken wiederholt die Drohung, die Lehrgänge Soziologie und Philosophie an öffentlichen Universitäten zu schließen. Die Finanzierung für Forschung, einschließlich Stipendien, wurde im gesamten Bereich Humanwissenschaften bereits gekürzt und ist ab 2021 nur noch als Zusatzposten in anderen Forschungsprojekten vorgesehen. Dass Soziologie und Philosophie als Disziplin in der Sekundarschule schon 2016 als Wahlfächer herabgestuft und in den meisten Schulen ganz gestrichen wurden, scheint rückblickend wie ein Vorlauf für die aktuellen Angriffe auf diese Wissensdisziplinen.

Öffentliche Universitäten wurden vom Bildungsminister als ›Ort des Durcheinanders‹, als Ort der sexuellen Orgien und des Drogenkonsums demoralisiert Der Minister verwendete falsche Angaben, um zu demonstrieren, wie diese Universitäten öffentliche Gelder verschwenden und nichts produzieren. In der Capes, einer Einrichtung des Bildungsministeriums, die die Post-Graduierung fördert, wurde ein Kreationist zum Präsidenten ernannt. Die von ihm geförderten Maßnahmen begünstigen vorwiegend die privaten Hochschulen, die sich mit wenigen Ausnahmen nicht durch die Qualität von Forschung und Lehre auszeichnen. Der CNPq, eine im Ministerium für Wissenschaft und Technologie angesiedelte Einrichtung zur Förderung von Forschung, hat kürzlich die Beschränkung der Finanzierung auf sieben Forschungsbereiche reduziert, aus denen Sozial- und Humanwissenschaften ausgeschlossen wurden.

Die Forschung wird in Brasilien überwiegend mit öffentlichen Ressourcen finanziert und erfolgt größtenteils an öffentlichen Forschungseinrichtungen und Universitäten. Das entsprechende Budget wurde jedoch in den letzten Jahren kontinuierlich reduziert. 70 Prozent der Studierenden sind an privaten Hochschulen eingeschrieben, die mit Ausnahme einiger gemeinnütziger Universitäten keine Forschung betreiben und zunehmend auf Fernunterricht umstellen. Die aktuelle Krise kam ihnen sehr zugute. Ein Großteil dieser Hochschulen gehören multinationalen Gruppen an, deren Aktien an der Börse gehandelt werden und die naturgemäß den Erwartungen guter Renditen seitens der Aktionäre höchste Priorität einräumen.

Covid-19 hat gezeigt, wie wesentlich die Forschung an öffentlichen Universitäten ist, um die Reaktionsfähigkeit des Landes auf die aktuellen gesundheitlichen Herausforderungen aufrechtzuerhalten. Das Einheitliche Gesundheitssystem (SUS), eine universelle, beitragsfreie Gesundheitspolitik, die die neue Regierung zu demontieren versucht hat, erweist sich trotz seiner prekären finanziellen Ausstattung als unabdingbar, um die Pandemie zu bekämpfen.

Darüber hinaus macht der Präsident in seinem alltäglichen Umgang mit Parlament und Justiz, den Medien sowie den politischen und wirtschaftlichen Eliten seine autoritären Bestrebungen in wachsendem Maße deutlich. Analysten behaupten zunehmend, dass die angebliche histrionische Persönlichkeitsstörung des Präsidenten nur eine Fassade ist, hinter der das Militär, das bereits annähernd alle wichtigen Positionen in der Regierung besetzt hat, als moderierende Macht fungieren würde. Was wir sehen, ist jedoch das Gegenteil: Das Militär, gemeinsam mit der militarisierten Polizei und dem Justizapparat, sind längst die institutionellen Stützpfeiler des Präsidenten geworden.

Politische Gegner werden als Feinde gebrandmarkt und, wie im Fall der Stadträtin und Soziologin Marielle Franco in Rio de Janeiro, von jenen bewaffneten Milizen beseitigt, die nachweislich Verbindungen zur Familie des Präsidenten haben. Gewerkschaftler, Professoren, Lehrer und Oppositionspolitiker u.a. werden bedroht. Korruptionsbekämpfung, das Motto des parlamentarischen Staatsstreichs von 2016, zeigt sich zunehmend als bloßer Vorwand für den selektiven Kampf gegen politische Gegner. Im Amazonasgebiet wurden Landraub und Waldrodung mit ausdrücklicher Unterstützung des Präsidenten quasi zur Staatspolitik erhoben. Mitarbeiter der Umweltbehörde Ibama, die für die Bekämpfung der Waldrodung und den illegalen Bergbau in der Amazonasregion zuständig waren, wurden entlassen. Anführer der indigenen Bevölkerung, Quilombolas (Nachfahren von geflüchteten Sklaven) und Landarbeiter wurden ermordet, ohne dass Ermittlungen aufgenommen wurden oder dass in den Medien oder der Zivilgesellschaft darüber Empörung geäußert wurde. Die politische Opposition ist zersplittert und gelähmt angesichts der Unterstützung, die der Präsident noch von circa einem Drittel der Bevölkerung genießt. Bemerkenswert ist, dass diese Unterstützung auch von vielen Armen kommt, denen eine angemessene Teilhabe an dem gemeinsam erwirtschafteten Reichtum und der Zugang zu sozialen Rechten vorenthalten wird. Sie klammern sich an die hohlen Versprechen einer magischen Erlösung, die Bolsonaro mit seinem zweiten Vornamen ›Messias‹ fördert und sich als ›Mythos‹ feiern lässt. Dieser ›Erlöser‹ stellt gerade die arme Bevölkerung explizit vor die Wahl: ›soziale Rechte oder Arbeitsplätze?‹, ›die Wirtschaft wieder ankurbeln oder Leben retten?‹. Indem er die Pandemie für sein populistisches Handeln verharmlost, setzt er die ganze Nation dem Risiko des Völkermords aus.

Die Soziologie in Brasilien trat der etablierten Macht immer mit Misstrauen gegenüber und sah sie häufig sogar als eine Bedrohung an. Insbesondere während der Militärdiktatur wurde sie stark unterdrückt. Die Schatten der Militärdiktatur tauchen neuerdings wieder auf, indem an die Diktatur mit offiziellen Feierlichkeiten gedacht wird und die Folterer von gestern als Helden idealisiert, öffentlich gelobt und sogar vom Präsidenten persönlich empfangen werden. Die Menschenrechtskommissionen werden aufgelöst und die Barbarei jener Zeit wird geleugnet. Wieder einmal steht die Soziologie im Zentrum der Angriffe, die auf eine Eskalation der Bedrohung von bürgerlichen und demokratischen Freiheiten hinweisen. Erneut erleben wir, wie zivile und staatliche Institutionen vor solchen Taten und Bedrohungen schweigen. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, wohin dieses Schweigen führen kann. Deswegen ist Solidarität gerne willkommen. Wir erleben gerade einen Moment der Gegenzivilisation, wie er von Elias analysiert wurde. Barbarei und Völkermord keimen unter uns wieder auf. Die dunklen Zeiten unserer jüngsten Geschichte sind leider zurückgekommen.