Göttinger Aufruf der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
24. September 2018
Die gegenwärtige Bildungspolitik vernachlässigt die gesellschaftliche Kompetenz der jungen Generation. Sie verdrängt soziologische Inhalte aus den Bildungsplänen und aus der Lehrer-/Lehrerinnenausbildung. Damit wird sie ihrer Verantwortung für die Bildung junger Menschen und für die Gesellschaft, in der diese leben und leben werden, immer weniger gerecht. Die Soziologie untersucht die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen. Sie hilft, sowohl das gemeinsame Alltagsleben zu verstehen als auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die es eingebettet ist. Wer nicht verstehen gelernt hat, was Gesellschaften insgesamt und die konkreten täglichen Situationen, in denen wir handeln, prägt, zerlegt oder zusammenhält, stabilisiert oder verändert, der macht sich nur ein sehr unzureichendes Bild vom sozialen Zusammenleben etwa in Familien, Peergroups, in sozialen Medien, am Arbeitsplatz und in den Schulen. Nur eine soziologisch fundierte gesellschaftliche Bildung in der Schule kann die entsprechenden Kenntnisse über und für das Handeln in allen Teilbereichen von Gesellschaft vermitteln. Soziologisches Wissen ermöglicht zudem ein erweitertes Verständnis abstrakter Handlungsbereiche wie Politik und Wirtschaft. Denn Politik und Wirtschaft sind auf gesellschaftliche Voraussetzungen angewiesen, die sie selbst nicht schaffen können. Dazu gehören Werte und Normen, Vertrauen und Kooperation, Tradition und Innovation. Wer Strukturen und Prozesse komplexer Gesellschaften und Merkmale und Dynamiken sozialen Handelns nicht kennen gelernt hat, lässt sich leichter für verkürzte Welterklärungen und einseitige Vorstellungen von Gesellschaft vereinnahmen. Das birgt nicht nur soziale, sondern auch politische und ökonomische Risiken.
Junge Menschen brauchen eine fundierte soziologische Bildung. Diese greift das Grunderleben von Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft auf, das Kinder und Jugendliche in besonderem Maße betrifft. Sie erfahren die Komplexität und Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge und sorgen sich angesichts der umfassenden Ungewissheit über die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft und ihres eigenen Lebens. Sie sehen sich mit vielfältigen und widersprüchlichen Herausforderungen des Zusammenlebens in heterogenen, vernetzten Gesellschaften konfrontiert, die sich rasch und oft überraschend wandeln. Zugleich erwartet man von ihnen, dass sie sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen und tragfähige Entscheidungen für ihr eigenes Leben treffen. Um diesen Herausforderungen souverän und verantwortlich begegnen zu können, ist soziologische Bildung unerlässlich, sie eröffnet neue Perspektiven und alternative Handlungsoptionen.
Vor diesem Hintergrund haben Schüler/innen-Vertretungen in Deutschland und Europa seit Jahren einen Ausbau der gesellschaftlichen Bildung gefordert. Es wird Zeit, dass die Bildungspolitik dieses gesellschaftliche Orientierungsbedürfnis der Lernenden endlich ernst nimmt und in Lehrer-/Lehrerinnenausbildung, Stundentafeln und Lehrplänen verbindlich umsetzt.
Allgemeine und berufliche Schulen sind ein idealer Ort für eine angemessene, soziologisch fundierte gesellschaftliche Bildung, in der Wissen über Prozesse des alltäglichen Miteinander, des Aufbaus von personaler und sozialer Identität, des Fremdseins und des Dazugehörens, der Gruppendynamiken, des Zusammenlebens in Gesellschaft auf lokaler, nationaler und globaler Ebene erworben und die Sozialität des Lebens reflektiert werden kann. Schulen sind oft der einzige und prägende Ort, an dem Kinder und Jugendliche aus potenziell allen gesellschaftlichen Gruppen zusammenkommen und gemeinsam darüber nachdenken können, in welcher Gesellschaft sie leben, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der sie leben wollen, und was sie tun können, damit sich die Gesellschaft in ihrem Sinne ändert.
Deshalb ist eine grundständige Verankerung soziologischer Inhalte, Theorien und Methoden in der gesellschaftlichen Bildung in den Schulen und in der Lehrer-/Lehrerinnenausbildung geboten. Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern kann die Soziologie Theorien und Methoden an die Hand geben, um ihr eigenes Handeln in den unterschiedlichsten Situationen, in der Schule und anderen alltäglichen Lebenswelten zu analysieren, zu hinterfragen und damit reflektieren zu können.
Gesellschaft gehört zu den Grundthemen jeder Allgemeinbildung. Mit Blick auf die Zukunft der nachwachsenden Generationen wäre es unverantwortlich, die gegenwärtige Vernachlässigung gesellschaftlicher Themen und soziologischen Wissens in den Schulen fortzuschreiben. Wir fordern Parteien, Parlamente und Ministerien auf, unverzüglich und nachhaltig dafür zu sorgen, dass Lehrerinnen und Lehrer einerseits, junge Menschen in den Schulen andererseits das soziologische Wissen und Können erwerben, das sie für Orientierung, Verständigung und Handeln in der vielfältigen, unübersichtlichen, dynamischen und konfliktträchtigen Gesellschaft unserer Gegenwart benötigen. Wir stehen für konstruktive Mitarbeit bereit.
Bitte unterstützen Sie die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) in ihrem Anliegen, soziologischer Bildung in der Schule wieder einen angemessenen Platz einzuräumen!
Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS)
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Dr. Sonja Schnitzler
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