Aktuell

Bildungsfalle: Bildung für alle?

Deadline: 28. Dezember 2022

Im entwicklungspolitischen Diskurs ist formale Schulbildung eng mit ›Entwicklung‹ und Modernisierung einer Gesellschaft verknüpft. Sie ist ein zentraler Bestandteil der Messung von Armut und menschlicher Entwicklung sowie der Bestimmung von Geschlechtergerechtigkeit.Formale Bildung wird als die zentrale Maßnahme bezeichnet, um die ›Armutsfalle‹ zu durchbrechen und Entwicklung zu ermöglichen. Sie ist jedoch nicht nur zentraler Bestandteil von Entwicklungszielen (z.B. den Millennium Development Goals 2 oder den Sustainable Development Goals 4 der UN) und gilt als eine der drei Dimensionen menschlicher Entwicklung im Human Development Index und im Multidimensional Poverty Index; auch in den Zukunftserwartungen vieler Menschen im Globalen Süden ist sie (wie für breite Bevölkerungsschichten im Globalen Norden) inzwischen fest verankert. Mit dem Schul- und Hochschulbesuch der Kinder werden Erwartungen an eine bessere Zukunft, an Teilhabe an Entwicklung und Modernisierung oder auch an sozialem Aufstieg verknüpft. Daher nehmen Familien oft sehr hohe Kosten in Kauf, um ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen. In diesem Kontext wird häufig von einer Armutsfalle gesprochen, einem sich selbst verstärkenden strukturellem Mechanismus, der es Menschen aufgrund mangelnder Möglichkeiten, eines geringen Einkommens oder fehlendem Zugangs zu Bildungschancen unmöglich mache, ihre Situation zu verändern. Eben dies gelte es, durch Bildungsexpansionen im Globalen Süden zu durchbrechen, so die Logik.

Dieses Bildungsversprechen der Entwicklungsziele wird jedoch zunehmend in Frage gestellt. Grund dafür ist paradoxerweise die Expansion formaler Schulbildung, die vielerorts zu einer Inflation von Bildungsabschlüssen führt und diese de facto entwertet. Verstärkt wird dies durch die zunehmende Privatisierung formaler Bildung und die damit verbundene Neoliberalisierung der Bildungssysteme, die neue Exklusionen bedingt. Hinzu kommt, dass sich vielerorts die Arbeitsmärkte nicht so dynamisch entwickeln wie die Einschulungsraten, so dass ›educated unemployment‹ zu einem weltweiten Phänomen geworden ist. Das ambitionierte Bildungsversprechen der Weltentwicklungsziele ist zunehmend brüchig geworden, und dies, obwohl immer mehr Menschen in die formale Bildung ihrer Kinder investieren.

In Bezug auf formale Schulbildung lassen sich gegenwärtig zwei gegensätzliche Tendenzen beobachten. Auf der einen Seite haben wir es mit einer globalen Verbreitung des Modells Schule zu tun, das selbst in abgelegene bäuerliche Welten vorgedrungen ist. Andererseits zeichnet sich bereits seit längerem ab, dass sich das Versprechen gängiger Modernisierungs- und Entwicklungskonzepte, demzufolge Bildung zu individueller wie kollektiver Emanzipation führe, für die Mehrheit schulisch gebildeter junger Menschen undderen Familien nicht erfüllt. Während im entwicklungspolitischen Diskurs weiter der angelnde Zugang zu formaler Schulbildung beklagt wird und Maßnahmen auf bessere Zugangsmöglichkeiten für Mädchen, städtische Arme und marginalisierte Gruppen zielen, stellt sich die Situation in vielen Ländern des Globalen Südens folgendermaßen dar:


1. Während immer mehr Kinder die Schule besuchen, differenzieren sich Bildungssysteme zunehmend aus. Es gibt große Qualitätsunterschiede zwischen privaten und staatlichen Schulen, zwischen Bildungseinrichtungen im Globalen Norden und im Globalen Süden, aber auch regionale Unterschiede innerhalb der postkolonialen Nationalstaaten fallen ins Gewicht.
2. Um durch Bildung Zukunftschancen zu erschließen, werden immer höhere und exklusivere Bildungsabschlüsse nötig. Junge Menschen versuchen auf einem globalen Bildungsmarkt Abschlüsse zu erzielen, die sie auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig machen. Damit explodieren Bildungskosten und erfordern von Familien große Anstrengungen, die häufig zulasten anderer Lebensbereiche gehen.
3. Den wenigen auf dem Arbeitsmarkt erfolgreichen Absolventen*innen stehen eine große Zahl von arbeitslosen Schulabgänger*innen und Hochschulabsolvent*innen sowie Schulabbrecher*innen gegenüber. Formale Schulbildung hat diese jungen Menschen und ihre Familien in eine Sackgasse geführt. Zukunftsvorstellungen zerplatzen.
4. Marginalisierte Bevölkerungsschichten haben zwar vermehrt Zugang zu schulischer Bildung. Die Grenzen staatlicher und internationaler Bildungspolitik zeigen sich jedoch zum einen in der schlechten Qualität staatlicher Schulen, zum anderen in fragmentierten Bildungsverläufen, da auch arme Familien weiter, wenn auch häufig geringe, Schulgebühren bezahlen müssen.
5. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, warum das Bildungsversprechen Entwicklungsdiskurse und -politik sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf globaler Ebene nach wie vor dominiert. Warum halten nicht nur Entwicklungsorganisationen, sondern auch viele Familien an der Vorstellung fest, (schulische) Bildung garantiere ihren Kindern eine bessere Zukunft? Kann eine Zukunft ohne formale Schulbildung angesichts des dominanten Diskurses überhaupt noch imaginiert werden? Welche Alternativen
stehen jungen Menschen und ihren Familien zur Verfügung?

Problematisch ist der vorherrschende Diskurs auch deshalb, weil er auf formale Schulbildung begrenzt ist, die häufig als nicht vereinbar mit anderen Lebensentwürfen und livelihoods gilt. Studien über Schulen im Globalen Süden zeigen, dass postkoloniale Staaten versuchen, Bildung zur Förderung einer nationalen Kultur einzusetzen und auf diese Weise marginalisierte Bevölkerungsgruppen in diese Kultur zu integrieren und Kontrolle über sie zu gewinnen: Im Ergebnis identifizieren sich junge Menschen mit dem Nationalstaat und distanzieren sich von lokalen Kulturen und alternativen Formen der Zugehörigkeit. Zudem werden alternative Lebensmodelle diskreditiert und spielen in den Visionen gebildeter junger Menschen keine Rolle mehr.

Wir wünschen uns Beiträge, die diesen und ähnlichen Fragen aus empirischer wie theoretischer Sicht nachgehen. Besonders interessieren uns die Fragen:

  • Wie stellt sich Bildungsungleichheit in postkolonialen Nationalstaaten und auf globaler
  • Ebene dar?
  • Welche Alternativen zu formaler Schulbildung gibt es?
  • In welchem Verhältnis stehen Schulbildung und berufliche Ausbildung in den Biographien junger Menschen und ihrer Familien?
  • Inwiefern werden berufliche Ausbildungen zu Alternativen, die das Versagen des Schulsystems ausgleichen sollen und Kindern zu Abschlüssen und Verdienstmöglichkeiten verhelfen?
  • Wie werden die Bildungshoffnungen und -enttäuschungen von unterschiedlichen Akteur*innen beschrieben und wahrgenommen – von Jugendlichen, Eltern, Lehrpersonen und Bildungsakteur*innen?
  • Inwiefern treten religiöse Bildungsangebote in Konkurrenz oder ergänzend in Bildungsbiographien auf?
  • Welche alternativen Bildungsangebote werden nach dem/statt des Schulbesuchs angenommen? Wir denken etwa an die zunehmende Bedeutung der Ausbildungszertifikate durch private Anbieter, Lehrverhältnisse oder privater Institute.
  • Welche Formen von Zugehörigkeiten werden von alternativen Bildungsträgern vor dem Hintergrund forciert, dass formale Bildung zumeist mit Staatlichkeit und der Herausbildung einer nationalen Identität konnotiert ist? Inwiefern stehen deren Angebote im Widerspruch zu anderen Formen der Zugehörigkeit, z.B. zur Zugehörigkeit zum Nationalstaat?
  • Wie sehen individuelle Bildungsverläufe aus? Welche individuellen, familiären und/oder gesellschaftlichen Erwartungen sind mit Bildung verbunden? Wie wird auf Scheitern reagiert?
  • Wie entstehen Bildungsentscheidungen (in der Verwandtschaftsgruppe), wer trifft sie, wer finanziert sie wie lange und für wen?
  • Inwiefern beeinflussen Bildungsentscheidungen auch binnen- und internationale Migrationsentscheidungen von Einzelpersonen oder Familien?
  • Welche alternativen Bildungsangebote haben sich im Globalen Süden in Anknüpfung etwa an die Befreiungspädagogik in den letzten 50 Jahren herausgebildet, und wie gehen sie mit den hier skizzierten Herausforderungen und Problemen um? Inwieweit bieten diese Ansätze nach wie vor Anknüpfungspunkte für die Entwicklung alternativer, emanzipatorischer Bildungswege?