(19. August 1939 – 4. Januar 2018)
Unerwartet und nach kurzer schwerer Krankheit ist Martin Baethge, Professor für Soziologie an der Universität Göttingen, Anfang dieses Jahres im Alter von 78 Jahren verstorben.
Mit ihm verliert die Soziologie in Deutschland einen herausragenden Forscher, Lehrer und öffentlich engagierten Wissenschaftler. Er hat mit seiner Forschung an dem von ihm 1968 mitbegründeten Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) über Jahrzehnte ein gesellschafts- wie sozialtheoretisch fundiertes Verständnis von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit geprägt, das sich subdisziplinärem Schubladendenken sperrt und höchsten wissenschaftlichen Standards ebenso wie gesellschaftsdiagnostischer kritischer Aufklärung verpflichtet war. Seine Forschung führte ihn mit Studienaufenthalten, Gastvorträgen und Forschungskooperationen, unter anderem unter dem Dach der OECD, immer wieder ins westliche Ausland, aber auch nach Israel und Argentinien, ebenso wie Japan und Russland. Mehrere Generationen von Studierenden und Promovierenden haben ihn an der Universität Göttingen, wo er 1973 bis 2
(19. August 1939 – 4. Januar 2018)
Unerwartet und nach kurzer schwerer Krankheit ist Martin Baethge, Professor für Soziologie an der Universität Göttingen, Anfang dieses Jahres im Alter von 78 Jahren verstorben.
Mit ihm verliert die Soziologie in Deutschland einen herausragenden Forscher, Lehrer und öffentlich engagierten Wissenschaftler. Er hat mit seiner Forschung an dem von ihm 1968 mitbegründeten Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) über Jahrzehnte ein gesellschafts- wie sozialtheoretisch fundiertes Verständnis von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit geprägt, das sich subdisziplinärem Schubladendenken sperrt und höchsten wissenschaftlichen Standards ebenso wie gesellschaftsdiagnostischer kritischer Aufklärung verpflichtet war. Seine Forschung führte ihn mit Studienaufenthalten, Gastvorträgen und Forschungskooperationen, unter anderem unter dem Dach der OECD, immer wieder ins westliche Ausland, aber auch nach Israel und Argentinien, ebenso wie Japan und Russland. Mehrere Generationen von Studierenden und Promovierenden haben ihn an der Universität Göttingen, wo er 1973 bis 2004 als Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Industrie-, Bildungs- und Jugendsoziologie tätig war, als inspirierenden, intellektuell fordernden und auch fördernden Lehrer erlebt. Er hat über Jahrzehnte maßgeblich zum Transfer von Berufsbildungsexpertise in Gesellschaft und Politik beigetragen, 2002 bis 2009 als Mitglied im Beirat des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und seit 2008 als Mitherausgeber des Journal for Labour Market Research, als Initiator und Ko-Autor der nationalen Bildungsberichterstattung wie auch als Mitglied von Expertengremien zur Erarbeitung von Konzepten für eine vergleichende Berufsbildungsberichterstattung auf europäischer und internationaler Ebene. Mit seiner Expertise rückte er jene Gruppen ins Blickfeld von Forschung und Öffentlichkeit, die zu den Verlierern von Bildungsexpansion und einer von kurzfristigen ökonomischen Bedarfen getriebenen Berufsausbildungspolitik gehören. Bis zum Schluss wurde er nicht müde, die damit verbundenen, sozial und gesellschaftlich problematischen Ungleichheitsdynamiken anzuprangern.
Martin Baethges wissenschaftlicher Werdegang ist eng und eigensinnig mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen der sechziger Jahre und der Universitätsstadt Göttingen verbunden, die seine Heimatstadt war und blieb. Dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium folgte ein Studium der Soziologie, Pädagogik und Philosophie an der Göttinger Universität, wo er 1968 Assistent bei Hans-Paul Bahrdt am Institut für Soziologie wurde. Bereits im Studium engagierte er sich bei Rechercheprojekten der hochschulpolitischen Zeitschrift ›Politikon‹, die Mitte der sechziger Jahre aufdeckten, dass die in den 1920er Jahren weltweit hoch angesehene Georg-August-Universität im sogenannten ›Dritten Reich‹ zu einer ›braunen Universität‹ mutiert war, in der fast alle Fakultäten nationalsozialistischen Ideologien folgten und Vernichtungsfeldzüge gegen Andersdenkende betrieben. Die mit zahlreichen Wegbegleitern mit hohem Einsatz betriebene späte Aufklärung wurde von Teilen der Universität als Nestbeschmutzung wahrgenommen; angedrohte Disziplinarmaßnahmen konnten freilich durch einen liberalen Präsidenten, Professor Walther Zimmerli, ein Schweizer und Theologe, verhindert werden.
Auch die Dissertation, eine Untersuchung zum Verhältnis von Wirtschaftsinteressen und Bildungspolitik am Beispiel der bildungspolitischen Aktivitäten der Spitzenverbände der Unternehmer, geriet zu einem Politikum mit bundesweiter Aufmerksamkeit. Eingereicht bei der Philosophischen Fakultät und von dem Mentor Hans-Paul Bahrdt mit ›summa cum laude‹ bewertet, wurde sie von dem Zweitgutachter, einem Althistoriker, ohne Offenlegung von Gründen abgelehnt. Das Ansinnen einer Umarbeitung wies Martin Baethge zurück. Er promovierte schließlich 1969 an der Universität Hannover bei den Professoren Peter von Oertzen und Christian von Ferber zum Dr. rer. pol. und publizierte die bis heute bildungssoziologisch einschlägige Arbeit erfolgreich unter dem Titel ›Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik‹ (Baethge 1970). Nur wenige Jahre später erfolgte der Ruf auf eine Professur für Soziologie an der Göttinger Universität, an der er bis zu seinem Ausscheiden tätig war; weitere Rufe an die Technische Universität Berlin und die Universität Bielefeld lehnte er ab. Die in den frühen Jahren geprägte Haltung, mit theoretisch wie empirisch ambitionierter Sozialforschung nicht nur wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, sondern immer auch gesellschaftliche Aufklärung zu betreiben und Forschungsergebnisse gradlinig und engagiert auch gegen Widerstände in der eigenen Zunft wie der Öffentlichkeit zu vertreten, kennzeichneten auch weiterhin seine Arbeit.
Produktiver und inspirierender Ort seiner Forschung wurde das Ende der sechziger Jahre mit bedeutenden Wegbegleitern (Hannes Friedrich, Ulf Herlyn, Horst Kern, Martin Osterland und Michael Schumann) aufgebaute Soziologische Forschungsinstitut, das mit theoretisch fundierter empirischer Sozialforschung dem Aufklärungsanspruch einer konflikttheoretisch orientierten kritischen Soziologie folgte. Hier war er von 1975 bis 2006 Direktor und nachfolgend noch Präsident. Intellektuelle Originalität und hohe gesellschaftliche Diagnosefähigkeit wurden zum Markenzeichen zahlreicher hier entstandener arbeits- und bildungssoziologischer Arbeiten, die mit Dienstleistungsbeschäftigung und Tertiarisierung schon früh gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken in den Blick genommen haben, die über das fordistische Produktions- und Sozialmodell hinausreichen.
Hatten Horst Kern und Michael Schumann in den 1980er Jahren, empirisch gesättigt und theoretisch verdichtet, Umbrüche industrieller Facharbeit identifiziert, so stellten Martin Baethge und Herbert Oberbeck in ihrer großen Studie zur Zukunft der Angestellten (1986) eine systemische Rationalisierungslogik heraus, die innerbetriebliche Arbeitsstrukturen in neuer Weise mit Marktvorgängen verknüpft und vor allem auch auf Kundenbeziehungen ausgreift. Weitere einflussreiche Arbeiten setzen sich kritisch mit dem Beharrungsvermögen und den sozialstrukturellen Ausgrenzungsrisiken des deutschen Bildungs- und Sozialstaatsgefüge auseinander, das ungeachtet aller Wandel- und Fortschrittsrhetorik an industriegesellschaftlichen Normen orientiert bleibt (siehe unter anderem Baethge 2001). Nicht zuletzt Martin Baethges immer auch sozialisationstheoretisch informierte Studien zum Wandel von Arbeit und Identität stellen bis heute für die Analyse gesellschaftlicher Umbrüche wesentliche Erkenntnisfortschritte bereit. Seine bereits Anfang der 1990er Jahre vorgetragene, hellsichtige sozial- wie gesellschaftstheoretisch gerahmte Diagnose einer zunehmenden normativen Subjektivierung von Arbeit (Baethge 1991) kann rückblickend als Start einer seitdem expandierenden arbeitssoziologischen Subjektivierungsforschung angesehen werden.
Die Gründung des SOFI markierte eine Auslagerung von Sozialforschung aus der Universität, an der im Zuge bürokratischer Hochschulreformen und steigender Studierendenzahlen die Freiräume für Forschung enger wurden. Gleichwohl blieb Martin Baethge ein leidenschaftlicher Hochschullehrer, der soziologisches Denken und Erkenntnisgewinn durch forschendes Lernen jenseits didaktischer Techniken glaubhaft verknüpfte; er vermochte in Seminaren für Anfänger wie Fortgeschrittene Forschungsbegeisterung zu wecken und gesellschaftliche Urteilskraft zu schulen. Als Lehrer wie Forscherkollege war er fordernd und ambitioniert, bekannt für seine klaren Urteile wie auch zuweilen scharfen Debattenbeiträge. Er blieb jedoch mit seinen prägnanten Analysen, seiner hohen Bereitschaft zur Diskussion, seiner intellektuellen Offenheit und einer Orientierung an bestmöglicher kritischer Erkenntnis immer dem oder der Einzelnen wie auch der Gruppe mit Interesse und Wohlwollen zugewandt. Nicht zuletzt wurde in wissenschaftlichen Beiräten und Transferzusammenhängen seine Fähigkeit zu Dialog und Vermittlung geschätzt.
Aus einem religiös geprägten Elternhaus kommend, zeichnete ihn eine protestantische Arbeitshaltung aus, gekennzeichnet nicht nur durch hohe intellektuelle Selbstansprüche, sondern auch durch lange Arbeitstage und wenig Freizeit; eine Haltung, die nicht nur für die Forscherkolleginnen und -kollegen der jüngeren Generation kaum zum Vorbild taugte. Gleichwohl war auch er ein Familienmensch, seiner Frau, seinem Sohn und den Enkelkindern eng verbunden, und für viele langjährige Weggefährten ein verlässlicher Freund; er konnte Kultur, Musik und Wein genießen und war ein charmanter Gesellschafter.
Seine Forschungsarbeit setzte er auch nach dem Ausscheiden aus der Universität unvermindert fort, wie in all den Jahren in einem mit Büchern reich bestückten Arbeitszimmer in der leicht baufälligen Altbauvilla im bürgerlichen Göttinger Ostviertel, in der das SOFI seit Jahrzehnten untergebracht ist. Sein plötzlicher Tod hat ihn aus laufenden Publikationsprojekten und Kooperationen gerissen; noch bis kurz vor dem Jahresende 2017 beteiligte er sich an den Vorbereitungen der nächsten Bildungsberichterstattung. Er wird nicht nur im SOFI, das dieses Jahr das 50jährige Jubiläum begeht, fehlen.
Karin Gottschall
Literatur
Baethge, M. 1970: Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Baethge, M. 1991: Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. Soziale Welt, 42. Jg., Heft 1, 6-19.
Baethge, M. 2001: Abschied vom Industrialismus. In M. Baethge, I. Wilkens (Hg.), Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert? Perspektiven und Strategien für die Entwicklung der Dienstleistungsbeschäftigung. Opladen: Leske + Budrich, 23-44.
Baethge, M., Oberbeck, H. 1986: Zukunft der Angestellten. Neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung. Frankfurt am Main, New York: Campus.
004 als Professor für Soziologie mit den Schwerpunkten Industrie-, Bildungs- und Jugendsoziologie tätig war, als inspirierenden, intellektuell fordernden und auch fördernden Lehrer erlebt. Er hat über Jahrzehnte maßgeblich zum Transfer von Berufsbildungsexpertise in Gesellschaft und Politik beigetragen, 2002 bis 2009 als Mitglied im Beirat des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und seit 2008 als Mitherausgeber des Journal for Labour Market Research, als Initiator und Ko-Autor der nationalen Bildungsberichterstattung wie auch als Mitglied von Expertengremien zur Erarbeitung von Konzepten für eine vergleichende Berufsbildungsberichterstattung auf europäischer und internationaler Ebene. Mit seiner Expertise rückte er jene Gruppen ins Blickfeld von Forschung und Öffentlichkeit, die zu den Verlierern von Bildungsexpansion und einer von kurzfristigen ökonomischen Bedarfen getriebenen Berufsausbildungspolitik gehören. Bis zum Schluss wurde er nicht müde, die damit verbundenen, sozial und gesellschaftlich problematischen Ungleichheitsdynamiken anzuprangern.
Martin Baethges wissenschaftlicher Werdegang ist eng und eigensinnig mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen der sechziger Jahre und der Universitätsstadt Göttingen verbunden, die seine Heimatstadt war und blieb. Dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium folgte ein Studium der Soziologie, Pädagogik und Philosophie an der Göttinger Universität, wo er 1968 Assistent bei Hans-Paul Bahrdt am Institut für Soziologie wurde. Bereits im Studium engagierte er sich bei Rechercheprojekten der hochschulpolitischen Zeitschrift ›Politikon‹, die Mitte der sechziger Jahre aufdeckten, dass die in den 1920er Jahren weltweit hoch angesehene Georg-August-Universität im sogenannten ›Dritten Reich‹ zu einer ›braunen Universität‹ mutiert war, in der fast alle Fakultäten nationalsozialistischen Ideologien folgten und Vernichtungsfeldzüge gegen Andersdenkende betrieben. Die mit zahlreichen Wegbegleitern mit hohem Einsatz betriebene späte Aufklärung wurde von Teilen der Universität als Nestbeschmutzung wahrgenommen; angedrohte Disziplinarmaßnahmen konnten freilich durch einen liberalen Präsidenten, Professor Walther Zimmerli, ein Schweizer und Theologe, verhindert werden.
Auch die Dissertation, eine Untersuchung zum Verhältnis von Wirtschaftsinteressen und Bildungspolitik am Beispiel der bildungspolitischen Aktivitäten der Spitzenverbände der Unternehmer, geriet zu einem Politikum mit bundesweiter Aufmerksamkeit. Eingereicht bei der Philosophischen Fakultät und von dem Mentor Hans-Paul Bahrdt mit ›summa cum laude‹ bewertet, wurde sie von dem Zweitgutachter, einem Althistoriker, ohne Offenlegung von Gründen abgelehnt. Das Ansinnen einer Umarbeitung wies Martin Baethge zurück. Er promovierte schließlich 1969 an der Universität Hannover bei den Professoren Peter von Oertzen und Christian von Ferber zum Dr. rer. pol. und publizierte die bis heute bildungssoziologisch einschlägige Arbeit erfolgreich unter dem Titel ›Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik‹ (Baethge 1970). Nur wenige Jahre später erfolgte der Ruf auf eine Professur für Soziologie an der Göttinger Universität, an der er bis zu seinem Ausscheiden tätig war; weitere Rufe an die Technische Universität Berlin und die Universität Bielefeld lehnte er ab. Die in den frühen Jahren geprägte Haltung, mit theoretisch wie empirisch ambitionierter Sozialforschung nicht nur wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, sondern immer auch gesellschaftliche Aufklärung zu betreiben und Forschungsergebnisse gradlinig und engagiert auch gegen Widerstände in der eigenen Zunft wie der Öffentlichkeit zu vertreten, kennzeichneten auch weiterhin seine Arbeit.
Produktiver und inspirierender Ort seiner Forschung wurde das Ende der sechziger Jahre mit bedeutenden Wegbegleitern (Hannes Friedrich, Ulf Herlyn, Horst Kern, Martin Osterland und Michael Schumann) aufgebaute Soziologische Forschungsinstitut, das mit theoretisch fundierter empirischer Sozialforschung dem Aufklärungsanspruch einer konflikttheoretisch orientierten kritischen Soziologie folgte. Hier war er von 1975 bis 2006 Direktor und nachfolgend noch Präsident. Intellektuelle Originalität und hohe gesellschaftliche Diagnosefähigkeit wurden zum Markenzeichen zahlreicher hier entstandener arbeits- und bildungssoziologischer Arbeiten, die mit Dienstleistungsbeschäftigung und Tertiarisierung schon früh gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken in den Blick genommen haben, die über das fordistische Produktions- und Sozialmodell hinausreichen.
Hatten Horst Kern und Michael Schumann in den 1980er Jahren, empirisch gesättigt und theoretisch verdichtet, Umbrüche industrieller Facharbeit identifiziert, so stellten Martin Baethge und Herbert Oberbeck in ihrer großen Studie zur Zukunft der Angestellten (1986) eine systemische Rationalisierungslogik heraus, die innerbetriebliche Arbeitsstrukturen in neuer Weise mit Marktvorgängen verknüpft und vor allem auch auf Kundenbeziehungen ausgreift. Weitere einflussreiche Arbeiten setzen sich kritisch mit dem Beharrungsvermögen und den sozialstrukturellen Ausgrenzungsrisiken des deutschen Bildungs- und Sozialstaatsgefüge auseinander, das ungeachtet aller Wandel- und Fortschrittsrhetorik an industriegesellschaftlichen Normen orientiert bleibt (siehe unter anderem Baethge 2001). Nicht zuletzt Martin Baethges immer auch sozialisationstheoretisch informierte Studien zum Wandel von Arbeit und Identität stellen bis heute für die Analyse gesellschaftlicher Umbrüche wesentliche Erkenntnisfortschritte bereit. Seine bereits Anfang der 1990er Jahre vorgetragene, hellsichtige sozial- wie gesellschaftstheoretisch gerahmte Diagnose einer zunehmenden normativen Subjektivierung von Arbeit (Baethge 1991) kann rückblickend als Start einer seitdem expandierenden arbeitssoziologischen Subjektivierungsforschung angesehen werden.
Die Gründung des SOFI markierte eine Auslagerung von Sozialforschung aus der Universität, an der im Zuge bürokratischer Hochschulreformen und steigender Studierendenzahlen die Freiräume für Forschung enger wurden. Gleichwohl blieb Martin Baethge ein leidenschaftlicher Hochschullehrer, der soziologisches Denken und Erkenntnisgewinn durch forschendes Lernen jenseits didaktischer Techniken glaubhaft verknüpfte; er vermochte in Seminaren für Anfänger wie Fortgeschrittene Forschungsbegeisterung zu wecken und gesellschaftliche Urteilskraft zu schulen. Als Lehrer wie Forscherkollege war er fordernd und ambitioniert, bekannt für seine klaren Urteile wie auch zuweilen scharfen Debattenbeiträge. Er blieb jedoch mit seinen prägnanten Analysen, seiner hohen Bereitschaft zur Diskussion, seiner intellektuellen Offenheit und einer Orientierung an bestmöglicher kritischer Erkenntnis immer dem oder der Einzelnen wie auch der Gruppe mit Interesse und Wohlwollen zugewandt. Nicht zuletzt wurde in wissenschaftlichen Beiräten und Transferzusammenhängen seine Fähigkeit zu Dialog und Vermittlung geschätzt.
Aus einem religiös geprägten Elternhaus kommend, zeichnete ihn eine protestantische Arbeitshaltung aus, gekennzeichnet nicht nur durch hohe intellektuelle Selbstansprüche, sondern auch durch lange Arbeitstage und wenig Freizeit; eine Haltung, die nicht nur für die Forscherkolleginnen und -kollegen der jüngeren Generation kaum zum Vorbild taugte. Gleichwohl war auch er ein Familienmensch, seiner Frau, seinem Sohn und den Enkelkindern eng verbunden, und für viele langjährige Weggefährten ein verlässlicher Freund; er konnte Kultur, Musik und Wein genießen und war ein charmanter Gesellschafter.
Seine Forschungsarbeit setzte er auch nach dem Ausscheiden aus der Universität unvermindert fort, wie in all den Jahren in einem mit Büchern reich bestückten Arbeitszimmer in der leicht baufälligen Altbauvilla im bürgerlichen Göttinger Ostviertel, in der das SOFI seit Jahrzehnten untergebracht ist. Sein plötzlicher Tod hat ihn aus laufenden Publikationsprojekten und Kooperationen gerissen; noch bis kurz vor dem Jahresende 2017 beteiligte er sich an den Vorbereitungen der nächsten Bildungsberichterstattung. Er wird nicht nur im SOFI, das dieses Jahr das 50jährige Jubiläum begeht, fehlen.
Karin Gottschall
Literatur
- Baethge, M. 1970: Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
- Baethge, M. 1991: Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. Soziale Welt, 42. Jg., Heft 1, 6-19.
- Baethge, M. 2001: Abschied vom Industrialismus. In M. Baethge, I. Wilkens (Hg.), Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert? Perspektiven und Strategien für die Entwicklung der Dienstleistungsbeschäftigung. Opladen: Leske + Budrich, 23-44.
- Baethge, M., Oberbeck, H. 1986: Zukunft der Angestellten. Neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung. Frankfurt am Main, New York: Campus.