Aktuell

Symposion: Soziologie und Schule

Quelle: Heft 1/2018 der SOZIOLOGIE (Download PDF)

Der DGS-Ausschuss ›Soziologie und Schule‹

Einleitung von Reiner Keller

Das Symposion [1] beruht auf Beiträgen aus dem DGS-Ausschuss ›Soziologie und Schule‹, den das Konzil der DGS Ende 2015 eingerichtet und inzwischen bis 2018 verlängert hat. Der Ausschuss versammelt FachvertreterInnen aus dem universitären wie aus dem schulischen Kontext, die der dringende Korrektur- und Ergänzungsbedarf im Hinblick auf eine Vermittlung soziologischen Orientierungswissens über soziale Zusammenhänge, Prozesse und Strukturen zusammengebracht hat.  Diese Vermittlungsaufgabe schließt die Behandlung sowohl sozialer Zusammenhänge, Prozesse und Strukturen als auch grundlegender gesellschaftlicher Mechanismen und aktueller Herausforderungen ein. 

Das vorliegende Symposion führt die im Ausschuss begonnenen Diskussionen weiter. Es will damit vor allem auch betonen, dass die hier diskutierten Forderungen nach einer stärkeren Beteiligung der Soziologie in der Schule nicht einfach eine Angelegenheit sind, um die sich der Vorstand der DGS und der eingerichtete Ausschuss ›schon kümmern‹. Vielmehr werden Erfolg oder Misserfolg dadurch entschieden, wie sich FachvertreterInnen vor Ort in die entsprechenden Aktivitäten einklinken und sie mit Leben füllen – die Beteiligung an der Arbeit des Ausschusses ist sehr willkommen.


Gesellschaftliche Bildung in unruhigen Zeiten

Reiner Keller

Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die westeuropäische und auch die Soziologie in Deutschland vom Schwung der politischen und gesellschaftlichen Aufbruchstimmungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre mitgetragen wurde und wie selbstverständlich als Bestandteil der Bildungsangebote gelten konnte. Das, was man ›gesellschaftliche Bildung‹ nennen könnte, also ein soziologisch-reflexives Wissen über soziale bzw. gesellschaftliche Mechanismen, Prozesse, Strukturbildungen und Zusammenhänge, wird in den schulischen Curricula seit geraumer Zeit in den Hintergrund gerückt bzw. durch individuumszentrierte Lehrinhalte ersetzt, welche die Schülerinnen und Schüler als zukünftige unternehmerische und konsumerische Subjekte, als RechtsträgerInnen und als WahlbürgerInnen adressieren. 

Die Marginalisierung soziologischen Wissens und soziologischer Kompetenzen in schulischen Bildungsprozessen steht in deutlichem Widerspruch zur enormen Rolle, die soziologischer Analyse ansonsten in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen zukommt, bis hin zur politikbegleitenden und -vorbereitenden Forschung, ohne die kaum eine politische Entscheidungsebene handlungsfähig wäre. Dem entspricht eine ungemein hohe Anzahl von Haupt- und NebenfachabsolventInnen, deren Zahl mittlerwiele in die Hunderttausende geht (vgl. Poferl, Keller 2015; Marquardt 2011). Nicht nur die explizit als Soziologie massenmedial präsenten Inhalte, sondern die diffundierten soziologischen Blickwinkel und Analyseperspektiven, die sich allgegenwärtig in den Medien finden, sprechen eine deutliche Sprache. Zahlreiche frühere Nachbardisziplinen der Soziologie haben sich soziologisiert; insgesamt lässt sich auch eine weitreichende Soziologisierung der Gesellschaft, zumindest der gesellschaftlichen Selbstanalyse und der organisatorisch institutionalisierten Entscheidungsprozesse beobachten. Es ist deswegen sehr erstaunlich, dass dieser Feststellung einer weithin, bis in ihre Alltagsvokabulare hinein soziologisierten Gesellschaft so wenig Soziologie in der Ausbildung von LehrerInnen und in der Bildungsvermittlung an SchülerInnen entspricht, wie ein kurzer Blick in universitäre und schulische Curricula deutlich macht (von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen). Das ist im Übrigen keine Sondersituation der Bundesrepublik Deutschland. In Großbritannien beispielsweise ist es dem Britischen Soziologieverband in mühevoller und langjähriger Arbeit inzwischen gelungen, die komplette Verdrängung der Soziologie aus den Schulen abzuwehren. Dafür wurden neben intensiver Lobby- bzw. ›Abwehr‹-Arbeit auch zahlreiche Unterrichtsmaterialien entwickelt, die verdeutlichen, was unverzichtbare Kernelemente einer soziologisch begründeten gesellschaftlichen Bildung sein und wie sie im schulischen Unterricht eingebracht werden können. [3]

Die Frage nach der Rolle von Soziologie einerseits in der Ausbildung von LehrerInnen unterschiedlicher Fächer und Schulformen, aber natürlich auch der einschlägigen Fachlehrkräfte, andererseits aber auch auf der inhaltlichen Ebene der schulischen Curricula ist sowohl für das Fach selbst als auch für den Stellenwert von gesellschaftlicher Bildung in den gegenwärtigen unruhigen gesellschaftlichen Zeiten von ganz erheblicher Bedeutung. Selbstkritisch muss dazu wohl festgehalten werden, dass dies den organisierten Fachvertretungen in den letzten Jahrzehnten nicht immer deutlich vor Augen stand. Andere Disziplinen bzw. deren Lobbygruppen haben hier durchaus erfolgreicher agiert. Ziel des Ausschusses ›Soziologie und Schule‹ ist deswegen, auch für die Soziologie eine entsprechende Interessenvertretung aufzubauen und auf Dauer zu stellen. 

Stellt man den zähen Rhythmus der Veränderung von Lehrinhalten im schulischen Unterricht in sechzehn verschiedenen Bundesländern mit je unterschiedlichen Schulformen in Rechnung, dann wird sofort offensichtlich, dass es sich hier nicht um eine kurzfristige und einmalige Initiative handeln kann. Deren Ziel wäre auch nicht notwendig die allgemeine Einführung eines neuen Schulfachs Soziologie. Das erscheint angesichts der bestehenden Konkurrenzen um Fachanteile im Schulunterricht schwerlich realisierbar. Gestärkt, verteidigt, wiedereingeführt werden müssen aber in den verschiedenen Schulformen die expliziten Anteile einer ›gesellschaftlichen Bildung‹, die gegenüber scheinbar nützlichem Wirtschaftswissen, Rechtswissen und politischem Wissen marginalisiert wurde oder zu werden droht. Damit eng verbunden ist das Argument, dass sich gerade auch Ökonomie, Recht und Politik ohne soziologische Analyse nur begrenzt verstehen lassen. Der Forderung nach einer Stärkung der Soziologie in der gesellschaftlichen und politischen Bildung entspricht die Forderung nach einer Stärkung der Soziologie in der Lehramtsausbildung. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um zukünftige Fachkräfte für gesellschaftliche Bildung handeln soll – da ist das sicherlich unumstritten –, oder um Fachlehrkräfte für alle anderen Fächer, vom Deutschunterricht über Sport bis hin zu Mathematik, Chemie oder Fremdsprachen. Die derzeitige bildungswissenschaftliche Forschung scheint eine Ausbildungsperspektive zu fördern, welche die ›didaktische Technologie‹ der Unterrichtssituation und die einzelne Lehrkraft in ihrem schulischen Handeln in den Vordergrund stellt. Die Relevanz dieser Perspektive soll keineswegs bestritten werden. Problematisch ist es jedoch, wenn sie zu Lasten einer eben auch soziologisch informierten Sichtweise geht, die sowohl ein Wissen um schulorganisatorische Prozesse, Interaktionsdynamiken und Identitätsbildungen in der Klasse und auch über soziale Milieus und Ungleichheiten und anderes mehr beinhalten müsste – das heißt, das Soziale der Unterrichtssituation nicht vergisst. Dafür ist es notwendig, dass sich SoziologInnen vor Ort einmischen, wenn es um die Entwicklung von Lehramtsausbildungen geht. Dazu gehört auch, dass die entsprechenden Lehraufgaben nicht länger ein Dasein als ungeliebtes Anhängsel des eigentlichen ›Kerngeschäftes‹ fristen, sondern in ihrer Herausforderung und Bedeutung gewürdigt werden.

[1] Mein besonderer Dank gilt Sabine Ritter, die das Symposion zusammengestellt und betreut hat.

[2] Zwei Initiativen des Ausschusses sind besonders hervorzuheben. Dies ist zum einen die Podiumsdiskussion auf dem Bamberger Soziologiekongress im September 2016, mit etwa einhundert BesucherInnen, VertreterInnen des Ausschusses und den diskutierenden ›auswärtigen‹ Gästen Dr. Sabine Dengel von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger und der Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Marlis Tepe. Dies ist zum zweiten der gemeinsam mit der Schader-Stiftung im Juni 2017 in Darmstadt organisierte Workshop ›Soziologie in der Schule‹, der sich vor allem auf den Austausch zwischen schulischen, schulisch-administrativen und fachgesellschaftlichen AkteurInnen richtete. Zu beiden Veranstaltungen sind umfangreiche Dokumentationen erschienen und auf der Webseite der DGS unter www.soziologie.de/ausschuss-schule abrufbar.

[3] vgl. dazu die Webseite www.discoversociology.co.uk.

Literatur

  • Marquardt, U. 2011: Wieviele SoziologInnen gibt es? Beitrag für den Berufsverband deutscher Soziologinnen und Soziologen e.V., http://bds-soz.de/BDS/ PDF/Studium/wieviele_soziologen.pdf; letzter Aufruf 12. Oktober 2017.
  • Poferl, A., Keller, R. 2015: Wie und wozu forschen? Vom Sinn soziologischer Erkenntnisproduktion. In A. Brosziewski, C. Maeder, J. Nentwich (Hg.), Vom Sinn der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS, 137–151.

Soziologie in Schule und Lehrerbildung 

Edwin Stiller

Normierungen durch die Kultusministerkonferenz

Die Institution Kultusministerkonferenz (KMK) ist im föderalen Gebilde von 16 Bundesländern mit Kulturhoheit ein notwendiges Gremium zur Mindestabsicherung der Vergleichbarkeit von Bildungsangeboten und Lebenschancen. Zugleich ist die Koordination dieses hochkomplexen Groß-Systems von 16 Bundesländern, Wissenschaft, Parteien und Verbänden mit einem enormen Aufwand an personellen, zeitlichen und materiellen Ressourcen verbunden. Daher sind die KMK-Entscheidungen wegen der Vagheit und Interpretationsbedürftigkeit der Formulierungen sowie wegen des geringen Verbindlichkeitsgrades stark in die Kritik geraten. Für den Bereich Lehrerbildung formuliert der Bildungsforscher Manfred Prenzel: 

›Die von Kultusministerkonferenz und Wissenschaft aufgestellten Grundsätze und ländergemeinsamen Anforderungen für das Lehramtsstudium bleiben zu allgemein, sind wenig verbindlich und ermöglichen eine fast beliebige Interpretation vor Ort. Es fehlt an gemeinsamer Absicht, an gemeinsamer Planung und ja, an einem gemeinsamen Plan.‹ (Prenzel 2017) 

Die divergierende Praxis der Bundesländer bezogen auf den Fachunterricht im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld bestätigt diese Einschätzung auch für den Bereich des Soziologieunterrichts, obwohl die Normierungen eine gute Grundlage bieten könnten.

Für die allgemeinbildenden schulischen Bildungsgänge im Bereich der Sekundarstufe II regeln die ›Einheitliche[n] Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Sozialkunde/Politik‹ (EPA) aus dem Jahre 2005 die Abstimmung der Inhalte und Prüfungsformate. Hier stehen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik als gleichberechtigte Inhaltsfelder nebeneinander und die Zielbestimmung sieht vor, dass sich Lernende das Orientierungswissen aneignen, das sie in die Lage versetzt, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik mitzugestalten (KMK 2005: 2). Die EPA soll nicht weiter entwickelt werden, da die Steuerung der Bildungspolitik inzwischen die Definition von fachlichen Bildungsstandards sowie die Entwicklung eines entsprechenden Aufgabenpools für zentrale Prüfungen aller Fächer vorsieht. Dies ist aber mit einem hohen Aufwand verbunden und wird durch die unterschiedlichen Fächerzuschnitte des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs in den Bundesländern stark erschwert.

Im Bereich der Lehrerbildung wird die allgemeinpädagogische Ausbildung durch die ›Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften‹ bundeseinheitlich geregelt (KMK 2014). Hier werden die Kompetenzen (Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen) definiert, über die eine Lehrkraft zur Bewältigung beruflicher Anforderungen verfügen sollte. Die Standards gelten sowohl für die universitäre als auch für die berufspraktische Phase der Lehrerbildung. Die Vorgabe ist zudem Prüfgrundlage für die Akkreditierung der Bildungswissenschaften an den Universitäten. Die Standards wurden 2004 von der KMK beschlossen und 2014 unter der Inklusionsperspektive überarbeitet. Die Soziologie wird als zu beteiligendes Fach nicht genannt, soziologische Themen werden aber implizit in den Kompetenzbeschreibungen deutlich (zum Beispiel Bildungs- und Erziehungssoziologie, Sozialisationsforschung, Gruppensoziologie, Institutionssoziologie, Professionsforschung, gesellschaftlicher Wandel und andere). Durch die Inklusionsperspektive kommen weitere implizit soziologische Anforderungen hinzu (Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, Wertschätzung und Anerkennung, Diversität und Heterogenität, Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Barrieren, kollegiale und institutionelle Kooperation, Herausforderungen inklusiver Schulentwicklung). Im Kontext der Digitalisierung aller Lebensbereiche hat die Kultusministerkonferenz eine digitale Bildungsstrategie verabschiedet (KMK 2016a). Zur Umsetzung der Strategie im Bereich der Lehrerbildung sehen die Länder im Rahmen der Kultusministerkonferenz eine Überarbeitung der einschlägigen Vorgaben der KMK zur inhaltlichen, strukturellen und organisatorischen Ausgestaltung der Lehrerbildung vor. Auch dies ist mit einem erheblichen Aufwand verbunden, eröffnet aber auch Interventionschancen.

Die fachlichen Anforderungen an die zukünftigen Lehrkräfte werden im Dokument ›Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung‹ bundeseinheitlich geregelt. Sie wurden 2008 von der KMK beschlossen und enthalten im Unterschied zu den Standards für die Bildungswissenschaften keine fachlich ausdifferenzierten Standards, sondern ein fachliches Kompetenzprofil sowie eine Auflistung der notwendigen Inhaltsbereiche. Auch hier ist die Ausgangsbasis ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Soziologie, Politologie und Ökonomie sowie Fachdidaktik. Die fachlichen Anforderungen werden für die gesamte Lehrerbildung definiert, für die universitäre Phase sind sie Grundlage für die Akkreditierung. Dadurch, dass Inhaltsbereiche definiert werden, ist die Vorgabe weniger vage und interpretationsbedürftig als die Standards für die Bildungswissenschaften. Die Beiträge der Soziologie sind: Soziologische Theorien, Mikro- und Makrosoziologie, Institutionen und Gesellschaftssystem, Steuerung sozialer Prozesse sowie Soziale Sicherheit. Für die Sekundarstufe II kommen Gesellschafts- und Handlungstheorien und Sozialer Wandel im internationalen Kontext hinzu. Die auch hier erfolgte Überarbeitung (KMK 2016b) aus Inklusionsperspektive ergab zusätzliche, soziologisch relevante Perspektiven: Inklusions- und Exklusionsprozesse, grundlegende Aspekte des Umgangs mit Heterogenität und Inklusion im Unterricht und Kooperation in multiprofessionellen Teams. Auch diese fachlichen Anforderungen sollen im Kontext der digitalen Bildungsstrategie der KMK entsprechend angepasst werden. Dies ist ebenfalls mit einem großen Aufwand verbunden und eröffnet Interventionsmöglichkeiten.

Für die Stärkung der Soziologieanteile in Schule und Lehrerbildung enthalten die KMK Beschlüsse in den fachlichen Dokumenten eine gute Ausgangsbasis, da die Vorgaben von einem gleichberechtigten Miteinander von Soziologie, Politologie und Wirtschaftswissenschaften ausgehen. Dies hindert die Bundesländer aber vor allem im Bereich der Sekundarstufe I nicht, Fächerzuschnitte wie zum Beispiel Politik – Wirtschaft vorzunehmen. In den Standards für die Bildungswissenschaften werden soziologische Perspektiven nur sehr implizit erkennbar. Daher ist es eine Frage der internen Aushandlung an den Universitäten, ob die Soziologie zu den bildungswissenschaftlichen Anteilen Beiträge leistet oder dies anderen Fächern überlässt. Interventionspunkte für eine Stärkung der Soziologie ergeben sich vor allem bei der Umsetzung der Innovationsaspekte Inklusion und Digitalisierung, zudem bei der Entwicklung von fachlichen Bildungsstandards und Muster-Abituraufgaben für die Sekundarstufe II. Zu dieser Stärkung sind allerdings eine bessere Kooperation der beteiligten Organisationen und Personen sowie gemeinsame Stellungnahmen und abgestimmte Handlungsstrategien der Verbände nötig!

Aus meiner langjährigen Erfahrung erfordert die aktuelle gesellschaftliche und politische Ausgangssituation eine Minimalstrategie der Verteidigung des Integrationsfaches Sozialwissenschaften gegen erneute Versuche, das Fach Wirtschaft auf Kosten von Soziologie und Politik noch stärker zu etablieren. Eine perspektivische Maximalstrategie bestünde darin, sozialwissenschaftliche Bildung als Bestandteil eines Bürgerrechts auf Bildung (Stiller 2012: 5 ff.) zu begreifen, um so die nachfolgenden Generationen in die Lage zu versetzen, die offene, pluralistische und demokratische Gesellschaft auch in eine menschengerechte Zukunft zu führen.

Die Bedeutung der Soziologie im Kontext der Sozialwissenschaften und der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen hat Adorno bereits 1966 beschrieben: 

›Aller politischer Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre nur möglich, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müsste er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat.‹ (Adorno 1966: 89)

Literatur

  • Adorno, T.W. 1971 [1966]: Erziehung nach Auschwitz. In T.W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 88–90.
  • KMK 2005: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Sozialkunde/ Politik. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 1. Dezember 1989 i. d. F. vom 17. November 2005.
  • KMK 2014: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. Dezember 2004 i. d. F. vom 12. Juni 2014.
  • KMK 2016a: Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. Dezember 2016. 
  • KMK 2016b: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. Oktober 2008 i. d. F. vom 6. Oktober 2016.
  • Prenzel, M. 2017: Nehmen wir die Medizin als Ansporn. Das Lehramtsstudium braucht auch einen Masterplan. Gastbeitrag im Blog von Jan-Martin Wiarda vom 4. Mai 2017, www.jmwiarda.de/2017/05/04/gastbeitrag-nehmen-wir-die-medizin-als-ansporn/, letzter Aufruf 1. November 2017.
  • Stiller, E. 2012: Zehn Thesen zur kritisch sozialwissenschaftlichen Bildung in Zeiten der Empörung. Politisches Lernen, Heft 1–2, 5–11. 

Soziologie in der Schule – auch eine Frage der SchülerInnenperspektive

Ines Birkner

Der Austausch darüber, was die Soziologie in schulischen Bildungsprozessen leisten kann und muss, findet gegenwärtig vornehmlich unter ExpertInnen aus der Disziplin selbst oder gemeinsam mit VertreterInnen der Schuladministration statt. Die Einladung der Landesschülervertretung (LSV) Hessen zum Workshop ›Soziologie in der Schule?‹ im Juni 2017 diente vor diesem Hintergrund dazu, die primär betroffenen AkteurInnen mit in den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis einzubeziehen und nicht über sie, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Im vorliegenden Beitrag sollen die Bedeutung der Perspektive von SchülerInnen, inspiriert von den Impulsen der LSV, sowie daraus folgende Ansprüche an eine Soziologie in den Schulen diskutiert werden. 

Schauen wir uns dazu zunächst an, was die LSV der Schule, dem darin stattfindenden Unterricht sowie den Lehrenden im Rahmen ihres Impulsvortrages attestiert hat. Ihre Position ist deutlich: Während Partizipationsgelegenheiten sowie Möglichkeitsräume für Persönlichkeitsentfaltung und gesellschaftskritische Reflexion fehlen, überlagert die Ökonomisierung von Bildung den derzeitigen Unterrichtsalltag. Die LSV bemängelt, 

›dass uns tagtäglich implizit vermittelt wird, wir müssten alles tun, um ein gutes Abitur zu erhalten, um damit der Wirtschaft dienen zu können, zeigt, dass wir in der Schule noch lange nicht auf unser Leben vorbereitet werden, sondern nur darauf, später mal dem Wirtschaftssystem dienen zu können‹ (Schader-Stiftung 2017: 6).  

Zwei Aspekte kommen hier zum Ausdruck: Zum einen fühlen sich SchülerInnen auf die Rolle eines angehenden Wirtschaftssubjektes reduziert. Zum anderen, und das folgt zwangsläufig aus erstem, steht alles Gegenwärtige im Zeichen von etwas Zukünftigem. Was jetzt gelernt und wofür sich jetzt angestrengt wird, hat ausschließlich in einer mittelbaren beruflichen Zukunft Bedeutung. Berechtigterweise stellt sich die LSV da die Frage: ›Wenn wir jetzt nicht dazu motiviert werden, unsere Meinung zu äußern, Kritik auszuüben und vor allem gegen das vorzugehen, was wir nicht gerecht finden, wann dann?‹ (ebd.: 7, Hervorhebung im Original) Als Hauptforderung geht aus dem Beitrag der LSV hervor, Vertrauen und Verantwortung bezüglich der eigenen Handlungskompetenz zugesprochen zu bekommen. 

Die Impulse der LSV stellen die Gesellschaft und auch die Soziologie vor die Fragen, als welchen Ort wir Schule begreifen und ob wir SchülerInnen lediglich in ihrer Rolle als Lernende oder aber als ExpertInnen ihrer Lebenswelt und AkteurInnen eigenen Rechts begegnen wollen. Letzteres würde in der Konsequenz eine starke Partizipation an den sie betreffenden Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen bedeuten. Michael-Sebastian Honig konstatiert für Kinder, dass sie 

›insofern Akteure gesellschaftlicher Veränderungsprozesse [wären], als ihre Erfahrungen und ihre Konstruktionen von Wirklichkeit als Arbeit am Erwerb von Handlungskompetenz und nicht lediglich als Aneignung funktionaler Fähigkeiten ins Blickfeld rücken.‹ (Honig 1996: 207) 

Analog thematisiert der vorliegende Beitrag die Mitgestaltungsfähigkeit Heranwachsender im schulischen Kontext. Aus einem solchen Verständnis heraus kann, wie es beispielsweise Ronald Kurt und Jessica Pahl in ihrer Studie für das interkulturelle Verstehen an Schulen des Ruhrgebietes bekräftigen, gefragt werden, ›ob bzw. inwiefern die Gesellschaft von ihren Schüler_innen […] etwas lernen kann.‹ (Kurt, Pahl 2016: 12 f.) Für diesen Perspektivwechsel spricht auch die Tatsache, dass wir es mit einer prinzipiell offenen Zukunft zu tun haben, denn 

›unter der zumindest in den hochzivilisierten Gesellschaften der Gegenwart herrschenden Bedingung eines rapiden sozialen Wandels [ist] die Gesellschaft, in der die junge Generation sozialisiert wird, gar nicht die gleiche wie die, in der sie später handeln muss und für die ihre Sozialisation funktional sein soll.‹ (Geulen 2005: 119) 

Dem steht ein bislang im Bildungssystem dominierender und sich durch die Einführung von Bildungsstandards und Zentralisierung verfestigender teleologischer Entwicklungsbegriff entgegen. Schüler werden auf die Rolle der zu Belehrenden, Unterricht auf eine ›Didaktik-Veranstaltung‹ reduziert. Diese in der aktuellen Kindheits- und Sozialisationsforschung kontrovers diskutierten Erkenntnisse müssen in die Debatte um eine Soziologie in der Schule integriert werden, gerade auch im Hinblick auf Überlegungen zu Veränderungen intergenerationaler Verhältnisse und Beziehungen, wie sie im Konzept der ›differenziellen Zeitgenossenschaft‹ von Heinz Hengst zum Ausdruck kommen. Sein Konzept ›unterstellt gemeinsame zeitgeschichtliche Herausforderungen, eine Art cantus firmus oder basso ostinato, der variantenreich mehrstimmig bearbeitet wird – auf den sich alle Zeitgenossen einlassen müssen.‹ (Hengst 2013: 14, Hervorhebung im Original) Es geht also darum, sich von einem strikten Generationenbegriff und der Vorstellung klar voneinander abgrenzbarer generationenspezifischer Anforderungen zu lösen. Übertragen auf den schulischen Kontext betrifft dies vor allem das vorherrschende, stark hierarchische Generationenverhältnis zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Beide Gruppen wären stattdessen als Zeitgenossen zu verstehen, die in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt und -praxis – Schule und Unterricht – gleichermaßen von makrosozialen Veränderungen betroffen sind, diese jedoch unterschiedlich bearbeiten. Dass diese Mehrstimmigkeit in den Schulen bislang nur unzureichend Berücksichtigung findet, macht die LSV deutlich: 

›Momentan ist es so, dass wir weder Verantwortung, noch Vertrauen von Lehrerinnen und Lehrern kriegen. Wir seien noch zu jung und zu unerfahren, um über uns selbst zu entscheiden, stattdessen wird lieber über unsere Köpfe hinweg entschieden. Doch das ist der falsche Weg!‹ (Schader-Stiftung 2017: 7)

Bezogen auf die Praxis wäre eine Schulkultur denkbar, die Raum schafft für einen reflexiven ›vielstimmigen‹ Austausch über geteilte zeitgeschichtliche Anforderungen. An der Konzeption dafür geeigneter Formate kann sich die Soziologie einbringen, indem sie beispielsweise in der Lehreraus- und -fortbildung für die Akteurschaft, Handlungsfähigkeit und -kompetenz von SchülerInnen sensibilisiert. Für den Unterrichtsalltag bedürfte es eines soziologischen Pendants zu den Ideen zum ›Philosophieren mit Kindern‹ (Brüning 2014) oder zum ›Philosophieren in der Sekundarstufe‹ (Brüning 2003). 

Nicht zu vernachlässigen ist bei all diesen Überlegungen der Blick auf das bereits seit 1976 bestehende Unterrichtsfach Soziologie in Bremen und die dazu vorliegende Forschung. Vorüberlegungen aus fachdidaktischer Perspektive finden wir beispielsweise bei Marianne Papke (2009). In ihrer Befragung von ca. 100 Bremer SchülerInnen befasst sie sich mit der Frage nach der Bedeutung des Unterrichtsfaches. Ausgehend von jahrgangsspezifischen aber auch -übergreifenden Formulierungen der SchülerInnen zum Zusammenhang von Fach und Alltagsleben, nennt Papke eine grundlegende die Schulentwicklung betreffende Prämisse: ›Die Schülerbezogenheit und somit die notwendige Mitbestimmung von Jugendlichen an Inhalten und Methoden liegen im Zentrum einer demokratischen und innovativen Schule.‹ (Papke 2009: 72) Auf theoretischer Ebene bleibt die Soziologie vor die Herausforderung gestellt, sich eigene SchülerInnen- und LehrerInnenbilder zu vergegenwärtigen und diese zu reflektieren. Möchten wir den Bildungsprozess von SchülerInnen begleitend vorantreiben, sie für ein reflexivanalytisches Denken sensibilisieren und ihnen im Umgang mit aktuellen Herausforderungen ein ›soziologisches Know-how‹ zur Verfügung stellen, müssen wir sie als eigenständige Gesellschaftsmitglieder adressieren und ihnen in unserer Debatte eine Stimme geben. 

Literatur

  • Brüning, B. 2003: Philosophieren in der Sekundarstufe: Methoden und Medien. Weinheim: Beltz.
  • Brüning, B. 2014: Philosophieren mit Kindern: Eine Einführung in Theorie und Praxis. Berlin: LIT.
  • Geulen, D. 2005: Subjektorientierte Sozialisationstheorie. Sozialisation als Epigenese des Subjekts in Interaktion mit der gesellschaftlichen Umwelt. Weinheim: Juventa.
  • Hengst, H. 2013: Kindheit im 21. Jahrhundert. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Honig, M.-S. 1996: Wem gehört das Kind? Kindheit als generationale Ordnung. In E. Liebau, C. Wulf (Hg.), Generation. Versuch über eine pädagogisch-anthropologische Grundlegung. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag, 201–217.
  • Kurt, R., Pahl, J. 2016: Interkulturelles Verstehen in Schulen des Ruhrgebietes. Gemeinsam gleich und anders sein. Wiesbaden: Springer VS.
  • Papke, M. 2009: ›…ich konnte viel über mein Leben lernen‹. Soziologieunterricht an der Gymnasialen Oberstufe in Bremen – Eine ›Parallelwelt‹? Journal of Social Science Education, 8. Jg., Heft 4, 66–74.
  • Schader-Stiftung 2017: Dokumentation: Soziologie in der Schule? Workshop der Schader-Stiftung am 9. Juni 2017, www.schader-stiftung.de/fileadmin/content/Soziologie_in_der_Schule_-_Dokumentation.pdf; letzter Aufruf 1. Oktober 2017. 

Zu den Erfordernissen gesellschaftlichen Wissens im Rahmen der Bildungswissenschaften

Petra Deger

Ewald Terhart hat 2012 einen Aufsatz zu Bedeutung und Ausrichtung der Bildungswissenschaften vorgelegt. Darin wird die Dominanz der empirischen Bildungsforschung im Hinblick auf die Wahrnehmung des Begriffs Bildungswissenschaften konstatiert. Eine Entwicklung, die unter anderem dazu führe, dass Vertreter_innen der Erziehungswissenschaft sich häufig von der Zugehörigkeit zur Bildungswissenschaft distanzierten. In der Lehrerbildung, so stellt Terhart (2012: 28) weiter fest, sei der Begriff Bildungswissenschaft ›eine Verlegenheitslösung zur Benennung eines heterogenen Studienelements‹. 

Im Zuge der schon seit über zehn Jahren andauernden Diskussion über die Möglichkeiten der Qualitätssteigerung der Lehramtsausbildung und den dabei mit dem Kompetenzbegriff verbundenen Hoffnungen hat das Sekretariat der KMK in den ›Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften‹ festgelegt, welche Inhalte und Kompetenzen zu diesem Bereich zu zählen sind. Obgleich die unter dem Begriff Bildungswissenschaften vereinigten Fächer nicht explizit genannt werden, sondern nur Bezug genommen wird auf ›die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Bildungs- und Erziehungsprozessen, mit Bildungssystemen sowie deren Rahmenbedingungen auseinandersetzen‹ (KMK 2004: 5), sind die Bezugsfächer ziemlich offensichtlich. Thematisch und auch begrifflich werden Kompetenzformulierungen die Disziplinen Pädagogik, Psychologie und Soziologie adressiert. 

In der praktischen Umsetzung bleibt die Beziehung zwischen Kompetenzbegriff und den Befähigungen zum Handeln in Unterrichtssituationen jedoch ungeklärt. Nach Talcott Parsons und Gerald M. Platt ist Kompetenz die ›Fähigkeit der individuellen Persönlichkeit, Ziele durch Wahlentscheidungen zu erreichen, bei denen gültiges und signifikantes Wissen eine zunehmende Rolle spielt‹ (Parsons, Platt 1973: 97). Ähnlich formulieren es Hartmut Rosa und Wolfgang Endres: ›Kompetenz bedeutet das sichere Beherrschen einer Technik, das jederzeit Verfügen-Können über etwas, das ich mir als Besitz angeeignet habe‹ (Rosa, Endres 2016: 7). Trotz der Definitionen von ›Kompetenz‹ scheint die Beziehung zwischen dem Kompetenzbegriff und dem Begriff des sozialen Handelns unscharf zu sein. Unter Vernachlässigung aller Theoriediskussionen, die sicher noch zu einer Schärfung des Zusammenhangs zwischen Kompetenz und sozialem Handeln in Unterrichtssituationen beitragen würden, kann wohl konstatiert werden, dass eine wichtige Dimension von Kompetenz von Lehrpersonen ist, in Unterrichtssituationen sinnhaft orientiert auf andere zielgerichtet zu handeln. Bislang sind solche Perspektiven meines Wissens in der Diskussion über Kompetenzen von Lehrpersonen nicht sichtbar. 

In diesem Sinn kann auch der Hinweis von Reiner Keller (2010: 31) verstanden werden, dass die Bildungssoziologie sich stärker Fragen der Kompetenzvermittlung in institutionellen Bildungsprozessen zuwenden solle. Dies beinhalte auch Fragen gesellschaftlicher Zusammenhänge, denn Ziel müsse sein, dass die Kompetenzvermittlung effizienter, effektiver und gerechter erfolgen solle. Betrachtet man also die Kompetenz von Lehrpersonen als Ergebnis von Wissen und Handeln, so ergibt sich ziemlich unmittelbar, dass die Akteure wissen sollten, in welcher Gesellschaft, in welchen sozialen Umwelten die Schüler_innen leben. Wissen über die Gesellschaft ist damit eine Voraussetzung adäquater Situationsdeutung.

Die Fähigkeit zur Deutung der Situation, verbunden mit der Frage Goffmans, was hier – in einer Situation – eigentlich vor sich gehe (Goffman 1977) lässt sich mindestens über zwei Wege an (angehende) Lehrerpersonen herantragen:

  1. Zum einen ist es möglich, die Lehrpersonen als Akteure in einer bestehenden Praxis genauer zu betrachten: Was heißt Handeln/Interaktion in konkreten Unterrichtssituationen? Damit gehen Inhalte zu Akteursmodellen oder zur Produktion von Ordnung einher, zum Beispiel über ethnomethodologische Zugänge. Unabdingbar ist in diesem Zusammenhang auch die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit Lehrer_innen durch Bewertungen und Empfehlungen Ungleichheitsstrukturen zementieren. Ziel dieser soziologischen Perspektive ist, vereinfacht gesagt, die Herausbildung eines reflexiven Umgangs mit der eigenen Aufgabe und Verantwortung, ein Bewusstwerden eigener sozialer Praktiken und eine höhere analytische Fähigkeit zur Entschlüsselung der sozialen Situation Unterricht durch theoretisch-konzeptionelle Werkzeuge.
  2. Ein zweiter Weg besteht darin, den künftigen Lehrer_innen und Lehrern für sie relevantes Wissen zu vermitteln. Dies beinhaltet sicherlich Ungleichheitsstrukturen im Bildungssystem sowie empirische Ergebnisse dazu. Die Ansätze von Bourdieu und Boudon drängen sich in diesem Themenkomplex (quasi zwingend) auf. Aber auch andere, beispielsweise neoinstitutionalistische, Perspektiven, etwa den Stellenwert von Bildung in modernen Gesellschaften betreffend, oder das merito-kratische Selbstverständnis des deutschen Bildungssystems und die diesbezüglichen empirischen Ergebnisse, können aufgegriffen werden. Ebenso lässt sich das Thema Inklusion soziologisch gut einpassen, zum Beispiel im Luhmannschen Sinne von Adressierung. 

Diese beiden Vorschläge speisen sich aus einer gewissen Selbstbegrenzung. In der Lehrerbildung sind alle Verantwortlichen für den jeweiligen Studiengang mit einer kaum zu überwindenden Schwierigkeit konfrontiert: Verschiedene Bereiche müssen zusammengebracht werden, von denen die meisten sie vertretenden Akteure denken, dass ihrer der Wichtigste sei. Ob es nun die Erziehungswissenschaft, die Psychologie, die jeweilige Fachwissenschaft oder Fachdidaktik ist – ein Widerstreit der Interessen und Ideen zu den wichtigsten Komponenten des Lehramtsstudiums ist vorgezeichnet. Bedenkt man dann noch, dass in den verschiedenen Bundesländern immer mindestens zwei Unterrichtsfächer zu studierenden sind, bleibt für jeden einzelnen Studienanteil nicht mehr viel Studierzeit (neudeutsch: Workload) bzw. bleiben nur so wenige Lehrveranstaltungen, [1] dass man kaum von einer vertieften Kenntnis der Materie sprechen kann. Das stellt die Soziologie vor die Herausforderung, ihr Angebot in Anbetracht eines solch zeitlich streng limitierten Umfangs auf wesentliche Themenkomplexe bzw. themenübergreifende soziologische Kompetenzen (reflexives Denken, Situationsdeutung in verschiedenen Kontexten etc.) für Lehramtsstudiengänge zu pointieren.

Zuversichtlich könnte stimmen, dass in jüngster Vergangenheit wieder eine Wissenschaftler_innengruppe darauf verwiesen hat, dass Bildung sich den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen stellen muss. Der Aktionsrat Bildung benennt in seinem Gutachten ›Bildung 2030‹ ein Dutzend Herausforderungen der modernen Gesellschaft, mit denen sich Bildungsinhalte und Bildungsprozesse auseinandersetzen müssten. Fast ausnahmslos genuin soziologische Themen werden als diese Herausforderungen betrachtet: Migration und Integration, Urbanisierung, Dynamiken sozialer Ungleichheit oder Wandel familialer Lebensformen sind einige davon. Auf diese Herausforderungen, so der Tenor des Gutachtens, müsse die Bildungspolitik durch veränderte Zugänge, Strukturen und Inhalte reagieren. Damit liegt die Frage nahe, wie Lehrer_innen als wichtige Akteure im Bildungssystem adäquat ihre Aufgabe erfüllen sollen, wenn sie selbst kein systematisches Wissen über diese Gesellschaft besitzen, das über ihr Alltagswissen und ihre Alltagswahrnehmung hinausgeht. Es kann und sollte daher im Sinne professioneller Standards des Lehrer_innenberufs eingefordert werden, dass zum einen Wissen über moderne Gesellschaften in seiner Bedeutung für das Berufsfeld Lehrerin/Lehrer im Studium verpflichtend vermittelt wird. Zudem – und ggf. noch wichtiger – müssten Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich von Herausforderungen moderner Gesellschaften systematisch angeboten und auch eingefordert werden. 

Die im Bereich der Bildungswissenschaften für alle Lehramtsstudierenden und aktiven Lehrer_innen erforderlichen Inhalte möchte ich in drei knappen Thesen zusammenfassen:  

  1. Wissen über Strukturmerkmale moderner Gesellschaften ist eine notwendige Voraussetzung für die Gestaltung von Unterricht, da alle beteiligten Akteure sowie die unterrichtliche Praxis selbst in gesellschaftlichen Strukturen situiert sind.
  2. Im Rahmen des Lehramtsstudiums müssen daher Elemente soziologischen Wissens bzw. von Wissen über für das Bildungssystem relevante Merkmale moderner Gesellschaft als Pflichtbestandteile integriert werden. Die Frage, welche Inhalte im Umfang von ein bis zwei Modulen hier von zentraler Bedeutung sind, muss weiter diskutiert werden. In jedem Fall sollten es Inhalte sein, die expliziten Bezug zum späteren Berufsfeld haben, womit allgemeine Soziologieeinführungen nicht adäquat wären. Die Beteiligung der Soziologie in der Begleitung von Praxisphasen im Lehramtsstudium ist sicher sinnvoll.
  3. Gesellschaftliche Bedingungen ändern sich. Daher muss soziologisches Wissen insbesondere systematisch in Weiterbildungsformaten angeboten werden. Sinnvoll sind längere Formate, die sich über einige Wochen/ Monate strecken und in denen auch Reflexionen zur Anwendung des soziologischen Wissens im Unterrichtskontext möglich sind. 

[1] Zudem ist zu bedenken, dass nicht alle Lehramtsstudiengänge in allen Bundesländern eine Studiendauer von 10 Semestern haben. In einigen Bundesländern sind die Studiengänge zum Lehramt Primarstufe nur insgesamt 8 Semester lang. 

Literatur

  • Goffman, E. 1977: Rahmen-Analyse: ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Keller, R. 2010: Kompetenz-Bildung. Programm und Zumutung individualisierter Bildungspraxis. Über Möglichkeiten einer erweiterten Bildungssoziologie. In T. Kurtz, M. Pfadenhauer (Hg.), Soziologie der Kompetenz. Wiesbaden: VS, 29–48. 
  • KMK 2004: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. Dezember 2004.
  • Parsons, T., Platt, G.M. 1973: The American University. Harvard: Harvard University Press. 
  • Rosa, H., Endres, W. 2016: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim: Beltz. 
  • Terhart, E. 2012: ›Bildungswissenschaften‹. Verlegenheitslösung, Sammelkategorie, Kampfbegriff? Zeitschrift für Pädagogik, 58. Jg., Heft 1, 22–39.

Ein Modellentwurf soziologischer Bildung 

Oliver Fürtjes

im Anschluss an Bourdieu

Überlegungen zur theoretischen Konzeptionierung einer Soziologiedidaktik 

Vor dem Hintergrund der sich bereits gegenwärtig abzeichnenden gesellschaftlichen Umbrüche (Stichwort: Gesellschaft 4.0) ist die Bestandsanalyse einer marginalisierten Soziologie in der Schule ein schwerwiegender Befund. Liefert doch gerade die Soziologie ein breites theoretisches und methodisches Instrumentarium zur reflexiven Analyse gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen sowie lebensweltnaher Handlungsmuster und Praktiken, das in aufklärerischer und emanzipatorischer Absicht den Heranwachsenden ein umfangreiches Bewältigungs- und Gestaltungsrepertoire an die Hand gibt. 

Um der weiter voranschreitenden Marginalisierung der Soziologie in der Schulbildung entgegenzuwirken, erscheint es daher dringlicher denn je, eine elaborierte didaktische Konzeption soziologischer Bildung in den Bildungsdiskurs einzubringen. Dies gilt sowohl für den allgemeinen als auch und in besonderer Weise für den fachdidaktischen sozialwissenschaftlichen Bildungsdiskurs, für den nahezu ausschließlich und trotz ihrer begrenzten wissenschaftsdisziplinären Sichtweisen auf die soziale Welt die politische und in jüngster Zeit verstärkt die ökonomische Bildung Geltungsmacht beanspruchen. Dabei ist unverkennbar, dass beide Traditionslinien weitestgehend unverbunden nebeneinander stehen und ohne Gesellschaftsbezüge Gefahr laufen eine einseitige, affirmative und ideologische Bildungsvermittlung zu fördern. In der politischen Bildung hat die Einsicht in die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Einbettung mit Verweis auf die Strömung der kritischen politischen Bildung eine lange Tradition und eine immer noch gewichtige Aktualität (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2016), in der Wirtschaftsdidaktik reift sie allmählich, wie dies etwa im Konzept sozioökonomischer Bildung sichtbar wird (vgl. Engartner, Krisanthan 2013).

Betrachtet man dagegen die Soziologie erstens als Integrationswissenschaft, die es erlaubt, alle Dimensionen des Sozialen einzubeziehen (vgl. Joas 2007: 14), dann ermöglicht eine darauf gründende soziologische Bildungskonzeption die Einbeziehung, Verknüpfung und Ergänzung der fachdisziplinären Konzepte und damit die Vermittlung eines übergreifenden sozialwissenschaftlichen Deutungs- und Orientierungswissens. Betrachtet man sie zweitens als empirische, multiperspektivische und (selbst-)reflexive Beobachtungs- und Aufklärungswissenschaft, dann leistet eine darauf gründende soziologische Bildungskonzeption sowohl die Umsetzung der fachdidaktischen Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses [2] – Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Schülerorientierung – als auch einen Beitrag zur Herausbildung der grundlegenden Fähigkeiten gelingender Bildungsprozesse nach Klafki (2007: 63): Kritikfähigkeit, Argumentationsfähigkeit, Empathie und das Erkennen von Verflechtungen. 

Die genannten Aspekte zur Fundierung einer soziologischen Bildungsperspektive aufgreifend, soll im Folgenden skizzenhaft ein Modell soziologischer Bildung vorgestellt werden, das den Rahmen meiner Vorlesung ›Einführung in die Sozialwissenschaften‹ an der Universität Siegen bildete und als Grundlage für die Erarbeitung einer elaborierten Soziologiedidaktik zur Diskussion gestellt werden soll (Abb. 1).

Ausgangspunkt des Modells ist die etymologische Betrachtung des Sozialen als Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften. Danach lassen sich die vielen Zugänge zum Begriff des Sozialen zwei zentralen Betrachtungsebenen zuordnen: Erstens werden damit unterschiedliche Ordnungsstrukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und zweitens verschiedene Handlungspraktiken bezeichnet, die – mit Verweis auf Weber allgemein gesprochen – auf das Verhalten anderer bezogen werden. 

Abbildung 1: Modell soziologischer Bildung 

Eigene Darstellung

Damit sind zugleich die beiden zentralen Betrachtungsperspektiven makro- und mikrosoziologischen Zuschnitts benannt, zu denen die Soziologie jeweils ein umfangreiches theoretisches und methodisches Instrumentarium zum Verständnis eines übergreifenden Grundlagen- und Orientierungswissens anbietet, das maßgeblich zur Einsicht in die gesellschaftliche Einbettung und Vernetzung der verschiedenen Ordnungsstrukturen und Handlungspraktiken beiträgt. Während die anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine zwar differenzierte aber tendenziell teildimensionale Sichtweise auf innerfachliche Ordnungsstrukturen und Handlungspraktiken fokussieren, ermöglicht eine soziologische Bezugnahme, einen allgemeinen Bezugsrahmen des Sozialen zu thematisieren. Dies prädestiniert sie zur Umsetzung der allgemeinen bildungstheoretischen Zielsetzung vernetzten Zusammenhangsdenkens. Dabei lässt sich eine Vielzahl soziologischer Zugänge anführen, die in der Vorlesung auf jeweils zwei makro- und mikrosoziologische Perspektiven verdichtet wurden: Auf der makrosoziologischen Ordnungsstrukturebene sind dies (1) die funktionalstrukturierte Perspektive einer gesellschaftlichen Einbettung und Vernetzung der einzelnen Funktionsbereiche im Anschluss an Durkheim und (2) die auf Machtstrukturen gründende und um horizontale Ungleichheiten erweiterte sozialstrukturierte Perspektive im Anschluss an Marx; auf der mikrosoziologischen Handlungspraxisebene (1) die einzelne soziale Handlungsbereiche übergreifende subjektorientierte und rationale Handlungsperspektive im Anschluss an Weber und (2) die alltagspraktische und relationale Handlungsperspektive im Anschluss an Elias› Figurationsansatz.

Zwar deckt ein solcher multiperspektivischer soziologischer Zugang die teildisziplinären Zusammenhänge auf beiden betrachteten Ebenen auf, im Anschluss an Bourdieus sozialpraxeologische Perspektive ist zum Verständnis der Zusammenhänge der sozialen Welt jedoch das Wechselverhältnis von sozialen Ordnungsstrukturen und sozialen Handlungspraktiken der zentrale Gegenstand einer soziologischen Bildungsvermittlung und damit integraler Bestandteil des Modells. Demnach gilt es einerseits zu analysieren, wie soziale Ordnungsstrukturen auf soziale Handlungspraktiken wirken und diese anleiten. Im Fokus stehen daher mit der sozialen Ordnungsstruktur zusammenhängende individuelle handlungspraktische Muster. Bei Bourdieu ist der Habitus ein solches strukturierendes individuelles Muster, das durch die Position im sozialen Raum strukturiert ist. Andererseits ist aber auch zu fragen, wie sich soziale Ordnungsstrukturen im menschlichen Zusammenleben herausbilden und sich über die Zeit verändern. Im Fokus stehen daher mit der Handlungspraxis verbundene kollektive ordnungsstrukturelle Muster auf unterschiedlichen Aggregationsebenen, die wiederum wechselseitig mit den individuellen handlungspraktischen Mustern in Zusammenhang stehen. Bei Bourdieu sind die vielzähligen, in sich differenzierten und vernetzten sozialen Felder solche strukturierenden kollektiven Muster, die durch die soziale Handlungspraxis strukturiert sind und prozessuale Veränderungen des sozialen Raums herbeiführen. 

Eine soziologische Bildungsdidaktik hat deshalb die Vermittlung jenes reflexiven Verständnisses der Wechselwirkungen von sozialen, das heißt gesellschaftlich eingebetteten und vernetzten Ordnungsstrukturen und Handlungspraktiken zum Ziel und mit Blick auf die schülerbezogene Erschließung der sozialen Welt besonders die Selbstreflexivität dieses Vermittlungsvorgangs. 

Da mit Bourdieus Sozialtheorie eine solche spezifische Zielsetzung einer soziologischen Bildungsvermittlung fundiert werden kann, fungiert sie hier als übergreifender theoretischer Bezugsrahmen. Mit ihr kann zugleich auf ein umfassendes und elaboriertes Begriffs- und Analyseinstrumentarium zurückgegriffen werden, das zur Schulung jenes vernetzten Deutungs- und Orientierungswissens und (selbst-)reflexiven Verständnisses der dargestellten Wechselwirkungen eine fruchtbare Anwendung in der Schüler- und Lehrerbildung verspricht. Für das vorgestellte Modell soziologischer Bildung dient sie jedoch vorrangig als Orientierungsfolie zur Einbeziehung, Vernetzung und Ergänzung der weiteren, oben genannten soziologischen Perspektiven. Erst dadurch erfährt das Modell seinen angestrebten erweiternden, multiperspektivischen und Kontroversität schulenden Bildungsanspruch. Darauf verweist die allgemein gehaltene Terminologie der zentralen Kategorien des Modells, die es weiter zu konkretisieren gilt. [2] Ferner lassen sich im Modell teildisziplinäre Zugänge und Wissensgrundlagen soziologisch integrieren, so dass es schließlich als integratives, sozialwissenschaftliches Modell betrachtet werden kann, das zur Bearbeitung einer großen Bandbreite an Frage- und Problemstellungen der sozialen Welt eine fruchtbare Anwendung verspricht. [3] 

Der integrative Zuschnitt des Modells soll abschließend in didaktischer Hinsicht mit der Zielsetzung einer darauf gründenden weiter auszudifferenzierenden elaborierten Soziologiedidaktik konkretisiert werden. So lassen sich zentrale fachdisziplinäre Bildungsziele im Modell verorten und durch die entfaltete soziologische Bildungsperspektive ergänzen und legitimieren. Wenn etwa rationale Konsumentscheidungen als ein zentrales Bildungsziel der ökonomischen Bildung thematisiert werden, dann ist dies aus soziologischer Bildungsperspektive damit begründbar, dass vielfach Konsumentscheidungen habitualisierten Handlungsmustern folgen, worüber die Heranwachsenden aufzuklären sind, um ein selbstreflexives Konsumentenbewusstsein zu erlangen. Auf dieser individuellen Ebene wären schließlich weitere Bewusstseinsdimensionen zu klären – so etwa auch die moralische Bewusstseinsdimension im Anschluss an Durkheim –, die zu einem mehrdimensionalen (selbst-)reflexiven Gesellschaftsbewusstsein in Anlehnung an das Geschichtsbewusstsein von Pandel (1987) weiter zu verdichten wären. Auf der kollektiven Ebene ließe sich zudem das in der Politikdidaktik zentrale Bildungsziel der partizipativen Gestaltungskompetenz [4] im Modell verorten, über deren Grenzen und Möglichkeiten maßgeblich die soziologische Bildungsperspektive aufzuklären vermag, indem sie die wechselseitige Verknüpfung mit dem zu erlangenden kritisch-reflexiven mehrdimensionalen Gesellschaftsbewusstsein herausstellt. 

Schlussendlich verspricht eine auf dieser Basis weiter auszugestaltende Soziologiedidaktik einen bedeutungsrelevanten Beitrag zur Bewältigung und Gestaltung der oben angedeuteten gegenwärtigen und zukünftigen ›epochaltypischen Schlüsselprobleme‹ (Klafki 2007: 56) zu leisten. Damit ist zugleich die Forderung nach einer schulpolitischen Umsetzung einer umfassenden soziologischen Bildung für alle verbunden. 

[1] Beim Beutelsbacher Konsens handelt es sich um einen bis heute akzeptierten Minimalkonsens in der politischen Bildung, der auf eine 1976 veranstaltete Fachtagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg im schwäbischen Beutelsbach zurückgeht.

[2] Dies kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Exemplarisch sei aber etwa auf die Modellintegration von Webers Idealtypen sozialen Handelns oder von Dahrendorfs Konzept sozialer Rollen als weitere Betrachtungsperspektiven auf handlungspraktische Muster verwiesen. Ferner lassen sich an dieser Stelle weitere sozialisationstheoretische Ansätze integrieren. 

[3] Gemeint sind hier vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Fachdiskurses vorrangig wirtschafts- und politikwissenschaftliche Zugänge und Grundlagen, was weitere zu diskutierende – etwa rechtswissenschaftliche, psychologische oder auch medienwissenschaftliche – Fachbezüge je nach Themenschwerpunkt nicht ausschließt. In der Vorlesung wurden beispielsweise die politikwissenschaftlichen Vertragstheorien als politische Ordnungsstruktur thematisiert und soziologisch integriert.

[4] Selbige Zielsetzung nimmt ferner in der gegenwärtig vieldiskutierten Bildungskonzeption für nachhaltige Entwicklung eine zentrale Stellung ein, weshalb das Modell auch in diesem Bildungskontext wichtige soziologische Impulse setzen könnte.

Literatur

  • Autorengruppe Fachdidaktik (Hg.) 2016: Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach: Wochenschau Verlag.
  • Engartner, T., Krisanthan, B. 2013: Ökonomische Bildung im sozialwissenschaftlichen Kontext oder: Aspekte eines Konzepts sozio-ökonomischer Bildung. Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 63. Jg., Heft 2, 243–256.
  • Joas, H. 2007: Die soziologische Perspektive. In H. Joas (Hg.), Lehrbuch der Soziologie. 3. Auflage, Frankfurt am Main: Campus, 11–38.
  • Klafki, W. 2007: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritische Didaktik. 6. Auflage, Weinheim: Beltz.
  • Pandel, H.-J. 1987: Dimensionen des Geschichtsbewußtseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. Geschichtsdidaktik, 12. Jg., Heft 3, 130–142.

Die Rolle der Soziologie in allgemein- und berufsbildenden Bildungsgängen am Beispiel Berlins

Fabian Wagner

Am Beispiel eines Oberstufenzentrums wird im Folgenden aufgezeigt, wo soziologische Themen und Fragestellungen in verschiedenen Bildungsgängen verortet sind und welche Kompetenzen Schüler*innen und Lehrkräfte entwickeln können respektive benötigen, um gesellschaftliches Deutungs- und Orientierungswissen zu erwerben bzw. zu vermitteln. [1] Als besonders wichtig erscheint es mir, die Schüler*innen und Studierenden zum Perspektivenwechsel und zum Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität zu befähigen.

Betrachtet werden dabei exemplarisch drei Bildungsgänge im Bereich Sozialwesen: Die Fachoberschule, die Fachschule für Sozialpädagogik und das berufliche Gymnasium.

Die Fachoberschule in ihrer zweijährigen Form ermöglicht den Schüler*innen, mit einer schriftlichen Prüfung in Soziologie als vierter Prüfungskomponente abzuschließen. Aufbauend auf die 11. Klasse, in der Soziologie integriert mit Pädagogik und Psychologie als ›Sozialwissenschaften‹ unterrichtet wird und inhaltlich auf Sozialisation und Kinderarmut fokussiert, stellt der sechsstündige Schwerpunktkurs in der 12. Klasse die Auseinandersetzung mit den Themen ›Wandel der Lebensformen‹ und ›soziale Ungleichheit‹ in den Mittelpunkt. Darüber hinaus sind Wahlthemen wie zum Beispiel ›Geschlechtersoziologie‹ oder ›Jugendsoziologie‹ zu unterrichten. [2] Ziel ist, den Schüler*innen mit wissenschaftspropädeutischem Anspruch als zentrale zu erwerbende Kompetenz die soziologische Denkwiese nahe zu bringen. (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2009: 15; Bauman 2000: 17 f.). 

Hinsichtlich der Lerngruppen in der Fachoberschule muss davon ausgegangen werden, dass es sich um eine heterogene, überwiegend weibliche Schülerschaft handelt, die typischerweise mit gebrochenen Bildungsbiografien in diesen Bildungsgang einmündet. Ursache dafür sind meinen Beobachtungen zufolge etwa belastete Herkunftsfamilien oder Krankheiten, die den kontinuierlichen Aufbau kulturellen Kapitals verhinderten oder erschwerten. Hinzu kommt, dass die Schüler*innen bzw. die Herkunftsfamilien auch ökonomisch schlechter gestellt sind als der Durchschnitt der Berliner Schülerschaft. [3] Der Umgang mit dieser Schülerschaft fordert von der Lehrkraft soziologisches Wissen über die spezifischen Lebenslagen und Lebenswelten dieser Gruppe, die andererseits wieder für den Unterricht fruchtbar gemacht werden können.

In der Fachschule für Sozialpädagogik werden im dreijährigen Weiterbildungsstudium Erzieher*innen ausgebildet. Die Ausbildung erfolgt in sechs Lernfeldern (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016), in denen soziologische Themen und Aspekte integraler Bestandteil sind. Die Soziologie markiert hier eine der wichtigsten Bezugswissenschaften für die Sozialpädagogik. 

Die Studierenden müssen die gesellschaftlichen Zusammenhänge verstehen, in denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als ihre Zielgruppen samt deren Eltern respektive Familien handeln, um sie begleiten und in ihren Bildungs- und Sozialisationsprozessen professionell unterstützen zu können. Somit werden unter anderem Lebenslagen, Lebenswelten, Sozialräume sowie Institutionen zu wesentlichen Analysekategorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihrer Zielgruppen. Bei der Umsetzung des Berliner Bildungsprogramms sind Erzieher*innen aufgefordert, selbst als Multiplikator*innen auf Familienkulturen, Wohn- und Lebensformen, demokratische Teilhabe etc. einzugehen und den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, diversitätsrelevante und vorurteilsbewusste Kompetenzen zu entwickeln (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2014: 85 ff.). Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, sind Lehrkräfte zum einen aufgefordert, Werteorientierung als Querschnittsaufgabe für die pädagogischen Fachkräfte in der Ausbildung zu etablieren und zum anderen didaktisch und methodisch dem Prinzip der doppelten Vermittlungspraxis zu folgen: Unterrichtsprozesse sind so zu gestalten, ›dass die Qualität von Lehr-/Lernformen und der Beziehungsgestaltung in die Berufspraxis transferiert‹ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016: 13) werden können.

Bei den Lerngruppen in der Erzieherausbildung handelt es sich um Gruppen mit ausgeprägter Heterogenität. Soziale Herkunft und formale und bildungsbiografische Eingangsvoraussetzungen [4] sind sehr unterschiedlich, und die Alterspanne der Studierenden stellt sich von ca. 18 Jahren bis ins höhere Erwachsenenalter äußerst breit dar.

 Ein weiterer Bildungsgang an Oberstufenzentren für Sozialwesen ist das berufliche Gymnasium. Hier kann das Abitur üblicherweise in Klasse 13 abgelegt werden. Die Besonderheit besteht darin, dass die Schüler*innen als einen Leistungskurs Pädagogik oder Psychologie wählen. Soziologie ist hingegen, anders als in der Fachoberschule, als Fach am Gymnasium bzw. beruflichen Gymnasium nicht vorgesehen. Soziologische Inhalte oder Perspektiven beschränken sich demzufolge auf punktuelle Ausschnitte, wo diese für das pädagogische Verständnis unabdingbar sind: bei Themen wie Werten, Normen oder Sozialisation in Abgrenzung zu Erziehung (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2016).

Inwieweit bringen die Lehrkräfte am Oberstufenzentrum für Sozialwesen soziologische Kompetenzen mit? Das Kollegium ist eine Mischung aus Allgemein- und Berufsbildner*innen sowie Laufbahnlehrkräften und Quereinsteiger*innen, wobei die Mehrheit der Lehrkräfte mit allgemeinbildenden Fächern am beruflichen Gymnasium bzw. der Fachoberschule eingesetzt wird. So unterrichten häufig Sozialkunde- oder Politiklehrer*innen Soziologie in der Fachoberschule. In der Fachschule für Sozialpädagogik arbeiten hingegen viele Quereinsteiger*innen, unter anderem, weil Berlin keinen Studiengang für das berufsbildende Lehramt mit der beruflichen Fachrichtung Sozialpädagogik anbietet. Es werden daher häufig DiplomPädagog*innen, Psycholog*innen oder auch in sehr geringerem Umfang Soziolog*innen nachqualifiziert. Sie absolvieren einen berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst, in den allermeisten Fällen mit der Fächerkombination Sozialpädagogik und Psychologie. Die Gründe für die Randständigkeit der Soziologie sind vielfältig. [5] Eine Ursache liegt sicherlich im erhöhten Lehrkräftebedarf am beruflichen Gymnasium für die Fächer Pädagogik und Psychologie begründet. Dadurch sind diese Kompetenzen und Perspektiven an den Schulen im Vergleich zur soziologischen bei den Lehrkräften eher überrepräsentiert, was sich meiner Beobachtung nach im Unterricht in den bevorzugten Perspektiven auf die Lerngegenstände niederschlägt. Hier zeigt sich mit Blick auf die Bezugswissenschaften der Sozialpädagogik ein deutlicher Primat der Psychologie gegenüber der Soziologie. Andererseits verdeutlicht sowohl die Heterogenität der Lerngruppen in den Bildungsgängen der Oberstufenzentren für Sozialwesen die Notwendigkeit soziologischen Wissens auf Seiten der Lehrkräfte (Hurrelmann 2016; Syring, Bohl, Treptow 2016) als auch der aktuelle Lehrplan der Fachschule für Sozialpädagogik, in dem sich Sozialraum-, Lebensweltorientierung und Diversität als wesentliche Perspektiven durch alle Lernfelder ziehen.

[1] Meine Beobachtungen und Kenntnisse bezüglich der im Titel skizzierten Rolle der Soziologie resultieren aus meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrkraft in den Bildungsgängen der Fachschule für Sozialpädagogik und der Fachoberschule für Gesundheit und Soziales. Damit verbunden sind viele Beratungs- und Entwicklungsgespräche mit Studierenden (laut Ausbildungsverordnung werden die Schüler*innen an der Fachschule als Studierende bezeichnet) und Schüler*innen. Als Fachseminarleiter für Sozialpädagogik und Soziologie in der Lehramtsausbildung für berufliche Schulen habe ich zusätzlich Einblick in andere Schulen und Bildungsgänge, wie zum Beispiel das berufliche Gymnasium.

[2] Für eine Liste aller möglichen Wahlthemenfelder siehe: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2012: 25).

[3] Grundlage dieser Einschätzung ist die Lernmittelbefreiung der Schüler*innen. Für Berlin liegt die Quote bei ca. 33% der Schülerschaft (Klesmann 2013). An typischen Fachoberschulen im Bereich Sozialwesen beträgt diese jedoch etwa 50%.

[4] Manche Studierende kommen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder nach langjähriger Berufstätigkeit, andere haben Abitur oder ein abgebrochenes Hochschulstudium vorzuweisen. Vgl. auch SozpädVO Berlin, § 5 Zulassung zum Vollzeitstudium.

[5] In diesem Zusammenhang sei nur auf den hegemonialen psychologischen Diskurs hingewiesen, der breite gesellschaftliche Akzeptanz erfährt, auf Traditionslinien der Schulen, die zum Beispiel in der Vergangenheit in Sozialpädagogik überwiegend Kolleg*innen mit den Schwerpunkten Pädagogik und Psychologie eingesetzt haben etc.

Literatur

  • Bauman, Z. 2000: Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Hurrelmann, K. (Hg.) 2016: Lebenswelten von Jugendlichen verstehen. Herausforderungen für Lehrkräfte an Berufsschulen. Hamburg: Handwerk & Technik. 
  • Klesmann, M. 2013: Lernmittelbefreiung: Jeder dritte Berliner Schüler arm. Berliner Zeitung, 5. August 2013. www.berliner-zeitung.de/4464652, letzter Aufruf 15. November 2017.
  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) 2009: Rahmenlehrplan für das Fach Soziologie. Berufsoberschule und Fachoberschule für die Fachrichtung Sozialwesen. Schwerpunkt: Sozialpädagogik. Berlin.
  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hg.) 2012: Rahmenlehrplan für Unterricht und Erziehung. Berufsoberschule und Fachoberschule, Schwerpunkt: Sozialpädagogik, Fach: Soziologie. Berlin.
  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hg.) 2016: Rahmenlehrplan für die Staatliche Fachschule für Sozialpädagogik. Berlin.
  • Syring, M., Bohl, T., Treptow, R. (Hg.) 2016: YOLO – Jugendliche und ihre Lebenswelten verstehen. Zugänge für die Pädagogische Praxis. Weinheim: Beltz.

Reflexives Wissen im sozialwissenschaftlichen Unterricht

Stefan Müller

Folgerungen aus einer Unterrichtsreihe zum Thema 

›Konformität und Abweichung‹

Auf welche Gestaltungsmöglichkeiten kann sozialwissenschaftlicher Unterricht in der Schule zurückgreifen, der sich an Mündigkeit, an einer Erweiterung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten aller Beteiligten orientiert? Diese und damit zusammenhängende Forschungsfragen standen im Mittelpunkt des explorativen Kooperationsprojekts Perspektiven. In der Zusammenarbeit mit einer hessischen Fachoberschule wurde eine 6-wöchige Unterrichtsreihe zum Thema ›Konformität und Abweichung‹ vorbereitet und durchgeführt. Durch teilnehmende Beobachtung im Unterricht wurden sowohl Optionen als auch Herausforderungen einer reflexiven Gestaltung von Lehr- und Lernverhältnissen sichtbar. 

Im Folgenden werden zwei ausgewählte Ergebnisse aus dieser Unterrichtsreihe skizziert. Ein erstes Spannungsfeld im sozialwissenschaftlichen Unterricht kann in der Unterscheidung zwischen additiven und reflexiven Modellen von Multiperspektivität verortet werden. Damit verbunden ist ein zweites Spannungsfeld, das durch ein Mit-, Neben- und Gegeneinander der Förderung und Untergrabung von Subjektivität gekennzeichnet ist. Dabei handelt es sich um die Antinomie von Eigen- durch Fremdbestimmung unter institutionellen Bedingungen in Bildungskontexten. Beide Spannungsfelder prägen jeweils die beiden möglichen Wege einer erweiternden und einer einschränkenden sozialwissenschaftlichen Bildung in der Schule.

Additive und reflexive Multiperspektivität 

Die Organisation von Lern- und Bildungserfahrungen in der Schule wird didaktisch-methodisch unter anderem mit multiperspektivischen Konzepten bearbeitbar. Die sozialwissenschaftliche Fachdidaktik stärkt und begründet dementsprechende Modelle (Autorengruppe Fachdidaktik 2016; Müller 2016). 

Der Lehrplan sah für die im Projekt bearbeitete Unterrichtseinheit folgende Ziele vor: Schüler/-innen ›thematisieren die Problematik von Konformität und Abweichung und analysieren sie als Ergebnis von Interaktions- und Bewertungsprozessen. Sie diskutieren die Relevanz sozialer Ungleichheit für den Verlauf dieser Entwicklung.‹ (Hessisches Kultusministerium 2006: 13)

Abhängig von den jeweils ausgewählten sozialwissenschaftlichen Zugängen werden entsprechende Einsichten und Erfahrungen ermöglicht bzw. verstellt. Gleichzeitig sind die ausgewählten Perspektiven nicht davor geschützt, instrumentell verwendet zu werden (Müller 2015). 

Eine bewusste Auswahl aus der Vielfalt sozialwissenschaftlicher Denk- und Argumentationsfiguren bildet einen ersten bedeutsamen Schritt für multiperspektivisch organisierte Bildungserfahrungen, der jedoch reflexive Wissenserfahrungen im Unterricht noch nicht gewährleistet. Darüber hinaus ist eine reflexive Multiperspektivität von Überlegungen geprägt, inwiefern (Voraussetzungen von) Selbstverständlichkeiten in einer unhinterfragten Reproduktion der bloßen Benennung verbleiben oder in den Horizont einer eigenständigen Bearbeitung überführt werden. Multiperspektivische Ansprüche, die lediglich in eine additive Aneinanderreihung unterschiedlicher Positionen münden, verbleiben unterbestimmt. Reflexive Perspektiven zielen dagegen darauf ab, sozialwissenschaftliche Bildung als begründetes Relations- und Kontextwissen von rechthaberischen Positionen abzuheben. Es geht dann um Wissensformen, die stets in sozial konstituierte und konstruierte Strukturen und Prozesse eingebettet sind und die zudem Verbindungslinien zur je eigenen Subjektivität aufweisen. Erst der Übergang von Behauptungen zu Begründungen, von der Rechthaberei zur Reflexion öffnet eine multiperspektivische Konzeption (vgl. Müller 2016). Hier zeichnet sich ein Spannungsfeld zwischen additiven, äußerlich verbleibenden Konzepten und reflexiven Modellen von Multiperspektivität im sozialwissenschaftlichen Unterricht ab. 

In der Unterrichtsreihe wurden die subjektiven Annahmen und kategorialen Zuschreibungen, die mit der Thematik ›Konformität und Abweichung‹ verbunden sind, ebenso einbezogen wie unterschiedliche Erklärungsmodelle. Ein solches Vorhaben kann durch eine empirische Erhebung unterstützt werden. Mit den Schüler/-innen wurde die Durchführung qualitativer Interviews im Anschluss an Helfferich (2009) erarbeitet und es wurden Projektgruppen aus je zwei Personen gebildet. In Kurzinterviews mit einer selbständig ausgewählten Person, die als relevant für die Thematik ›Konformität und Abweichung‹ eingeschätzt wurde, erhoben die Projektgruppen eigenständig Material und transkribierten dieses nach vorab festgelegten Regeln. In daran anschließenden Gruppeninterpretationen wurden verschiedene heuristische und interpretative Verfahren erarbeitet und erprobt. [1]

Das erhobene Material war durch unterschiedliche, vorrangig geschlechtsspezifische Differenzsetzungen gekennzeichnet: Kategoriale Annahmen und Zuschreibungen verwiesen auf individuelle und gesellschaftlich verfügbare (Normalitäts-)Erwartungen. Die vorausgehende Unterrichtsreihe zu ›Sozialer Ungleichheit‹ thematisierte klassen-, schicht- und milieutheoretische Modelle, die die Schüler/innen mit dem erhobenen Material in Verbindung setzten. 

In einer der Interpretationsrunden lautete eine Schüleräußerung sichtlich perplex: ›Dürfen wir überhaupt so weit interpretieren?‹ Der Blick auf gewohnte, herkömmliche Wissensformen im gleichzeitigen Blick auf die Möglichkeiten und das Potenzial reflexiver Erfahrungen fand darin Ausdruck. In einer Projektarbeit der Schüler/innen lautete eine Überlegung: ›Die einzelnen Facetten sind niemals wahr oder falsch oder einzeln komplett, man ordnet sie, um ›das Richtige‹ herauszubekommen.‹ Sozialwissenschaftlicher Unterricht, der an multiperspektivischen Wissenserfahrungen orientiert ist, wird für eine solche ›Ordnung‹ sozialwissenschaftliche Modelle benötigen, die erlauben, Proklamationen und Behauptungen, binäre Dichotomien und stillschweigende Voraussetzungen nicht ungeprüft übernehmen zu müssen. Ein erstes Spannungsfeld im sozialwissenschaftlichen Unterricht besteht demnach darin, ob die didaktisch-methodische Auswahl von Perspektiven an einer additiven Aneinanderreihung orientiert ist oder an Bildungserfahrungen, die eine reflexive Erweiterung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten unterstützen. 

Unterstützung und Untergrabung von Subjektivität im Unterricht

Eng damit verbunden ist ein zweites Spannungsfeld, das Erfahrungen von Wissen und Reflexion in Bildungsinstitutionen ermöglicht – und verstellt. Die Antinomie von Eigen- durch Fremdbestimmung prägt strukturell die Organisation von Unterricht. Sichtbar wird so auch ein doppelter Bezug auf Subjektivität, der zwischen den beiden Polen der Förderung und dem Ausnutzen oszilliert. Dies spiegelt die in sich gegenläufige und dennoch miteinander vermittelte Bezugnahme zwischen instrumenteller Verwendung und Unterstützung von Subjektivität, die als eines der sozialwissenschaftlichen Bezugsprobleme moderner Vergesellschaftung ausgemacht werden kann (Ritsert 2017). Diese doppelte Bezugnahme auf die Subjektivität aller Beteiligten, die das unhintergehbare Spannungsfeld von Förderung und Untergrabung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten kennzeichnet, kann in ihren Extrempolen als ›Mündigkeit‹ (Adorno) oder als Produktion von ›Trivialmaschinen‹ (Luhmann) gekennzeichnet werden. Beide treten im sozialwissenschaftlichen Unterricht – sowohl strukturell als auch real – vermittelt auf, das heißt, in einem Mit-, Neben- und Gegeneinander. Obwohl die Orientierung an einer der beiden Seiten überwiegt, wird die jeweils andere nie gänzlich zum Verschwinden gebracht werden können. Nicht die Auflösung, sondern das mündigkeitsorientierte Aushalten des Spannungsfeldes bildet daher einen Ausgangspunkt für substanzielle Bildungserfahrungen im Unterricht. 

In der Unterrichtsreihe waren alle Schüler/-innen dazu angehalten, im ersten Schritt der Gruppeninterpretation ihre unmittelbaren Irritationen und Auffälligkeiten zu benennen, möglichst ohne die jeweils anderen genannten Einfälle zu kommentieren. In der Evaluation der Unterrichtsreihe wurde dies so kommentiert: ›Gut war auch, dass jeder Schüler was sagen ›musste‹‹. Der Zwangscharakter, der mit einer beabsichtigten Förderung von Bildungserfahrungen einhergeht, wurde von der Schülerin mit Anführungszeichen markiert. Im Blick auf die Doppelläufigkeit moderner Subjektivität werden die Aspekte von ›Zwang‹ und ›Ermöglichung‹ von subjektiven Erfahrungen benannt. Zugleich wird deutlich, dass sozialwissenschaftliches Wissen auch stets mit der Gefahr verbunden ist, Aktivierungen für andere Zwecke vorzunehmen (vgl. dazu Rosa 2016; Bröckling 2017).

Ausblick 

Sozialwissenschaftliches Wissen in der Schule kann den Weg einer Erweiterung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten beschreiten – oder diesen verstellen. In beiden skizzierten Spannungsfeldern können die Bezugspunkte angegeben werden, die es erlauben, eine reflexive sozialwissenschaftliche Bildung in der Schule zu diskutieren. Das Spannungsfeld zwischen äußerlich verbleibender additiver und Autonomie erweiternder reflexiver Multiperspektivität zeigt eine ebenso weiterführende Perspektive auf wie die Antinomie von Eigen- durch Fremdbestimmung, die im sozialwissenschaftlichen Unterricht repressiv oder autonomieförderlich bearbeitet werden kann.

Neben diesen Spannungsfeldern wird die Organisation von reflexiven Wissenserfahrungen im Unterricht maßgeblich von einer strukturellen Absicherung durch Lehrpläne und Rahmenbedingungen getragen. Ist diese nicht gewährleistet, dann droht sozialwissenschaftlicher Unterricht zu einer ›Schüler- und Bürgermotivationstechnik‹ (Hedtke 2011: 186) eingeschränkt zu werden. Denn reflexives sozialwissenschaftliches Wissen benötigt auch (Unterrichts-)Zeit, die multiperspektivische Modelle als Ent- und nicht als Belastung aller Beteiligten ermöglicht. 

[1] Argumentationsanalysen mit Gomolla, Radtke (2009: 151 f.); vgl. auch Scherr, Janz, Müller (2015: 109 f.), Differenzreflexivität mit Messerschmidt (2016), Arbeitsbündnisanalyse mit Steinert (1998).

Bedeutsam ist hier, dass es sich bei sozialwissenschaftlichem Unterricht in der Schule nicht um reduzierte Varianten von (Pro-)Seminaren handelt. Es geht vielmehr um eine Überset¬zung, die sozialwissenschaftliche Denk- und Argumentationsfiguren für Schüler/-innen bereitstellt.

Literatur

  • Adorno, T.W. 1971: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Autorengruppe Fachdidaktik (Hg.) 2016: Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach: Wochenschau Verlag.
  • Bröckling, U. 2017: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp.
  • Gomolla, M., Radtke, F.-O. 2009: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS.
  • Hedtke, R. 2011: Das Interesse der Schüler – Abwehr entfremdeten Lernens bei Rolf Schmiederer. In M. May, J. Schattschneider (Hg.), Klassiker der Politikdidaktik neu gelesen. Originale und Kommentare. Schwalbach: Wochenschau Verlag, 167–189.
  • Helfferich, C. 2009: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden: VS.
  • Hessisches Kultusministerium. 2006: Lehrplan Fachoberschule. Beruflicher Lernbereich. Fachrichtung Sozialwesen.
  • Luhmann, N. 2004: Sozialisation und Erziehung. In D. Lenzen (Hg.), Schriften zur Pädagogik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 111–122.
  • Messerschmidt, A. 2016: Differenzreflexive Kritik machtkonformer Bildung. In S. Müller, J. Mende (Hg.), Differenz und Identität. Konstellationen der Kritik. Weinheim: Beltz Juventa, 166–180.
  • Müller, S. 2015: Soziologische Reflexivität. Negative Dialektik und die Beobachtung zweiter Ordnung. In A. Scherr (Hg.), Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Perspektiven in Anschluss an Niklas Luhmann. Weinheim: Beltz Juventa, 154–173.
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  • Ritsert, J. 2017: Zur Philosophie des Gesellschaftsbegriffs. Studien über eine undurchsichtige Kategorie. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Rosa, H. 2016: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
  • Scherr, A., Janz, C., Müller, S. 2015: Diskriminierung in der beruflichen Bildung. Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden. Wiesbaden: Springer VS.
  • Steinert, H. 1998: Genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen. In H. Steinert (Hg.), Zur Kritik der empirischen Sozialforschung. Ein Methodengrundkurs. Studientexte zur Sozialwissenschaft, Band 14. Frankfurt am Main: Goethe-Universität, 67–79.

Schule als Ort soziologischer Bildung und Forschung: Chancen der universitären Soziologie

Sabine Ritter

Schule behandelt, wenig erstaunlich, auch soziologische und soziologisch relevante Themen. Und zwar in all ihren Facetten und Dimensionen, sowohl innerschulisch als auch zum Beispiel universitär oder in Verlagen: in der Lehramtsausbildung, den Curricula, im Unterricht sowie in Lehrmaterialien und Schulbüchern. Allerdings tut sie das kaum mehr unter einer soziologischen Perspektive und offenkundig häufig ohne soziologische Expertise. [1] Dieser Umstand ist mehrfach misslich. Die Soziologie verfügt über bewährte Theorien und Methoden, die im Stande sind, die Komplexität der sozialen Welt in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Ohne Konsultation soziologischer Kompetenzen aber bleibt die Behandlung soziologischer Themen bestenfalls auf der Stufe informierten Alltagswissens, schlimmstenfalls werden die Lehrinhalte ideologisch: zum Beispiel, wenn in einem sozialkundlichen Schulbuch der späten 2000er Jahre bei der Behandlung von Themen wie Konsum oder Arbeitslosigkeit Ungleichheit und Diskriminierung ausgeblendet bleiben und die im Schulbuch konstruierte Mittelschicht ›eine homogene, konfliktfreie und ökonomisch saturierte ›Einheitsmitte‹‹ darstellt (Ritter 2017: 85). Soziologie muss gefragt werden – Soziologie muss sich aber auch anbieten und engagieren. Es gilt, was Gerhard Schulze in der NZZ über die ›Bringschuld der Soziologie‹ schrieb: ›Je mehr sich die Soziologie zurückhält, desto mehr erlangen auch noch die abwegigsten Diagnosen Gehör, als wären sie Offenbarungen‹ (Schulze 2016).

In Zeiten von sogenannten fake news, Populismus und öffentlichem Räsonnement, das vor allem in Talkshow-Formaten stattfindet, sind soziologisches Wissen und Können besonders gefordert. Soziologische Aufklärung tut not – und beginnt in der Schule. Als universitäre Disziplin hat die Soziologie einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag, dem es selbstbewusst nachzukommen gilt: Ihre fachgenuinen Angebote in der Lehrer*innenbildung und als Unterrichtsgegenstand sind Multiperspektivität und Paradigmenvielfalt, um so eine integrierte Gesamtsicht auf Handeln, Diskurse und Strukturen, auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu erlangen. Die multiperspektivische Sicht auf das Soziale ist zum Verständnis einer hochkomplexen, ihrerseits multiperspektivischen Welt unabdingbar. Gerade im oben skizzierten derzeitigen Klima simpler Lösungen ist Wissen und Reflexivität darüber notwendig, inwiefern und weshalb die moderne Welt komplex ist, inwiefern und dass es lediglich partial gültige Rationalitäten und Weltbilder gibt – und dass und wie moderne Gesellschaften dennoch respektive genau deswegen funktionieren können. Zudem lehrt Soziologie, systematisch ›das Soziale im Individuellen zu erkennen, das Allgemeine im Besonderen‹ (Bauman 2000: 21) – durchaus eine Schlüsselkompetenz verantwortungsvoller Citoyens. 

Über diese gesellschaftliche Verpflichtung hinaus, und das ist die eigentliche Argumentation, die hier vorgetragen werden soll, hätte die Wiederentdeckung der Schule als Ort soziologischer Bildung und Forschung auch konkreten Nutzen für das Fach. Drei Punkte, Studium, Bildung und Forschung betreffend, seien kurz skizziert:

  1. Schulen sind der Ort der Rekrutierung motivierter Studentinnen und Studenten. Wer in der Schule bewusst mit soziologischem Denken konfrontiert wurde, wer distanziert und reflexiv zu beobachten und zu urteilen gelernt hat, wird sich informierter und passfähiger für ein Soziologiestudium entscheiden. Bei der zentralen Studierendenbefragung der Universität Bremen gaben im Mai 2017 rund zwei Drittel (!) der befragten Studierenden im zweiten Semester des BA Soziologie an, das Fach gewählt zu haben, weil sie einen sozialen Beruf ergreifen und beziehungsweise oder die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern möchten. Was wäre, wenn derartige intrinsische Motivation auf eine bessere Vorkenntnis des Faches jenseits der üblichen Studieninformationsseiten, auf ›soziologische Allgemeinbildung‹ träfe? Wenn Schülerinnen und Schüler reflektierten, dass soziales Handeln, also der Gegenstand der Soziologie, und Humanität oder Fürsorge grundverschiedene Dinge sind? Dass man beruflich auch dann ››mit Menschen zu tun hat‹ […], wenn man sie aus den Elendsquartieren holt oder in die Gefängnisse steckt, mit Propaganda zudeckt, ihnen das Geld aus der Tasche lockt, bessere Autos verkauft oder bessere Bomberpiloten aus ihnen macht‹, wie Peter L. Berger in seiner ›Einladung zur Soziologie‹ eine solche Erwartungshaltung an das Fach treffend dekonstruiert (2011: 23). Für soziologische Allgemeinbildung bedarf es nicht zwingend eines Unterrichtsfaches ›Soziologie‹, aber mindestens hinreichend studierte Lehrkräfte, die Kenntnis von Soziologie und Begeisterung für soziologisches Denken an Lernende weitergeben – können!
  2. Schulen sind quasi die Petrischalen der Gesellschaft. Die Wiederentdeckung soziologischen Wissens und Denkens für die Schulbildung wäre der Grundstein für die ›Soziologisierung des Sozialen‹, einer Gegenbewegung zur seit Dekaden wirksamen und auch im Schulwesen sedimentierten Ökonomisierung in all ihren Facetten – von der sukzessiven Zurückdrängung gesellschaftskundlicher Fächer zugunsten solcher wie Wirtschafts- und Arbeitslehre bis hin zur Konzentration auf ökonomische und individuenzentrierte Erklärungsmodelle auf Kosten soziologischer Ansätze. Deren Auswirkungen waren der Anstoß für die Gründung des DGS-Ausschusses ›Soziologie und Schule‹. Systematische Präsenz in Lehrplänen und Schulbüchern ist der sicherste Weg, die Disziplin im common sense zu begründen und auszubauen – der ideale Ort, öffentliche Soziologie zu verankern.
  3. In Schulen wird das Soziale trainiert. Sie qualifizieren, selektieren und integrieren entsprechend den normativen und rechtlichen, gesellschaftlichen Gegebenheiten wiederum für die Gesellschaft (Hintz, Pöppel, Rekus 1993: 118 ff.). Sie nehmen, so Peetz, ›eine zentrale Stellung in dem gesellschaftlichen Zusammenhang ein, der als ›Wissensgesellschaft‹ […] bezeichnet wird.‹ (2014: 91) Sie bieten also nicht nur Chancen der Ausbildung und Gewinnung von Nachwuchs für die Soziologie – sie sind umgekehrt selbst lohnende Forschungsgegenstände als zentrale und elementare Institutionen eben jener ›Wissensgesellschaft‹. Wo sich die Bildungssoziologie in den letzten Jahren stark auf die Analyse aggregierter Daten – Stichworte: OECD und PISA –, auf Untersuchungen auf der Makroebene, konzentriert hatte, bietet Engagement des Faches in der Lehrkräfteausbildung hervorragende Möglichkeiten zur mikrosoziologischen Bildungs- und Erziehungsforschung: ein soziologisch eher dürftig bestelltes, gleichwohl lohnendes Feld, zu dem sich, nebenbei, auf diesem Wege recht unkompliziert Zugang verschaffen ließe. Zudem kann ein stärkeres bildungssoziologisches Interesse an Schule und Lehren die Qualität der Lehrkräfteausbildung fördern, zum Beispiel über das Einspeisen von (bislang weniger soziologischen als erziehungswissenschaftlichen) Forschungsergebnissen über die Rolle von Schule und Lehrer*in bei der Reproduktion oder eben Aufklärung von Ungleichheiten, von Diskriminierung und Stereotypen. Eine breitere Verankerung solcher Befunde in der Lehramtsausbildung wäre ein substantieller Beitrag zur soziologischen Aufklärung in der Schule und zugleich eine produktive Erweiterung des Forschungsfeldes.

Die Stärkung der Verbindung von Schule und akademischer Soziologie stellt für beide gesellschaftliche Einrichtungen eine Chance dar. Den inzwischen verfestigten Formen der Ökonomisierung von Bildung und Schule (Peetz 2014: 97–100) muss die Re-Etablierung soziologischer Inhalte und Fertigkeiten in der Lehramtsausbildung und in den Curricula entgegengestellt werden. Umgekehrt profitiert auch die Soziologie: von Studierenden, für die Soziologie weder ›so etwas wie Psychologie, nur mit Vielen‹ noch einfach ›was mit Menschen‹  ist, sondern die mit weniger misconceptions ihr Studium aufnehmen; von einem geschmeidigen Feldzugang zu mikrosoziologischer Forschung; und von attraktiven Möglichkeiten, Forschungsprojekte durchzuführen.

Wenn Kultusministerien und Schulbehörden einerseits und das Fach andererseits sich aufeinander zu bewegen, wenn die Curricula und Kompetenzrahmen seitens der Politik geöffnet und seitens der Soziologie mit einer spezifischen Didaktik, mit einem spezifischen Curriculum für die sozialwissenschaftliche Fachlehrkräfteausbildung bereichert werden, dann profitieren alle von Schule als Ort soziologischer Bildung und Forschung.

[1] Hierzu bloggte im Frühjahr 2017 der Ausschuss ›Soziologie und Schule‹ der DGS, (soziologie.de/blog/tag/soziologie-in-der-schule/, letzter Aufruf 16. November 2017).

Literatur

  • Bauman, Z. 2000: Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Berger, P.L. 2011: Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive. Konstanz: UVK.
  • Hintz, D., Pöppel, K.G., Rekus, J. 1993: Neues schulpädagogisches Wörterbuch. Weinheim: Juventa.
  • Peetz, T. 2014: Mechanismen der Ökonomisierung. Theoretische und empirische Untersuchungen am Fall ›Schule‹. Konstanz: UVK.
  • Ritter, S. 2017: Das Verschwinden der Ungleichheit. Zur Konstruktion der Mitte im Schulbuch. In S. Müller-Mathis, A. Wohnig (Hg.), Wie Schulbücher Rollen formen. Konstruktionen der ungleichen Partizipation in Schulbüchern. Schwalbach: Wochenschau Verlag, 68–86.
  • Schulze, G. 2016: Bringschuld der Soziologie. Neue Zürcher Zeitung, 24. September 2016. 

›Our aim is simple: to promote sociology‹

Reinhold Hedtke, Bettina Zurstrassen

Wenn die Debatte über Public Sociology ein Ergebnis erbracht hat, dann das einer schonungslosen Bestandsaufnahme der Soziologie in der Gesellschaft. Konstatiert wird, dass die deutsche Soziologie an sozialer Anerkennung eingebüßt habe; von einer prekären Situation in der Öffentlichkeit ist die Rede. Man wisse nicht, ›wie man Menschen jenseits des kleinen Fachpublikums überhaupt erreichen soll(e)‹, so Hirschfeld und Gengnagel im SozBlog (2017). Dabei liegt die Antwort eigentlich auf der Hand: durch soziologische Themen in Schulen und in der Lehrerausbildung.

Allerdings steht die deutsche Soziologie mit dieser zaghaften Selbstbeschreibung nicht allein. Während man jedoch von der organisierten Soziologie in Deutschland den Eindruck gewinnt, dass sie bestenfalls hier und dort, mehr oder weniger zufällig in Leitmedien zu Worte kommt, richten andere den Blick nach vorn. Die American Sociological Association und die British Sociological Association münzen die Erfahrung oder Wahrnehmung, dass die Soziologie anscheinend gesellschaftlich nicht mehr dialogfähig und wenig gefragt zu sein scheint, in strategisch ausgerichtete Aktivitäten um. Die dienen selbstverständlich auch den Eigeninteressen der Organisation, der Disziplin und ihrer Mitglieder.

Eine Strategie richtet sich auf Schule und Unterricht. Die Soziologieverbände definieren die Jugendlichen an Schulen und die Soziologielehrkräfte als ihre wichtigsten Adressatengruppen. Sie fordern, dass junge Menschen den Umgang mit der Fachsprache, mit Theorien, Erkenntnissen und Forschungsmethoden der Soziologie lernen. Beide Organisationen stellen auf ihren Homepages Angebote für Lehrkräfte bereit, publizieren Zeitschriften für Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen – ›Sociology Teacher‹ und ›Discover Sociology‹ der BSA und ›Teaching Sociology‹ der ASA –, oder sie werden bildungspolitisch aktiv, etwa indem sie nationale Bildungsstandards aufstellen (ASA). Beide Verbände bieten Soziologielehrkräften nicht nur vielfältige Ressourcen, sondern auch eine Mitgliedschaft zu günstigen Konditionen an. Nicht zuletzt kommt die hohe Aufmerksamkeit für Lehre und Lernen auch in der Organisationsstruktur zum Ausdruck, ASA und BSA führen eine Sektion ›Teaching and Learning‹ bzw. eine ›Teaching Group‹. Das erfolgt auch aus eigennützigen Interessen.

British Sociological Association: 

›About us: Our charitable aim. The British Sociological Association (BSA) is an educational charity. Our aim is simple: to promote sociology.‹ [1]

American Sociological Association:

›The American Sociological Association (ASA) believes that sociology at the high school level is a very important part of a student‹s curriculum and we are excited to support teachers with resources and a community of teachers. The ASA offers many resources for teachers to engage and excite students and to help launch the next generation of sociologists.‹ [2]

Vergleicht man das mit dem Angebot, das die Deutsche Gesellschaft für Soziologie Lehrerinnen und Lehrern oder Schülerinnen und Schülern macht, sieht man rasch, wie viel hier noch möglich ist. Das gilt zumindest mit Blick auf die BSA, die etwa genauso viele Mitglieder wie die DGS hat.

Der Beitrag der Soziologie zur gesellschaftlichen Bildung 

In der deutschen Public-Sociology-Debatte geht man noch davon aus, dass sich die Soziologie auf das Theorie- und Fachsprachenniveau von Laien begeben muss, um dialogfähig zu sein. Deshalb fürchtet man um die wissenschaftliche Reputation der Disziplin. Dagegen streben ASA und BSA mit ihrem Engagement für Bildung und Schulen an, soziologische ›Laien‹ gesellschaftspolitisch dialogfähig zu machen. Das sollte ein zentrales Ziel der Beschäftigung mit soziologischen Themen und gesellschaftlichen Problemen in Schulen sein.

Allerdings begibt sich die Soziologie mit einem schulorientierten Engagement in einen ungleichen Kampf konkurrierender Ansprüche auf Unterrichtszeit. Die in Stundentafeln und Curricula festgeschriebene Lernzeit ist eine der zentralen Ressourcen im Bildungsbereich. Sie wirkt unmittelbar auf die Disziplin zurück. Sie bestimmt die verfügbaren Ressourcen für die Fachausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an den Hochschulen. Sie definiert den Lehrkräftebedarf der Schulen und damit die Einstellungschancen der Absolventinnen und Absolventen. Sie prägt auch das Ansehen der Disziplin in Form der Anerkennung als sichtbares Element des etablierten Bildungskanons.

Die ASA formuliert in der oben zitierten Stellungnahme den Anspruch auf eine besondere Bildungsrelevanz der Soziologie für junge Menschen. Sie hat diesen Anspruch bildungspolitisch untermauert, indem sie Bildungsstandards entwickelt hat, die den Nutzen der Soziologie für junge Menschen und für die Gesellschaft verdeutlichen und öffentlich kommunizierbar machen.

In den Bildungsstandards führt die ASA eine Reihe von Argumenten auf, um die Bedeutung der Soziologie für die Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu operationalisieren:

›Sociology enhances students› understanding of the social world and increases their motivation and interest in studying social processes and groups in a scientific manner.

Sociology offers students an accessible setting to learn and use scientific thinking and consider how it might help address social issues.

Introducing sociological principles to high school students can be especially valuable for their development as they make the transition from adolescence into adulthood. […]

Sociology courses provide opportunities to deepen analytic skills […].

A sociological perspective underscores the importance of examining the social world with a critical eye and questioning assumptions, stereotypes and generalizations that underlie conventional social interactions and beliefs about one‹s world.

Sociology helps students to understand themselves better, since it examines how the social world influences the way they think, feel, and act. 

Students need to understand the social processes that contribute to problems such as poverty, violence, crime, and climate change if they are to have the tools to work toward solutions to the pressing global issues we all face in the 21st century.‹ (American Sociological Association o.J.: 2).

Jugendliche sollen Gesellschaftsbewusstsein entwickeln und darauf aufbauend politisch-soziale Mündigkeit erwerben. Hierzu bedarf es gesellschaftlichen Orientierungswissens, sprachlicher Kompetenzen (zum Beispiel soziologischer Fachbegriffe) und der Fähigkeit zum ›soziologischen Denken‹, die Zygmunt Bauman als ›eine eigene Macht, die Macht, Verfestigtes aufzulösen‹, beschreibt (2015: 29). Soziologisch denken zu können bringe ›die scheinbar fixierte und erstarrte Welt wieder in Bewegung; es weist darauf hin, daß die Welt anders sein könnte als sie ist‹ (ebd.). Das Wissen um die Gestaltbarkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen und von Lebensentwürfen, wie auch das Wissen über die damit oft verbundenen Widerstände, ist nicht nur aus demokratischer Perspektive bedeutsam, sondern auch für die Lernenden, deren Denk- und Handlungsfreiheit erweitert werden kann. Soziologisches Denken kann, so Bauman, dazu beitragen zu lernen, mit gesellschaftlicher Differenz umzugehen:

›Soziologisches Denken hilft zudem, andere Lebensweisen zu verstehen, die unserer direkten Erfahrung entzogen sind. […] Die Einsicht in die innere Logik und Bedeutung anderer Lebensweisen kann uns die Fragwürdigkeit der angeblich fest gezogenen Grenzen zwischen ›ihnen‹ und ›uns‹ deutlich machen. Wir können vor allem bezweifeln, daß diese Grenzen natürlich und gottgegeben sind. Dadurch kann sich die Verständigung mit diesen ›anderen‹ erleichtern und eher zu Vereinbarungen mit ihnen führen. Toleranz könnte an die Stelle von Furcht und Ablehnung treten.‹ (Bauman 2015: 29 f.).

In die Bildungsstandards der ASA sind diese Ideen eingeflossen. Selbstverständlich muss sich die DGS weder zwingend den ASA-Bildungsstandards anschließen, noch muss sie notwendigerweise Bildungsstandards aufstellen. Aber sie kann und muss Strategien und Instrumente entwickeln, mit denen sie ihren Anspruch als unverzichtbarer Teil der allgemeinen Bildung begründen und kommunizieren kann. Sie muss sich überlegen, ob und wie sie für das Lehren und Lernen von Soziologie Ressourcen anbieten will und kann. Grundsätzlicher muss sie sich fragen, zu welchem Engagement in Lehrerausbildung und Schulen sie bereit ist. Nicht zuletzt muss sie klären, wie sie mit der Differenz von Wissenschaft und Bildung umgehen will und insbesondere, wie sie sich dazu verhalten will, dass es in der allgemeinen Bildung an Schulen in erster Linie um eine Auseinandersetzung der Lernenden mit der Domäne Gesellschaft geht und erst in zweiter Linie um Beschäftigung mit der Disziplin Soziologie.

[1] www.discoversociology.co.uk, letzter Aufruf 16. November 2017.

[2] www.asanet.org/teaching-learning/resources-high-school-sociology, letzter Aufruf 16. November 2017.

Literatur