Aus der Soziologie

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Über Jahrzehnte hinweg hat Peter L. Berger als Theoretiker einer durch Pluralisierung gekennzeichneten Moderne, als Beobachter der Religionen in einer durch Säkularisierung gewandelten Welt und als Analytiker kultureller Anteile wirtschaftlicher Entwicklung den wissenschaftlichen Diskurs und öffentliche Debatten in Amerika und weit darüber hinaus mitbestimmt. Gerade erst begonnen hatte hierzulande die Rezeption seiner im Alter von 85 Jahren in ›Many Altars of Modernity‹ (2014) formulierten Thesen multipler Pluralismen und der Gleichzeitigkeit von Säkularität und Religiosität, die er als neues Paradigma verstanden wissen wollte.

Für die Soziologie am folgenreichsten war die Zusammenarbeit Peter L. Bergers mit Thomas Luckmann (1927-2016), aus der das eine Allgemeine Theorie begründende Werk The Social Construction of Reality (1966) hervorging. Heute ein soziologischer Klassiker war es nicht nur für die Wissenssoziologie richtungsweisend, sondern fordert den soziologischen Diskurs schlechthin bis heute heraus. Denn in dieser phänomenologische und anthropologische Zugänge integrierenden Perspektive geraten anders als in je verabsolutierenden Konstruktivismen, Relativismen, Materialismen, Realismen und Soziologismen auch die Grenzen – Grenzen menschlicher Handlungen und sozialer Konstruktionen, Grenzen des Wissens und der Sozialwelt und nicht zuletzt auch Grenzen der Soziologie – in den Blick.

Diese Soziologie als Disziplin, der er schon früh Methodenfetischierung und Ideologisierung angelastet hatte, war Peter L. Berger über die Jahre hin fremd geworden. Dabei hatte er, vor allem in seinem Frühwerk,  das Fach mit vielgelesenen Einführungsbüchern bereichert – allen voran mit der im Deutschen lange vergriffenen Invitation to Sociology (1963), deren Neuausgabe im UVK in Kürze schon wieder in der zweiten Auflage erscheinen wird, aber auch im gemeinsam mit seiner Frau Brigitte verfassten Lehrbuch Sociology – A Biographical Approach (1972) sowie in der zusammen mit seinem Schwager Hansfried Kellner publizierten Abhandlung Sociology revisted (1981). Modernisierungstheoretischer Ertrag der Kooperation von Berger, Berger und Kellner war bekanntlich The Homeless Mind. Modernization and Consciousness (1974).

Diese drei am engsten mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Weggefährten sind noch vor Peter L. Berger gestorben: die Bostoner Universitätsprofessorin Brigitte Berger, geb. Kellner, am 28. Mai 2015 (vgl. Obituary Peter L. Berger), Thomas Luckmann, Professor an der Universität Konstanz, am 10. Mai 2016 (vgl. Nachruf von Hans-Georg Soeffner) und der Frankfurter Universitätsprofessor Hansfried Kellner nur wenige Tage vor ihm am 24. Juni 2017 (vgl. Nachruf Joachim Renn).

Schreiben war seine Berufung: Neben den genannten hat Peter L. Berger zahlreiche weitere Bücher verfasst, die zu Bestsellern und in viele Sprachen übersetzt wurden. Auch war er Herausgeber einer Vielzahl von Sammelbänden wie Many Globalizations (2003) mit Samuel P. Huntington und Verfasser kaum überschaubar vieler Aufsätze in Fachjournalen und Magazinen. In den letzten Jahren war er Autor eines aktuelle politische Vorkommnisse beleuchtenden Blogs, dessen letzter Beitrag wenige Wochen vor seinem Tod erschienen ist. In jungen Jahren hat er mit The Enclaves (1965) und Protocol of a Damnation (1975) zwei Romane verfasst, dessen erster noch unter Pseudonym erschienen ist. Noch vor dem Erscheinen des gemeinsam mit Anton Zijderveld verfassten In Praise of Doubt (2009), dessen Titel auf die Schrift ›In Praise of Folly‹ des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam anspielt, entwickelte er die Idee für die akademische Autobiographie Adventures of an Accidental Sociologist (2011), in der er selbst die Genese seines wissenschaftlichen Denkens rekonstruiert. Kurz: Sozusagen grundsätzlich war er nach Beendigung des einen Buches ruhelos, bis der Entwurf für das nächste Gestalt annahm.

In den drei Jahre zuvor erschienenen Memoiren Im Morgenlicht der Erinnerung(2008) schildert Peter L. Berger eine als überwiegend glücklich erfahrene Kindheit und Jugend und interpretiert sie infolge der vielfältigen Wahlmöglichkeiten, die sich in seiner Biographie offenbaren, als Fallstudie der Situation des modernen Menschen. Mit Erstaunen und zunehmend misstrauisch nahm er das Medienecho zur Kenntnis, das das Erscheinen dieser Erinnerungsschrift, das von ihm gänzlich ungeplant mit dem 70. Jahrestag des ›Anschlusses‹ zusammenfiel, in Österreich begleitet hat. In allen Interviews hat er sich ausdrücklich dagegen verwahrt, zu einem Opfer des Nationalsozialismus stilisiert zu werden.  Darin kommt ein Wesenszug Bergers zum Vorschein: wie dem Protagonisten in Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ war ihm jegliche Subsumption unter eine Kollektivkategorie – sei es Opfer des Nationalsozialismus, jüdischer Emigrant, gläubiger Christ oder konservativer Intellektueller – suspekt. Kollektivismen erachtete er wie alle Ismen als billige Lösungen für das Problem der Irritation aller Ordnungssysteme der modernen Welt ebenso wie für das der Identität des Menschen in der Modernität. Wie für Musil bietet auch für Berger die Verschmelzung der Ichs in einer ›erträumten Einigkeit‹ eines Kollektivzugehörigkeit nur illusorischen Trost.

Österreich, das ihm 2016 das Große Silberne Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik verliehen hat, war er trotz der erzwungenen Auswanderung über Palästina in die Vereinigten Staaten, in denen er eine Heimat fand hat, eng verbunden. Die Jahre in Palästina präsentierten sich ihm im Rückblick vor allem als eine Zeit der religiösen Identitätssuche, die mit der Ankunft in seinem ›gelobten Land‹ Amerika ihren Abschluss gefunden hat. Der Zeit seines Lebens von der Habsburg-Monarchie faszinierte gebürtige Wiener jüdischer Abstammung  erarbeitete sich im Selbststudium theologischer und philosophischer Schriften aus der Bibliothek der deutschen lutherischen Kirche in Haifa ebenso eine profunde theologische Bildung wie einen überzeugten lutheranischen Protestantismus. Bei seiner Ankunft in New York ist Peter L. Berger denn auch zum Theologiestudium entschlossen, um seinen als Berufung erfahrenen Wunsch, evangelischer Pfarrer zu werden, zu realisieren. Zweckdienlicher dafür, mit dem amerikanischen Gesellschaftssystem vertraut zu werden, erscheint ihm zunächst jedoch das Soziologiestudium.

Seine Entscheidung für die New School for Social Scienes, damals der einzigen Universität in New York, an der er, dazu gezwungen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, abends studieren konnte, sollte sich als richtungsweisend erweisen: Hier, an der 1934 gegründeten ›European University in Exile‹, die später in Graduate Faculty of Social and Political Studies umbenannt wurde, kam Berger mit der europäischen Tradition der Geistes- und Sozialwissenschaften in Berührung, die ihn für die Soziologie einnahm.

Die Einberufung zum Militärdienst verhinderte seine Mitarbeit an einem von Carl Meyer geleiteten Forschungsprojekt über die Religion im Nachkriegsdeutschland – eine Tätigkeit, die dann sein Freund Thomas Luckmann übernahm, den er in einem Seminar bei Karl Löwith kennen gelernt hatte. Im Rahmen einer Anstellung als Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Bad Boll befasste Berger sich dann zwei Jahre später zwar doch mit Religion und Kirche in Deutschland. Schnell zog es ihn aber an die amerikanische Universität zurück: Nach intensiven Lehrjahren am Women›s College der University of North Carolina (1956-58) und am Hartford Theological Seminary (1958-63) wurde Berger 1963 an die New School for Social Research berufen. Damit gingen gleich zwei Wünsche in Erfüllung: Er unterrichtete fortan an einer soziologischen Fakultät und er traf zumindest in der Anfangszeit auf jenes anregende intellektuelle Klima, für das die Graduate School for Social and Political Sciences während und nach dem Zweiten Weltkrieg berühmt geworden war.

Angeregt durch leidenschaftliche Debatten in Seminaren intensivierte sich Peter L. Bergers soziologische Publikationstätigkeit. Thomas Luckmann, Hansfried Kellner, Stanley Pullberg und Maurice Nathanson bildeten mit ihm zusammen jene Diskussionsrunde, in der die Konzeption von The Social Construction of Realityentwickelt wurde. Aber auch in dieser Zeit riss Bergers Interesse an religionssoziologischen und theologischen Fragen nicht ab: neben zahlreichen Artikeln und Aufsätzen in Fachjournalen und Publikumszeitschriften erschienen mit großen Auflagen und stark rezipiert die Bücher The Sacred Canopy (1967) und A Rumor of Angels (1969).

Für seine Wahrnehmung innerhalb der US-amerikanischen Soziologie war aber auch seine politische Haltung relevant: Ende der 1960er Jahre protestierte der die amerikanische Kriegsführung aus humanistischen Gründen ablehnende Berger gegen die Indochina-Politik der USA und wurde als Berater im gegen den Vietnam-Krieg opponierenden Lenkungsausschuss der Clergy and Laymen Concerned about Vietnam tätig. Mit der Befürchtung, dass Lateinamerika zu einem weiteren Standort für vergleichbare amerikanische Interventionen avancieren könnte, wuchs Bergers Interesse für Entwicklungsprobleme der Dritten Welt. Mit dem Wechsel an die Rutgers University in New Jersey (1971-79) wurde dann Modernisierung und die Auseinandersetzung mit Marxismus, Sozialismus und Kapitalismus als Rahmen wirtschaftlicher Entwicklung für ihn zum bestimmenden Thema. Ein Schlüsselerlebnis hierfür war die Begegnung mit Ivan Illich in Mexiko: in der Auseinandersetzung mit dessen entschiedener Modernisierungskritik reifte Bergers Befürwortung von Marktwirtschaft und Demokratie als Fortschrittstreiber. Seine Weigerung, sich im Zuge der Fehlinterpretation der Social Construction als theoretische Anleitung zur Revolution für die linke Protestbewegung vereinnahmen zu lassen, und die Initiierung des Hartford Appeal for Theological Affirmation, in der die achtzehn prominenten christlich-intellektuellen Unterzeichner eine Reihe von von ihnen als säkular gewerteten Auffassungen im zeitgenössischen Protestantismus problematisieren, verfestigten Bergers Image eines Konservativen in den 1970er Jahren.

Der zweite Höhepunkt seiner akademischen Karriere begann mit der Berufung Bergers 1981 an die Boston University. Mit der Gründung des Institute for the Study of Economic Culture (ISEC) 1985 gelang es ihm, seine Vorstellung eines intellektuellen Unternehmertums im universitären Kontext zu realisieren. Mit The Capitalist Revolution: fifty propositions about prosperity, equality and liberty(1986) schrieb er gewissermaßen die Programmatik des jungen Instituts. Die hierin entwickelte ›neo-weberianische‹ Frage nach dem Verhältnis von Kultur und ökonomischer Entwicklung schließt politische Konsequenzen insofern ein, als Berger Demokratisierungstendenzen für eine wahrscheinliche Folge erhöhter Prosperität, d.h. wirtschaftlichen also als politischem ‚Fortschritt‹ vorausgehend, erachtete. Während sich die ersten Projekte den Auswirkungen je dominierender religiöser Bewegungen in bestimmten Regionen der Welt (Pentekostalismus in Lateinamerika und Afrika, (Neo-)Konfuzianismus in Asien) widmeten, weitet sich die Themenstellung mit der Gründung des Institute on Culture, Religion and World Affairs (CURA) auf die ›Wahlverwandtschaft‹ soziokulturellen Wandels und wirtschaftlicher Entwicklung in verschiedenen Weltregionen aus. Das 2000 mit einer Spende des Pew Charitable Trusts in Höhe von 2,5 Millionen US Dollar finanzierte Institut wurde 2003 mit dem ISEC zusammengelegt und bis 2009 von Berger geleitet.

Peter L. Bergers enorme, in über 50 Jahren kaum je nachlassende Produktivität ist nicht nur auf sein unbestreitbares Talent zum Schreiben zurückzuführen. Sie erklärt sich vielmehr aus dem doppelten Antrieb, Phänomene wertfrei beschreiben und auf ihre ethischen Implikationen hin durchdringen zu wollen. Die Wissenssoziologie bildet gleichsam das Gegengewicht zu seinen letztlich religiös motivierten moralischen Überzeugungen.  Als Schlüssel – vielleicht zu seinem Gesamtwerk, jedenfalls aber zum Verständnis seiner Person und seiner Persönlichkeit – lese ich Redeeming LaughterThe comic dimension in human experience (1997). Denn wer das Vergnügen hatte, Peter L. Berger persönlich kennenzulernen, wurde nicht nur Zeuge einer überaus humorvollen Intellektualität, sondern konnte auch einen ebenso leidenschaftlichen Witze-Sammler wie unermüdlichen Witze-Erzähler erleben: Komik ist ihm zufolge eine anthropologische Konstante, deren Wesen im Versprechen von Erlösung besteht. Religiöser Glaube, aus dem er persönlich nie einen Hehl gemacht hat, ist die in pluralisierten Zeiten immer schwerer erlangbare Gewissheit oder zumindest Hoffnung, dass dieses Versprechen eingelöst wird. Peter L. Berger ist am 27. Juni 2017 im Alter von 88 Jahren gestorben.  Unser Fach hat mit ihm den weltweit bekanntesten Wissens- und Religionssoziologen verloren.

Michaela Pfadenhauer (Wien, 3. Juli 2017)