Aus der Soziologie

›Systemrelevant: Migration als Stütze und Herausforderung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland‹

SVR - Jahresgutachten 2022

In seinem diesjährigen Jahresgutachten geht der SVR von dem Befund aus, dass Zugewanderte und ihre Nachkommen einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem leisten. Er analysiert, wie sich der Zugang für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als Leistungstragende und Leistungsempfangende gestaltet. Auf dieser Basis gibt der SVR unter anderem Empfehlungen zur Rekrutierung neuen Fachpersonals und einer diversitätssensiblen Gestaltung der Gesundheitsversorgung.

Zentrale Ergebnisse und Empfehlungen lauten:

  • Fachkräfte mit Zuwanderungsgeschichte leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesundheitsversorgung. Von den über vier Millionen Erwerbstätigen in Gesundheits- und Pflegeberufen hatte im Jahr 2019 fast ein Viertel einen Migrationshintergrund. Dazu gehören zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte. Rund vier von fünf aller Erwerbstätigen in diesen Berufen sind Frauen.
  • Eine erfolgreiche Anwerbung ausländischer Fachkräfte hängt maßgeblich von der praktischen Umsetzung der Verfahren zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen ab. Die Länder sollten diese beschleunigen und vereinfachen sowie die Angebote zur Nachqualifizierung ausbauen. Die beteiligten Behörden – darunter deutsche Konsulate im Ausland, Ausländer- und Anerkennungsbehörden sowie die Bundesagentur für Arbeit – sollten stärker verzahnt werden.
  • Neben der Rekrutierung von bereits ausgebildeten Gesundheits- und Pflegefachkräften empfiehlt der SVR, die Zuwanderung in die Ausbildung stärker zu fördern. Mit einer Ausbildung in Deutschland entfallen langwierige Anerkennungsverfahren, Spracherwerb und soziale Integration werden erleichtert, Transferprobleme können vermieden werden. Auch bereits in Deutschland lebende Personen sollten für eine Ausbildung gewonnen werden.
  • Damit aus dem Ausland angeworbene Fachkräfte auch längerfristig in Deutschland bleiben wollen, müssen sie vor allem in der Einarbeitungsphase bei der betrieblichen und sozialen Integration unterstützt werden; der Erwerb berufsbezogener Sprachkenntnisse muss gefördert werden.
  • Eine verstärkte Anwerbung und Ausbildung alleine wird den Fachkräftemangel nicht beheben. Es gilt, auch die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und besonders in der Pflege grundlegend zu verbessern.
  • Um die Anwerbung von ausländischen Gesundheitsfachkräften fair und transparent zu gestalten, sollte nur dort aktiv rekrutiert werden, wo es ein Überangebot gibt. Dies kann im Rahmen von bilateralen Vereinbarungen erfolgen. Besonders befürwortet der SVR Ausbildungspartnerschaften, die den Kapazitätsaufbau auch im Herkunftsland fördern.
  • Die gesundheitliche Lage eines Menschen wird neben biologischen und ökologischen Faktoren maßgeblich von der Schichtzugehörigkeit, dem Bildungsstand, den Arbeitsbedingungen und den Wohnverhältnissen bestimmt und nicht primär von der ethnischen Herkunft. Eine Migrationsgeschichte kann allerdings ein Faktor für ungleiche Gesundheitschancen sein, z. B. durch eine häufiger vorkommende ungünstige sozioökonomische Lage, Sprachbarrieren oder Diskriminierung.
  • Der rechtliche Zugang zu Gesundheitsleistungen ist für Zugewanderte grundsätzlich gut. Versorgungslücken ergeben sich für einzelne Gruppen, darunter Asylsuchende in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts, sowie Personen, die die erforderliche Bürokratie nicht allein bewältigen können. Niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangebote wie etwa Clearingstellen könnten einen wichtigen Grundstein für ein diversitätssensibles Gesundheitssystem legen. Auch irregulär aufhältigen Migrantinnen und Migranten stehen Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu. In der Praxis nutzen sie diese aber oft nicht, da sie eine Ausweisung befürchten. Der Gesetzgeber könnte durch eine Änderung von § 87 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz klarstellen, dass der Gesundheitsbereich auch jenseits medizinischer Notfälle von der Übermittlungspflicht gegenüber Ausländerbehörden ausgenommen ist.
  • Um die gesundheitliche Chancengleichheit von Menschen mit Migrationshintergrund zu stärken, müssen vor allem die gesundheitlichen Regeldienste diversitätssensibel ausgerichtet werden, so dass sie besser auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen können. Davon profitieren alle Menschen. Der SVR empfiehlt deshalb eine verstärkte Förderung von Evaluationsstudien, die die Wirksamkeit, Anforderungen und Herausforderungen von Ansätzen diversitätssensibler Versorgung im stationären und ambulanten Bereich erproben.