Meldungen des Vorstands

Gesellschaft unter Spannung

Themenpapier zum 40. DGS-Kongress vom 14. bis 18. September 2020 in Berlin

Der 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020 in Berlin ›Gesellschaft unter Spannung‹ will derzeitige gesellschaftliche Span­nun­gen, Diagnosen ihrer Um_Ordnung und die damit verbundenen An­for­de­rungen an die Soziologie als Wissenschaft der Gesellschaft in den Mit­tel­punkt stellen.

Spannungen

Gesellschaftliche Spannungen haben sich national, regional und global in den letzten Jahren deutlich verschärft – und sie sind sehr viel stärker in das All­tagsbewusstsein auch hierzulande gerückt. Dies gilt etwa für die wach­sen­de Kluft zwischen Arm und Reich und ihre Folgen, zwischen po­li­ti­schen La­­gern und Ideologien, zwischen Religionen und kulturellen For­men, zwi­schen (wieder) erstarkenden Nationen, Regionen und trans­na­tio­nalen Or­ga­ni­sationen, zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Stadt und Land, zwi­schen Generationen und nicht zuletzt zwischen den Ge­schlech­tern. Auch der globale, gesellschaftlich verursachte Klimawandel, der demo­graphische Wan­del, Migrationsbewegungen, ein globalisierter und ent­grenz­ter Kapi­ta­lis­mus und die damit einhergehenden Veränderungen der Struk­turen so­zia­ler Ungleichheiten tragen zu einer Gesellschaft unter Span­nung bei. Diese Span­nungen können problematisch und existenziell sein – etwa in Bezug auf Un­gleichheit, Exklusion oder Gewalt –, sie können aber auch als neue Dyna­mi­ken die Entwicklungen komplexer Gesellschaften an­trei­ben, in denen Span­nungen Teil von Freiheits- und Reflexions­gewinnen sind. Gesell­schaf­ten ohne Spannungen sind schlechterdings nicht vor­stell­bar. Ihre gegen­wär­tige Verschärfung und auch die sich wandelnden Fähig­kei­ten, mit Span­nun­gen umzugehen – das zeichnet unsere gegenwärtige Ge­sell­schaft aus und be­darf genauer soziologischer Beobachtung.

Diese Spannungen sind nicht lokal begrenzt, sondern sind, wie uns scheint, mit bestimmten großflächigen Entwicklungen verbunden. Auf der einen Seite haben wir es aktuell mit komplexen und keineswegs unilinearen Pro­­zessen der Globalisierung, der Transnationalisierung sowie der Ent­gren­zung von Strukturen, Identitäten und Gemeinschaften zu tun, die bisherige Selbst­­verständlichkeiten in Frage stellen und neue Beschreibungen von Ge­sell­schaft erfordern. Auf der anderen Seite haben diese Ausweitungen und Ent­sicherungen zu neuen Dynamiken geführt, die darauf mit Schlie­ßun­gen re­agieren und Grenzen, rigide Strukturen oder feste Identitäten betonen und neu formieren: Der ›ökonomische Nationalismus‹, die Re-Nationalisierung von Macht und Grenzen nicht nur in Europa, die neuen Autokratien, die Be­­­tonung lokaler, regionaler und nationaler Gemeinschaften und das Er­star­ken von Diskursen gegen geschlechtliche und sexuelle Gleichstellung sind nur einige Beispiele, die den Ausweitungen, Entgrenzungen und Öff­nun­gen ge­­sellschaftlicher Ordnungen mit Schließungen, Abgrenzungen und Aus­gren­­­zungen begegnen wollen. Aber auch neue Formen transnationaler Soli­daritäten sowie komplexere Diskurse und Handlungsformen etwa im digi­ta­len Aktivismus (zum Beispiel #MeToo oder #MeTwo), das Aufbegehren jun­ger Menschen gegen eine als nicht ausreichend zukunftsbezogene Politik, die weltweiten Ökologiebewegungen oder das zivilgesellschaftliche En­gage­ment für Migrations- und Integrationsfragen sowie gegen Rassismus sind Teil der Dynamiken im Kontext intensivierter Spannungen.

Diese disparaten Entwicklungen bilden den Hintergrund für viel­schich­ti­ge soziale Auseinandersetzungen in allen Dimensionen der Gesellschaft: Wie plural, wie integriert, wie konfliktfähig, wie (un)gleich und wie medial ver­­­mittelt kann, will, soll Gesellschaft sein, um mit Spannungen möglichst ge­­waltfrei umzugehen? Wie bringen die öffentlichen Diskurse etwa um Pa­ral­­lelgesellschaften weltanschaulich begründete Divergenzen zum Aus­druck, wie werden solche Spannungen im Modus der Medien, der Sprache und des Um­gangs miteinander verhandelt? Ermöglichen neue Partizi­pa­tions­formen mehr Inklusion und Egalisierung? Oder befördern sie, im Ge­gen­teil, eher die identitätslogische Zersplitterung? Wie geht Gesellschaft, wie gehen Men­schen, Organisationen, Medien usw. mit Prekarisierung und wach­senden Stadt-Land-Gegensätzen oder den zunehmenden Möglich­kei­ten für Dif­fe­renz­erfahrungen um, die in ganz unterschiedlicher Weise ver­ar­beitet werden kön­nen?

Die gesellschaftlichen Spannungen, die spannenden Dynamiken und die gar potenziell fruchtbare Unordnung werden noch einmal von einer alle Ge­sell­schaftsbereiche durchdringenden Digitalisierung und von der damit ver­bun­denen Mediatisierung kommunikativen Handelns, der Re-Figuration ge­sell­­schaftlicher Räume und der Beschleunigung sozialer Prozesse ver­stärkt. Die Digitalisierung verändert nicht nur das System der Medien­kom­mu­ni­ka­tion, sondern betrifft alle Formen der Arbeit und damit die gesamte Wirt­schaft, die Öffentlichkeit und die Politik ebenso wie die sozialen Bezie­hun­gen, die religiöse Kommunikation, die Kunst und, nicht zuletzt, auch die Wis­­senschaft. Digitalisierung führt zu neuen Formen der Mediatisierung mensch­­licher Kommunikation und wirft deswegen ganz grundlegende Fra­gen nach den Grenzen und Ausweitungen der Sozialwelt auf: Wie ändern sich soziale Beziehungen durch Digitalisierung, welche Rolle spielen künst­li­che Intelligenzen in menschlichen Handlungszusammenhängen und wel­che Folgen haben digitalisierte Datenbestände, hat ›Big Data‹ für die Aus­übung von Macht und sozialer Kontrolle?

Gerade in Berlin, dem Veranstaltungsort des Kongresses, prägt gesell­schaft­liche Spannung schon historisch diese ehemals geteilte Stadt. Hier ver­dichten sich auch heute die erwähnten Phänomene auf eine besonders in­ten­sive Weise, hier werden sie in ihrer Vielfalt erfahrbar und hier werden sie auch zum Gegenstand vielfältiger soziologischer Forschung. Diese fragt nach sozioökonomischen Unterschieden, Segregation oder Gentrifizierung wie auch nach den Folgen der gesellschaftlichen Transformation, die in Ber­lin auch noch 30 Jahre nach der Wende die Frage nach den Unterschieden zwi­schen Ost- und Westdeutschland aufwirft. Auch weil die Stadt nach 40 Jah­ren wieder erstmals Veranstaltungsort eines Soziologiekongresses ist, soll sie den thematischen Rahmen eines eigenen Schwerpunktes bilden.

Der 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie fragt also nach den Erscheinungsformen von Spannungen, Konflikten und Macht­käm­pfen. Der Kongress lädt dazu ein, empirische Untersuchungen, theo­re­ti­sche Überlegungen und Diagnosen vorzustellen und zu diskutieren, die Span­nungen in der Gesellschaft erfassen.

Der Kongress zielt also erstens auf die Beschreibung, Analyse und Erklärung gesell­schaft­­licher Spannungen in den unterschiedlichsten Verhältnissen, die gegenwärtige Gesell­schaf­­ten ausmachen: zwischen Gruppierungen verschiedenster Art, Kulturen und Milieus, Orga­­nisationen, Professionen und Institutionen, individuellen Akteur_innen und in In­ter­­aktionen, ihren räumlichen, zeitlichen und kommunikativen Aspekten, in Fragen von Macht und Ungleichheiten sowie der Rolle von Politik, Technik, Medien, Wissen, Spra­che, Kunst und anderen Bereichen soziologischen Forschens.

Diagnosen der Um_Ordnungen

Die Verschärfung der Spannungen, nicht zuletzt katalysiert durch die Digi­ta­lisierung, lassen vielfach den (durchaus zu überprüfenden) Eindruck ent­ste­hen, dass sich die heutige Gesellschaft in einem Umbruch, in Um_­Ord­nung befindet. Die gesellschaftliche Bearbeitung dieser Spannungen, die Ver­suche mit Spannungen umzugehen oder gar abzubauen und Kohäsion zu erzeugen, führen zu Veränderungen, neuen (auch politischen) Kon­stel­la­tio­­nen und Re-Figurationen, die den Charakter eines tiefgreifenden Wandels mit offenem Ausgang annehmen. In der Tat lassen sich die herkömmlichen Ana­lysen der ›Moderne‹ kaum mehr auf die Beschreibung der gerade gegen­wär­tigen Gesellschaft anwenden, ohne dass bedeutende Ver­än­de­run­gen un­be­­achtet bleiben. Aber auch Analysen der ›Postmoderne‹, der ›zweiten Mo­der­ne‹ oder auch der Globalisierung sind herausgefordert. Das gilt ebenso für viele andere soziologische Diagnosen, die sich als durch­aus fruchtbar für ihre Zeit erwiesen haben. Auch vor dem Hintergrund der um­fassenden Digi­ta­lisierung sollte gerade die Soziologie sich der Her­aus­forderung stellen zu fra­gen: Haben wir es mit grundlegenden Um_Ordnungen der Gesellschaft zu tun, in denen sich die sozialen Beziehungen, das Verhältnis der Einzelnen zu gemeinschaftlichen Gruppierungen und gesellschaftlichen Orga­ni­sa­tio­nen, die Suprematie des globalen Nordens, die Verhältnisse der Ge­schlech­ter, das gesellschaftliche Verhältnis zu Natur, die Produktion von Bildung und Wissen und andere Aspekte sozialer Verhältnisse, Strukturen und Dyna­mi­ken refigurieren? Welche neuen Formen, Figurationen oder Ordnungen zeich­­nen sich derzeit ab? Welche Um_Ordnungen werden als Folge der gegenwärtigen Spannungen in der Gesellschaft sichtbar? Welche Rolle spie­len welche Utopien und Dystopien in der gegenwärtigen Gesellschaft? Wie wirken sich Mediatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz auf den sozialen Wandel aus? Wie verändert sich das Verhältnis von Ge­sell­schaft und Natur?

Zugespitzt geht es dem Kongress in Berlin also zweitens um die diagnostische Frage: Auf welche Form, Art und Verfasstheit von Gesellschaft bewegen wir uns zu?

Soziologie und Gesellschaft

Soziologische Theoriebildung erfolgte seit ihren Anfängen im Lichte der und im Wissen um Spannungen und Konflikte als zentrale gesellschaftliche Dynamiken der Ordnungsbildung und des sozialen Wandels. Spannungen in der Gesellschaft bilden deshalb auch eine Möglichkeit der Reflexion über die Verfasstheit der Soziologie. Als Wissenschaft der Gesellschaft muss sich die Soziologie auch der Frage stellen, ob und in welchem Maße sie selbst von den gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen affiziert wird, sie gar mit produziert. Mit Spannungen zwischen Methodologien sowie zwischen theo­re­tischen Ansätzen sollte daher offen, kontrovers und reflexiv umgegangen wer­den, um die eigene Pluralität sinnvoll zu nutzen und autoritäre Schlie­ßun­gen oder fahrlässige Beliebigkeit zu vermeiden. Reflexionen über das Ver­­hältnis von Soziologie und Gesellschaft müssen zudem klären, welche Er­­kenntnisse die Soziologie für die gesellschaftlichen Akteure bereitstellen kann, die mit solchen Spannungen umgehen müssen, oder welchen Beitrag sie von der Soziologie erwarten, um diese Spannungen lösen zu können. Es geht hier also um die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Wis­sen­schaft, um das Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit und um den Um­gang mit dem Pluralismus und der Vielfalt der Ansätze in der Soziologie. All diese Themen müssen auch noch einmal mit den Herausforderungen der Digitalisierung gespiegelt werden, die sich immer mehr auch auf die So­zio­lo­gie und die Wissenschaft selbst auswirken (›Open Access‹, ›Open Data‹, For­schungsdateninfrastrukturen).

Der Kongress wird deswegen drittens fragen: Inwieweit kann die Soziologie mit ihren Ana­­lysen und Diagnosen den Spannungen und Um_Ordnungen in der Gesellschaft ge­recht werden – als Soziologie der Spannungsverhältnisse und als spannende Soziologie?

Schwerpunkte und Formate

(1) Der Kongress zielt durch besonders zentrale Veranstaltungen auf die großflächigen Spannungen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit Blick auf The­men wie etwa Globalisierung, Imperien und Re-Nationalisierung, Eliten und Exklusionen, Demokratisierung und Populismus, Klimawandel und Re­si­lienz sowie Digitalisierung stellt sich die Frage: Welche offenen oder la­ten­ten Konfliktlinien prägen die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung und for­dern sie gleichzeitig heraus? Was sind ihre Ursachen und welche Kraft zur Veränderung ist ihnen inhärent? Diese Fragen der soziologischen Grund­­lagenforschung bilden den Schwerpunkt der Plenen. Wir laden die Sek­tionen ebenso ein, zu diesen Themen in ihren Sektionsveranstaltungen Stellung zu beziehen.

Forum Berlin: Der besonderen Situation in Berlin soll durch einen eigenen Schwerpunkt innerhalb des ersten Themenfeldes ›gesellschaftliche Span­nun­­gen‹ begegnet werden. Dazu gehören Themen wie: Wem gehört die Stadt? Stadt und Land – Refigurationen im Spannungsverhältnis sozialer Räume. Pre­karisierung und Gentrifizierung. Parallelgesellschaften oder Mul­ti­kul­tu­ralität? Zivilgesellschaft oder Totalität, Unordnung und Krea­ti­vi­tät.

Dieses Themenfeld, das sich keineswegs ausschließlich auf Berlin be­schrän­ken muss, kann durch Ad-hoc-Gruppen im Rahmen des Kongresses be­handelt werden. Mit einem speziellen ›Call for Curation‹ laden wir über­dies dazu ein, für den Kongress ungewöhnliche und unübliche Ver­an­stal­tun­­gen durchaus auch mit städtischen und anderen externen Akteuren zu die­sem Schwerpunkt anzubieten, die auch außerhalb des Kongresses an ver­schie­denen Orten in der städtischen Öffentlichkeit durchgeführt werden kön­nen.

(2) Daneben bildet die diagnostische Frage nach den sich abzeichnenden Refi­gurationen einen zweiten Schwerpunkt des Kongresses in Berlin: Wel­che Tendenzen der Um_Ordnung über die verschiedensten gesell­schaft­li­chen Bereiche hinweg lassen sich beobachten? Auf welche Weise betreffen diese Um_Ordnungen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, insti­tu­t­­ionellen Felder und andere sozialen Räume? Es geht hier vor allem um Beschreibung, Deutung, Erklärung und Prognose der zentralen gegen­wär­ti­gen gesellschaftlichen Dynamiken. Die Soziologie kann ihr diagnostisches Po­tenzial unter Beweis stellen, das auch für das Selbstverständnis der Ge­sell­schaft von Relevanz ist.

Als Formate hierfür dienen neben Sektions- auch Ad-hoc-Veran­stal­tun­gen sowie Plenen.

(3) Im dritten Schwerpunkt des Kongresses geht es zum einen um das Ver­hält­nis von Soziologie und Gesellschaft bzw. um Soziologie in der Öffent­lich­keit und den Beitrag, den die Soziologie für den Umgang mit Span­nun­gen und Um_Ordnungen leisten kann. Zum anderen geht es um die Frage, inwieweit die Soziologie selbst von den Spannungen und Um_Ordnungen affiziert ist und wie sie als multiparadigmatische Wissenschaft metho­do­lo­gisch und theoretisch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen und tech­­nischen Veränderungen umgeht.

Um die genannten Debatten zu intensivieren, möchten wir Vertreter_innen verschiedener theoretischer und methodologischer Ansätze der Soziologie mit­einander ins Gespräch bringen. Dies kann im Rahmen von Plenen, Sek­tions­veranstaltungen oder Ad-hoc-Gruppen geschehen.

Neben diesen Veranstaltungsformaten und den Mittagsvorträgen inter­natio­naler Forscher_innen werden sich abendliche Sonderveranstaltungen auf eine Weise den Themen des Kongresses widmen, die auch eine breitere Öf­fentlichkeit ansprechen soll.

Der Kongress findet an der Technischen Universität Berlin statt, wird aber in Kooperation mit den Soziologieinstituten aller Berliner Hochschulen (unter anderem Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) durchgeführt. Der Geschichte, der Größe und der Vielfalt der Soziologie in Berlin wird auch durch die enge Ver­­net­zung mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen (unter ande­rem Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozialforschung WZB und Berlin-Bran­denburgische Akademie der Wissenschaften) Rechnung getragen.