Aus der Soziologie

Nachruf auf Volker Stocké

Volker Stocké wurde 1966 in Frankenthal bei Mannheim geboren. Nach Zivildienst und Aufenthalt in einem Kibbuz in Israel hat er Soziologie an der Universität Mannheim studiert. Zu der Zeit wurde er auch Mitglied bei Den Grünen und engagierte sich im Landesverband von Baden-Württemberg. Nach dem Abschluss seines Studiums war Volker Stocké als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Harmut Esser tätig und schloss die Promotion 2001 mit Auszeichnung ab. Für seine Dissertation mit dem Thema ›Framing und Rationalität: Die Bedeutung der Informationsdarstellung für das Entscheidungsverhalten‹ wurde ihm der Lorenz-von-Stein-Preis verliehen. Von 2003 bis 2007 war Volker Stocké wissenschaftlicher Assistent (C1) sowie Leiter des Forschungsprojekts ›Bildungsaspirationen, Bezugsgruppen und Bildungsentscheidungen‹ im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 504 ›Rationalitätskonzepte, Entscheidungsverhalten und ökonomische Modellierung‹ am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Es entstanden zahlreiche Publikationen in renommierten Zeitschriften zum Zusammenhang von sozialer Klasse und Bildungsentscheidungen in Familien. Seine Veröffentlichungen zu den Bedingungen von Ungleichheit im deutschen Bildungssystem erlangten alle einen hohen Bekanntheitsgrad. Aber auch mit der Weiterentwicklung der Surveyforschung hat sich Volker Stocké sehr verdient gemacht. Er habilitierte sich 2009 an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim und ihm wurde die Venia Legendi in Soziologie verliehen. Noch im gleichen Jahr folgte er dem Ruf auf die W3-Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an die Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

Volker Stocké war mit seiner Heimatstadt immer sehr verbunden und behielt auch nach seinem Wechsel nach Bamberg eine Wohnung in Mannheim. Als er 2012 dem Ruf auf die W3-Professur für Methoden der empirischen Sozialforschung an die Universität Kassel folgte, gab er die Mannheimer Zweitwohnung nicht auf. In Kassel wählte Volker Stocké bewusst eine Wohngegend, in der Die Grünen regelmäßig herausragende Wahlergebnisse erzielten. Vielleicht lässt sich dieser fortdauernde Bezug zu Den Grünen als frame bezeichnen, unter dem alle folgenden Entscheidungen getroffen und beurteilt wurden? Man kann ihn auf alle Fälle als lebenslanges commitment betrachten, weil er seine Mitgliedschaft bei Den Grünen bis zu seinem Tode nie aufgelöst hat. Er verfolgte das politische Tagesgeschehen immer sehr aufmerksam und konnte sowohl sehr sachlich als auch zutiefst berührt auf Ereignisse reagieren. Volker Stocké war nicht nur ein hervorragender Denker des Rational Choice, sondern auch ein leidenschaftlicher Citoyen.

An der Universität Kassel setzte sich Volker Stocké konsequent für die Stärkung und den Ausbau empirischer Forschungsmethoden ein. Zum einen war er Gründungsmitglied und geschäftsführender Direktor des Kompetenzzentrums für empirische Forschungsmethoden. In dieser Funktion hat er jedes Semester die wöchentlich stattfindende Vortragsreihe zu empirischen Forschungsmethoden mit nationalen und internationalen Vortragenden durchgeführt. Außerdem hat Volker Stocké die ›Kassel Summer School for Quantitative and Qualitative Research Methods‹ initiiert und seit 2013 in jedem zweiten Jahr veranstaltet. Zum anderen war er Direktoriumsmitglied des ›International Centre for Higher Education Research‹ (INCHER-Kassel) und hat sich vielfältig und sehr engagiert in die Beantragung von empirischen Forschungsprojekten eingebracht. Volker Stocké hat zunächst mit Kollegen und Kolleginnen des INCHER-Kassel das BMBF-Projekt ›BUKSS – Bestimmungsfaktoren sozialer Ungleichheit und Konsequenzen des Studienabbruchs und Studiengangwechsels‹ erfolgreich eingeworben. Es untersucht auf der Grundlage von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) die Ursachen von sozialen Disparitäten beim Studienabbruch und Studiengangwechsel sowie die Folgen für den weiteren Studienverlauf. Außerdem hat er jüngst das interdisziplinäre Graduiertenprogramm ›Elitereproduktion im Wandel?‹ mit Professoren und Professorinnen am INCHER-Kassel aufgebaut. Als übergreifendes Forschungsthema werden sich die Graduierten mit individuellen Zugangschancen zu Elitepositionen durch Hochschulbildung befassen. Darüber hinaus hatte Volker Stocké aktuell geplant, einen DFG-Projektantrag mit der Aufforderung zur Revision zu überarbeiten, der sich dem Thema ›Ungleichheit von Bildungsaspirationen nach sozialer Herkunft und Migrationshintergrund‹ widmete.

2006 war Volker Stocké Mitglied im Gründungskonsortium des Nationalen Bildungspanels und bis zu seinem Tode am NEPS aktiv. Des Weiteren hat er sich seit 2011 im Nutzerbeirat von GESIS für die Interessen seiner empirisch forschenden Kollegen und Kolleginnen eingesetzt. Noch in diesem Jahr hat er an der Gründungsveranstaltung der Akademie für Soziologie in Mannheim teilgenommen. Schließlich war Volker Stocké sowohl in der Fachgruppe Soziologie am Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften als auch über den Fachbereich hinaus an der Universität Kassel ein überaus geschätzter und beliebter Kollege. In seinen Veröffentlichungen hat er sich mit Grundlagenfragen rationalen Verhaltens, der sozialen Ungleichheit im Bildungsbereich und der Qualität von Umfragedaten befasst. Zukünftig wollte er sich mit der so genannten ›Replicability Crisis‹ beschäftigen, also dem Umstand, dass viele Forschungsergebnisse in den Sozialwissenschaften nicht oder nur beschränkt repliziert werden können. Bei Replikationen werden Ergebnisse überprüft, indem identische Forschungsfragen mit den gleichen Daten und Auswertungsverfahren beantwortet werden, ohne dass die vorliegenden Ergebnisse bereits bekannt sind. Zu dem Zweck hatte er im RC 33 ›Research Committee on Logic and Methodology in Sociology‹ des ISA Weltkongresses 2018 in Toronto eine Veranstaltung zum Thema ›The Replicability Crisis in the Social Sciences: Extent, Reasons and Consequences‹ angemeldet.

Obwohl Volker Stocké ursprünglich Mannheim als sein eigentliches Zuhause bezeichnete, hat sich gerade in letzter Zeit diese Sicht zugunsten von Kassel verschoben. Er war hier immer mehr angekommen und fühlte sich an der Universität und der Stadt Kassel heimisch. Vielleicht hätte er sogar noch seine Zweiwohnung in Mannheim aufgegeben. Am 22. August ist Volker Stocké plötzlich und unerwartet auf einem Transatlantikflug von Panama nach Frankfurt verstorben.