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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zu Beschäftigungsverhältnissen in der Wissenschaft

Essen, Februar 2016

Gesellschaftliche Dynamiken machen vor der Wissenschaft nicht halt. In den letzten Jahrzehnten haben  staatliche (De-)Regulierungen, Aktivierungspolitiken und neue Formen von ›governance‹ sowie eine zunehmende Ökonomisierung die Bildung im Allgemeinen und die Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen im Besonderen geprägt. Im Sinne eines ›akademischen Kapitalismus‹ verschärft sich der Wettbewerb um Forschungsgelder und Stellen bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der Hochschulen fortwährend. Eine wesentliche Folge ist die Prekarisierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen in der akademischen Forschung und Lehre. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) sieht diese Entwicklungen mit Sorge, sie fordert ein Umdenken in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie strukturelle Veränderungen im deutschen Wissenschaftssystem. Entsprechende Reformen dürfen nicht bei der äußerst zurückhaltenden jüngsten Neuregelung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes stehen bleiben.

Am stärksten treffen die genannten Entwicklungen den sogenannten akademischen Mittelbau – die bei Weitem größte Beschäftigtengruppe an wissenschaftlichen Einrichtungen. Für sie gibt es kaum planbare Beschäftigungsperspektiven in der Wissenschaft. Die überwiegende Mehrheit arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sieht sich mit (meist unfreiwilliger) Teilzeitbeschäftigung, Befristung, Kettenverträgen und nicht sozialversicherungspflichtigen Stipendien konfrontiert. Ein Blick in die Personalstatistik der Hochschulen belegt die verschärfte Konkurrenzsituation des Mittelbaus in der deutschen Wissenschaft eindrücklich: Von 2004 bis 2014 hat sich die Gruppe der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter/innen an deutschen Universitäten um 61.605 (von 102.380 auf 163.985) Personen vergrößert. Der weit überwiegende Teil der neuen Stellen wird  über Drittmittel finanziert, mehr als die Hälfte der im Rahmen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes abgeschlossenen Verträge hat eine Laufzeit von weniger als einem Jahr (Stand: 2011). Dagegen wurde die Zahl der Professor/innen (ohne Juniorprofessor/innen) in der gleichen Zeit nur um 1.571 (von 20.851 auf 22.422) erhöht. Parallel wurden unbefristete Stellen abseits der Professur immer weiter abgebaut. Im internationalen Vergleich weist Deutschland einen äußerst geringen Anteil an festen Stellen im Wissenschaftssystem auf, konkret derzeit ca. 15% im Mittelbau. Die seit jeher hohe berufliche Unsicherheit hat in den letzten Jahren noch einmal drastisch zugenommen. Die Zuspitzung der Wettbewerbssituation um die Professur als einzige langfristige Karriereoption ist angesichts der Internationalisierung und Pluralisierung im Feld der Wissenschaft nicht nur völlig unsach- und unzeitgemäß, sie nimmt zudem inzwischen dysfunktionale und destruktive Formen an, die letztlich immer mehr sehr gut ausgebildete, talentierte und engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausschließen.

Diese Entwicklungen sind gestalt- und steuerbar. Lange Zeit ließ sich die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern als Erklärungsansatz für manche Blockade heranziehen. Spätestens aber seit der Lockerung des Kooperationsverbots im November 2014 und der entsprechenden Grundgesetzänderung ist jedoch der Weg für ein stärkeres Engagement des Bundes frei. Die DGS schließt sich der Forderung der Hochschulrektorenkonferenz nach einer Ausweitung der Grundfinanzierung und mehr unbefristeten Stellen sowie den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu einer Neuordnung der Karrierewege in der Wissenschaft durch die Einführung von Tenure-Track-Professuren, einen Zuwachs an Professuren insgesamt und die Etablierung des Karriereziels einer unbefristeten Beschäftigung als Wissenschaftler/in auch jenseits der Professur an.

Es ist aber nicht nur die Wissenschaftspolitik gefordert. Auch die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen können viel tun. Der aus dem Templiner Manifest hervorgegangene Herrschinger Kodex der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigt, wie eine Selbstverpflichtung der Hochschulen für bessere Beschäftigungs- und Qualifizierungsbedingungen gelingen kann. Hochschulen sollten ihre gewachsene Autonomie zur Verbesserung der internen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen einsetzen.

Zu guter Letzt sind auch alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu aufgefordert, ihr berufliches Handeln zu reflektieren und ihre Handlungsspielräume im Sinne der Beschäftigten zu nutzen. Der notwendige Strukturwandel läuft ohne einen begleitenden arbeitskulturellen Wandel ins Leere. Hierzu gehört auch die aktive, selbst-reflexive Auseinandersetzung mit Formen und Effekten des beruflichen Ausschlusses im deutschen akademischen Feld: Wenn sich die Beschäftigungssituation wie beschrieben massiv prekarisiert, sind manche Gruppen besonders betroffen, etwa junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus nicht akademischen Milieus, Menschen mit Migrationshintergrund usw.

Die DGS ist der Auffassung, dass die autonome und innovative wissenschaftliche Wissensproduktion von destruktiver Ökonomisierung, inszeniertem Wettbewerb und der strukturell bedingten Prekarisierung des Personals bedroht ist. Kooperation und Planbarkeit sind grundlegende Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens und fördern die Qualität von Forschung und Lehre. Gute Wissenschaft ist nicht zuletzt das Resultat guter Arbeitsbedingungen. Die DGS regt deshalb einen Verständigungsprozess innerhalb und zwischen den Fachgesellschaften über die skizzierten Problematiken und ein aktives Engagement für die Herstellung nachhaltig guter Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland an. Mit dem vorliegenden Positionspapier soll dieser Prozess initiiert werden.

Quellen

  • Jongmanns, G. 2011: Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Gesetzesevaluation im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, in: Forum Hochschule, Heft 4, Hannover
  • Kreckel, R. / Zimmermann, K. 2014: Hasard oder Laufbahn. Akademische Karrierestrukturen im internationalen Vergleich, Leipzig
  • Münch, R. 2011: Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Frankfurt/M.
  • Rubins, I. 2007: Risks and Rewards of Academic Capitalism and the Effects of Presidential Leadership in the Entrepreneurial University, in: Perspectives in Public Affairs, Vol 4, Tempe (Arizona)
  • Slaughter, S. / Rhoades, G. 2004: Academic Capitalism and the New Economy: Markets, State, and Higher Education, Baltimore
  • Statistisches Bundesamt 2005: Fachserie 11, Reihe 4.4 – Bildung und Kultur. Personal an Hochschulen 2004, Wiesbaden
  • Statistisches Bundesamt 2015: Fachserie 11, Reihe 4.4 – Bildung und Kultur. Personal an Hochschulen 2014, Wiesbaden
  • Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld

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