Aus dem Inhalt
- Klaus Kraemer: Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten?
- Jörg Strübing: Für das Leben lernen
- Friedhelm Neidhardt: ›Zugutachterei‹ - Bedingungen korruptiver Nachsicht
- Jörg Potthast: Unter Beobachtung an der Relationierung arbeiten
Soziologie in der Öffentlichkeit
Klaus Kraemer
Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten?
In diesem Beitrag wird am Beispiel der SARS-CoV-2-Pandemie die Frage diskutiert, was die Soziologie als sozialwissenschaftliche Disziplin im Schockmoment einer Krise eigentlich leisten kann. In Abgrenzung zu Heinz Bude (Soziologie, Heft 3, 2022) wird argumentiert, dass die Aufgabe der Soziologie nicht darin bestehen sollte, Zustimmung in der Bevölkerung zu staatlichen Maßnahmen zu organisieren, sondern eine sozialwissenschaftliche Beobachterrolle einzunehmen, um die blinden Flecke staatlicher Akteure und Expertenstäbe gerade auch unter Krisenbedingungen sichtbar zu machen. Statt in den Modus einer Krisenrhetorik der einfachen Worte zu verfallen, wird dafür plädiert, sich auf die methodologischen und methodischen Kernkompetenzen des Faches zu besinnen und interdisziplinären Austausch nicht mit undisziplinierter Extradisziplinarität zu verwechseln.
This article uses the example of the SARS-CoV-2 pandemic to discuss the question of what sociology can actually do in the moment of shock of a crisis. In contrast to Heinz Bude (Soziologie, no. 3, 2022), it is argued that the task of sociology should not be to organise public approval for state measures, but to take on a sociological observer role in order to make the blind spots of state actors and expert groups visible, especially under crisis conditions. Instead of falling into the mode of a crisis rhetoric of simple words, it is advocated that one should remember the methodological and methodical core competences of the discipline and not confuse interdisciplinary exchange with undisciplined extradisciplinarity.
Forschen, Lehren, Lernen
Jörg Strübing
Für das Leben lernen
Der Beitrag kritisiert den Umstand, dass soziologische Kompetenzen in der Schule kaum vermittelt werden und die universitäre Lehramtsausbildung praktisch ohne Einbezug der Soziologie stattfindet. Dies wird problematisiert, weil jungen Menschen damit jenes gesellschaftliche Orientierungswissen vorenthalten wird, das die Soziologie systematisch bereitstellt, und das in Zeiten zunehmend krisenhafter gesellschaftlicher Entwicklungen besonders notwendig ist. Es wird aber auch aus Sicht des Faches problematisiert, dass die mangelnde Sichtbarkeit der Soziologie in der Schule mit zu den aktuell beobachtbaren sinkenden Studierendenzahlen in den Soziologie-Studiengängen beiträgt. Es werden Maßnahmen vorgestellt, die der DGS-Ausschuss ›Soziologie in Schule und Lehre‹ ergriffen hat, um im Fach und bei politisch Verantwortlichen das Problembewusstsein zu schärfen.
The article criticizes the fact that sociological competencies are hardly taught at school and that university teacher training is carried out virtually without the inclusion of sociology. This is problematized because young people are thus deprived of essential skills of social orientation, which sociology systematically provides, and this in times of increasingly crisis-ridden social developments. Looking at the issue from the perspective of sociology as an academic discipline, it is also problematized that the lack of visibility of sociology in schools contributes to the currently observable decline in the number of students in sociology courses. Measures are presented which the DGS committee ›Sociology in Schools and Teaching‹ has taken to raise awareness of the problem both within the group of sociologists at universities and among those with political responsibility in the realm of school and education.
Friedhelm Neidhardt
Zugutachterei
Die Analyse von Gutachterei greift zu kurz, wenn sie sich allein auf die Beziehungen zwischen Prüfling und Prüfer versteift; man muss eruieren, wer wie in deren Verhältnis zusätzlich mitspielt. Hier beginnt die Soziologie. Auswahl und Finanzierung von Gutachtern beeinflussen mehr als alles andere ihre Unabhängigkeit. Ungute Folgen lassen sich prinzipiell durch den öffentlichen Verkauf der Prüfungsergebnisse beziehungsweise durch staatliche Finanzierung vermeiden. Befinden Prüflinge selbst sowohl über die Wahl ihrer Gutachter als auch über deren Finanzierung, sind von vornherein Abhängigkeiten im Prüfprozess vorhanden. Die Wahrscheinlichkeit von Gefälligkeitsgutachten (›Zugutachterei‹) ist bei dieser Kapitalisierung von Begutachtungen geschäftsbedingt. Verstärkungen dieser Wahrscheinlichkeit ergeben sich unter anderem bei einer Vermengung von Begutachtung und Beratung, bei Einschränkungen gutachterlicher Erhebungs- und Darstellungskompetenzen, sowie bei Vorliegen staatlich geschützter ›Haftungsprivilegien‹. All dies ist heute vor allem im Wirtschaftsbereich verbreitet. Aber auch der Staat ist als Kontrolleur nicht immer verlässlich. Ausdruck dafür ist unter anderem eine hierzulande ideologisch gewollte Unterfinanzierungen staatlicher Kontrollen sowie deren Finanzierung.
The analysis of review and assessment processes does not go far enough if it focuses solely on the relationship between the controllers and those who are assessed. It is necessary to find out who else plays a role in their relationship and how. This is where sociology comes in. More than anything else, the selection and funding of the reviewers influence their independence. Unfavorable consequences can be avoided if assessors finance themselves by selling the results of their assessments or by receiving state funding. If those who are assessed decide themselves both on the selection of reviewers and on their financing, then there exists a dependency between the two actors from the outset. Under this condition, the probability of favorable assessments is very high. The likelihood of positive assessments is further increased if assessment and consulting are mixed-up, if the assessors are restricted in the collection of data and in publishing their findings, and if there exist state-protected liability privileges. All this is common today, especially in the business sector. However, even the state is not always reliable as a controller. This is evident in Germany where state institutions are underfunded as a matter of political will and their privatization is favored.
Hier der Text zum Download.
Jörg Potthast
Unter Beobachtung an der Relationierung arbeiten
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Relevanz von Rezensionen in einem Kontext, der sich im Zuge der Metrifizierung stark verändert hat. Er stellt heraus, dass Rezensionen ein übergreifendes Format der ›Prüfung‹ bereitstellen. Darüber wird eine wissenschaftspolitische Schieflage deutlich, aus der der Beitrag, auch im Eindruck gegenwärtiger Proteste, ein offenes Forschungsdesiderat ableitet: Die Frage nach biografischer Inklusion in die organisierte Wissenschaft, oftmals (und oft ersichtlich im Namen von Partikularinteressen) ignoriert oder bloß forciert, bedarf einer Rekonzeptualisierung, die der komplexen Ökonomie der dafür angestrengten Prüfungen gerecht wird.
The present contribution reconsiders the relevance of reviews within a context that has gone through metrification and massive transformation. It argues that book reviews offer a format for ›testing‹ skills which embrace diverse segments of employment. In terms of science policy, this argument discloses a bias which is then reformulated as a research desideratum: The question of biographic inclusion into scientific organizations, often (and often obviously in self-interest) ignored or merely invoked, is waiting to be reconceptualized in a way that does justice to the complex economy nested in the practice of testing.
Andreas Diekmann
Neuorientierung der Methoden-Ausbildung
Vorlage für die Sitzung des Konzils der DGS am 29. Oktober 2022 in Bielefeld
Submission for the meeting of the Council of the DGS on 29 October 2022 in Bielefeld
DGS-Nachrichten
- Satzung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
- Ausführungsbestimmungen ›Stärkung der Sektionen‹
- Ausführungsbestimmungen ›Nominierungsverfahren‹
- Beschlüsse des Konzils vom 13. Mai 2022
- Aus dem DGS-Vorstand
- Veränderungen in der Mitgliedschaft
- Preise der DGS für herausragende Abschlussarbeiten
- Julian Heide: Polarisierung von den Rändern denken
Dieses Vorhaben nimmt als Testfall die Armutspopulation in den Blick und untersucht anhand dreier gesellschaftlich umstrittener Felder sozialer Ungleichheit, nämlich sexueller Diversität, Migration und Sozialpolitik eine mögliche Polarisierung an den sozialstrukturellen Rändern. Mit Daten des Sozio-Ökonomischen Panels kann gezeigt werden, dass Menschen in Armut gegenüber Homosexuellen oder transgender Personen nicht skeptischer eingestellt sind als nicht-arme Personen. Im zweiten Feld sozialer Ungleichheit lehnen Menschen mit Armutserfahrung Migrationsbewegungen eher ab und die Migrationsskepsis unter Personen in langanhaltender und intensiver Armut ist größer als bei Menschen mit diskontinuierlichen Armutsverläufen. Im Feld der sozialen Sicherung bevorzugen Personen mit Armutserfahrung staatliche Sicherungsmaßnahmen gegenüber privater Absicherung.
This project takes the poverty population as a test case and examines a possible polarization on the basis of three socially controversial fields of social inequality, namely sexual diversity, migration and social policy. Using data from the German Socio-Economic Panel, it can be shown that people in poverty are no more skeptical of homosexuals or transgender people than non-poor people. With respect to the second field people with poverty experience are more likely to reject migration movements and migration skepticism among people in protracted and intense poverty is greater than among people with discontinuous poverty histories. In the field of social security, people with experience of poverty prefer state security measures to private security.
- Julian Heide: Polarisierung von den Rändern denken
- Patricia Thomas: Im Zweifel für die Freiheit?
Der Beitrag nähert sich dem Diskurs um die Kunstautonomie in medialen Debatten am Beispiel zweier skandalisierter Ereignisse im Kunstfeld. Es werden diskursive Strategien, zentrale Konfliktlinien und Deutungsmuster vorgestellt, die mittels einer wissenssoziologischen Diskursanalyse herausgearbeitet wurden. Anhand der Rekonstruktion des Diskurses um die Kunstautonomie lassen sich herrschende Regeln und normative Vorstellungen über legitime und illegitime Formen der Kunstbetrachtung und -bewertung freilegen.
The article approaches the discourse on the autonomy of art in medial debates using the example of two scandalized events in the art field. It presents discursive strategies, central lines of conflict and patterns of interpretation, which have been worked out by a sociology of knowledge approach to discourse. Thus, by reconstructing the discourse around autonomy of art, prevailing rules and normative ideas about legitimate and illegitimate forms of viewing and evaluating art can be exposed.
- Patricia Thomas: Im Zweifel für die Freiheit?
Nachrichten aus der Soziologie
- Bernhard Schäfers: In memoriam Ulfert Herlyn
- Betina Hollstein: In memoriam Yvonne Schütze
- ASI-Nachwuchspreis 2023
- Habilitationen
- Call for Papers
Diversity and Difference – Studies in Subjectivation - Tagungen
Herausforderungen für eine neue Wohnungspolitik
Current Perspectives on Spatial Mobilities