Sehr geehrte Frau Ministerin Stark-Watzinger,
Wir, die sozialwissenschaftlichen Fachverbände DVPW, DGS, DGSKA, DGEKW und DGPuK wenden uns mit einer gemeinsamen Stellungnahme und einer damit einhergehenden Bitte an Sie und Ihr Ministerium.
Im Koalitionsvertrag werden unter dem Abschnitt ›Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung‹ die Grundzüge für die Wissenschaftspolitik der Legislaturperiode umrissen. Ein besonderes Augenmerk legt die Koalition auf Innovationen und Transfer für den wirtschaftlichen Fortschritt. Wir, die Fachvertretungen der Sozialwissenschaften in Deutschland, nehmen mit Sorge zur Kenntnis, dass hierbei eine primär an der Wirtschaft orientierte Verwertungslogik zugrunde gelegt wird. Schlagworte wie ›Anwendung‹ oder ›Transfer‹ finden sich nicht nur im Zusammenhang mit der Stärkung des ›Wirtschaftsstandorts Deutschlands‹ im Koalitionsvertrag, diese werden zudem in engen Zusammenhang mit Forschungs- und Förderungsbedarfen gesetzt. Der Koalitionsvertrag liest sich so, als ob sich Wissenschaftspolitik an ökonomischer Verwertung orientieren solle. Dies hielten wir für falsch und unangemessen. Auch greift eine Wissenschaftspolitik, die einen wesentlichen Teil des Spektrums der Wissenschaften ignoriert, leider zu kurz und schöpft vorhandenes Potenzial nicht aus.
Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich aus verschiedensten Perspektiven mit Gesellschaften und Gesellschaftsordnungen, z.B. mit deren historischem Wandel und Transformationsdynamiken, mit Formen des Zusammenlebens von Menschen, mit Ungleichheiten und Konflikten, mit Deutungsmustern oder politischen Bewegungen, auch im globalen Kontext, mit Öffentlichkeit und Kommunikation. Die Sozialwissenschaften sind nicht primär auf eine wirtschaftliche Verwertung von Erkenntnissen ausgerichtet – wären sie dies, könnten sie ihre Forschungsarbeit nicht redlich erledigen. Unsere Forschungs- und Lehraktivitäten dienen dazu, Muster gesellschaftlicher Dynamiken über Raum und Zeit hinweg zu identifizieren, gegebenenfalls kritisch zu beleuchten und zu erklären, um Erkenntnisse über gesellschaftlichen Zusammenhalt, Legitimitätsvorstellungen oder Akzeptanz von Innovationen zu erhalten. Diese Einsichten kommen der Demokratie in gesellschaftsbildender und -fördernder Weise zu Gute. Sozialwissenschaften dienen wesentlich der Selbstaufklärung von Gesellschaft, sie liefern Evidenzen und Analysen zum Stand gesellschaftlicher Dynamiken und Herausforderungen in historischer, gegenwärtiger, kultureller, ökonomischer, rechtlicher und politischer Hinsicht. Dies ist angesichts jüngerer Entwicklungen in Europa und darüber hinaus essentiell, etwa wenn Populismus und Proteste gegen die Corona-Maßnahmen oder Desinformation und Propaganda den gesellschaftlichen Zusammenhalt in neuer Weise herausfordern. Unsere Disziplinen bieten zentrale Erkenntnisse zu solchen komplexen Dynamiken. Ohne sozialwissenschaftliche Forschung kann wissenschaftsorientierte Politik nicht angemessen auf gegenwärtige Herausforderungen reagieren, z.B. in Bezug auf Klima und Ökologie, in Fragen sozialer Gerechtigkeit und Integration oder im Umgang mit Gewalt, Krieg und Konflikt.
Wir bitten Sie und Ihr Ministerium daher, die Wissenschaftspolitik der kürzlich begonnenen Legislaturperiode breiter anzulegen, als der Koalitionsvertrag vermuten lässt. Die sozialwissenschaftliche Forschung spielt eine essentielle Rolle für den Erhalt und die Gestaltung der Demokratie sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens auch im globalen Kontext. Sie sollte als solche entsprechende Förderung erfahren. Wir stehen für entsprechende Ansatzpunkte und Initiativen immer zur Verfügung und würden uns über einen Austausch mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung freuen.
Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. Diana Panke, Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW)
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
Prof. Dr. Martin Sökefeld, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA)
Prof. Dr. Markus Tauschek, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW)
Prof. Dr. Klaus Meier, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK)