Gegenwärtig existiert keine explizite theoretische und empirische Analyse des Verhältnisses zwischen industriellen Beziehungen und der politischen Öffentlichkeit. Gleichwohl bestimmt die Konstitution arbeitspolitischer Öffentlichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen den Rahmen, in dem arbeitspolitisch relevante Aushandlungs- und die Arbeitsprozesse selbst stattfinden.
In arbeitspolitischen Öffentlichkeiten werden Erfahrungen und Probleme im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess artikuliert, gedeutet und geteilt. In ihrem Zentrum steht die Erwerbsarbeit und die mit ihr verbundenen Entwicklungen und Herausforderungen; aber auch deren Verhältnis zu anderen Formen gesellschaftlich oder ökonomisch notwendiger Arbeit (wie etwa Schattenarbeit, Hausarbeit). Arbeitserfahrungen werden auf verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit unterschiedlich behandelt (z.B. betriebliche, sektorale, staatliche Ebene, proletarische, bürgerliche Öffentlichkeit). Als Mehr-Ebenen-Phänomen spannen sich arbeitspolitische Öffentlichkeiten zwischen den Lebenswelten der Arbeitssubjekte, den Organisationen von Leistungserstellung und Interessenvertretung sowie einem gesamtgesellschaftlichen diskursiven Rahmen auf. Die Themen reichen dabei beispielsweise von der alltäglichen Organisierung des Arbeitsprozesses über Tarifverhandlungen und gewerkschaftliche Debatten bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Thematisierung von Arbeit etwa mit Blick auf die Aufgabenteilung in der Care-Arbeit im Privathaushalt.
Allerdings gibt es zahlreiche Untersuchungen und Diskussionen zu den institutionellen Vor- und Rahmenbedingungen von arbeitspolitischen Öffentlichkeiten, die etwa die betriebliche Vergemeinschaftung, Framing-Strategien arbeitspolitischer Akteure, die diskursive Repräsentation von Arbeitsbeziehungen, das Lohnabhängigenbewusstsein und politische Haltungen von Arbeiter*innen, das Verhältnis formeller und informeller industriellen Beziehungen, die Prozesse gewerkschaftlicher Erneuerung oder die arbeitspolitische Abstimmung innerhalb von und zwischen Interessenorganisationen untersuchen. Relevant als Vor- und Rahmenbedingungen arbeitspolitischer Öffentlichkeiten sind somit u.a. Erfahrungen mit einer sich wandelnden Arbeitswelt, die räumliche und zeitliche Aufteilung von Arbeit inklusiver unterschiedlicher Kontaktchancen für arbeitspolitisch relevante Akteure, politische Überzeugungen von Arbeiter*innen und Unternehmer*innen und die Aussichten diese erfolgreich politisieren zu können, gesetzliche und informelle Regeln der Arbeiter*innen- Mitbestimmung, arbeitspolitische Programme und Regierungsinitiativen, sowie die Verteilung medialer und kommunikativer Ressourcen und Machtpositionen.
Das Sonderheft soll diese Leerstelle füllen und die genannten verschiedenen Debattenstränge unter dem Konzept arbeitspolitischer Öffentlichkeiten zusammenführen. Dabei soll der gegenwärtige Strukturwandel sowohl politischer Öffentlichkeiten als auch der Arbeitswelt berücksichtigt werden, der sich mit den interdependenten Tendenzen von Globalisierung, Kommodifizierung und Digitalisierung angeben lässt. Die Beiträge sollen auf konzeptioneller, methodischer und empirischer Ebene die Rolle arbeitspolitischer Öffentlichkeiten für die Entwicklung industrieller Beziehungen ausloten. Dabei gilt es sowohl bedeutende Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Öffentlichkeit konkreter herauszuarbeiten als auch die Tendenzen des Wandels genauer zu bestimmen. Beiträge können sich u.a. mit den folgenden Fragen beschäftigen:
Theorie und Empirie arbeitspolitischer Öffentlichkeiten
- Welche Theorien und Forschungen lassen sich ergänzend, komplementär oder ggf. rivalisierend zu einem Fokus auf arbeitspolitische Öffentlichkeiten heranziehen?
- Welche Rolle spielen Öffentlichkeiten in einem deutschen dualen und formalisierten System industrieller Beziehungen? Und welche Potentiale und Herausforderungen entstehen angesichts aktueller Entwicklungen (z.B. Globalisierung, Kommodifizierung und Digitalisierung) für die Interessenvertretung und deren Nutzung von Öffentlichkeiten?
- Wie wird die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und informeller und Reproduktionsarbeit öffentlich verhandelt und welche arbeitspolitischen Implikationen hat dies für die Erwerbsarbeit?
- Wie funktionieren symbolische Auseinandersetzungen um die Anerkennung und den Wert unterschiedlicher Arbeitsformen? Dies betrifft z.B. einerseits die Debatte um geschlechterspezifische Aufteilung von Arbeit im Privathaushalt und andererseits die Diskussionen um die Aufwertung spezifischer Berufe in der Corona-Krise.
- Wie nutzen die verschiedenen Akteure (v.a. Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsräte) Öffentlichkeiten? Nehmen z.B. freiwillige Partizipationsofferten und Anrufungen der Unternehmenskultur durch das Management zu und wie werden Tarifkonflikte in der Öffentlichkeit geführt?
- Welche Rolle spielen arbeitspolitische Öffentlichkeit für die Herausbildung und Entwicklung des Bewusstseins von Lohnabhängigen?
(Interaktion der) Ebenen arbeitspolitischer Öffentlichkeit
- Welche Zusammenhänge und Unterschiede lassen sich in der Thematisierung von Arbeit und in der Organisation von Kommunikation zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeitsebenen und -typen zeigen?
- Auf welcher Ebene industrieller Beziehungen haben sich welche öffentlichen und arbeitspolitische Foren entwickelt oder entwickeln bzw. wandeln sich?
- Wie wird in massenmedialen Öffentlichkeiten über arbeitspolitisch relevante Themen kommuniziert? Wie wird in überbetrieblichen, sektorspezifischen Öffentlichkeiten kommuniziert? Wie wird in betrieblichen Öffentlichkeiten kommuniziert, wie strukturiert der Arbeits- und Notwendigkeitsbezug die Kommunikation; wird hier im Sinne Habermas (der das eigentlich annehmen müsste) v.a. strategisch kommuniziert oder gibt es auch Verständigungsorientierung?
Arbeitspolitische Öffentlichkeiten im Strukturwandel
- Welche transnationalen arbeitspolitischen Öffentlichkeiten gewinnen im Zuge der Globalisierung von Wertschöpfungsketten an Bedeutung und warum?
- Trägt eine zunehmende Kommodifizierung von Arbeit zur Fragmentierung betrieblicher und anderer Öffentlichkeiten bei – etwa durch die Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse?
- Schafft die Digitalisierung von Kommunikation und Wertschöpfung Potenziale für Gegenmacht, etwa wenn die spezifische Expertise, über die Beschäftigte in digitalisierten Produktionssystemen verfügen müssen, für die Mobilisierung im Rahmen arbeitspolitischer Öffentlichkeiten genutzt wird? Wie verändert die Verbreitung digitaler Verfahren, etwa der Einsatz algorithmischen Managements oder die Robotisierung von Arbeit betriebliche Realitäten und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Management und Arbeiter:innen oder zwischen den Arbeiter:innen? Welche innovativen Formen der Organisierung, Bündnisbildung oder politischen Mobilisierung bieten digitale Medien Betriebsräten und Gewerkschaften?
- In welchen Foren entwickeln sich betriebliche Öffentlichkeiten (z.B. Werkszeitungen, unternehmensinterne soziale Medien etc.) und welche spezifischen Prozesse gehen mit diesen einher?
Extended Abstracts mit einer Länge zwischen 800-1200 Wörtern können über das Online- Portal der Industriellen Beziehungen (nomos-journals.de) bis zum 29.02.2024 eingereicht werden. Rückmeldung erfolgt zum 31.03.2024. Die Abgabe der fertigen Manuskripte muss bis zum 31.08.2024 erfolgen. Die Veröffentlichung des Sonderheftes ist für Mai 2025 geplant.
Bei Fragen wenden Sie sich gerne an die Herausgeber: heiner.heiland(at)uni-goettingen.de; seeliger(at)uni-bremen.de; sebastian.sevignani(at)uni-jena.de