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Dis/Kontinuitäten Theoretischer Empirie Bilanzen, Perspektiven und Potenziale

Deadline: 31. Oktober 2025

Die Soziologie zeichnet sich in vielen Bereichen nach wie vor durch eine beharrliche Arbeitsteilung zwischen theoretischer und empirischer Arbeit aus. Das bedeutet zum einen, dass die Beschäftigung mit basalen sozial- und gesellschaftstheoretischen Annahmen des Faches allzu oft fernab von empirischen Befunden erfolgt. Zum anderen wird in der empirischen Forschung kaum versucht, theoretische Vorannahmen und Grundbegrifflichkeiten des Faches herauszufordern oder diese kritisch zu reflektieren. Diese Situation wirft methodologische Fragen zum Wechselverhältnis von Theorie und Empirie auf, die wir im Workshop intensiv beleuchten möchten.

Im deutschsprachigen Raum erhielt die Diskussion wesentliche Impulse durch den Diskurs um eine Theoretische Empirie (TE), der insbesondere durch den 2008 erschienen gleichnamigen Sammelband (Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008) die Debatte seither prägt. Die programmatische Forderung lautet: Vor allem qualitative Sozialforschung sei dazu geeignet, das Wechselverhältnis zwischen Theorie und Empirie so zu kultivieren, dass theoretische und empirische Arbeit gleichermaßen davon profitieren. TE wirbt für eine empirisch basierte Irritation und Weiterentwicklung sozial- und gesellschaftstheoretischer Vorannahmen. Darüber hinaus regt sie eine experimentelle Nutzung theoretischer Perspektiven an. Sie plädiert für einen offenen und pragmatischen Umgang mit der theoriepluralen Verfasstheit der Soziologie: Sozialtheoretische Konzepte gelten als variable Werkzeuge soziologischer Wirklichkeitserzeugung, deren analytische Potenziale sich im konkreten Umgang mit empirischen Phänomenen erproben ließen. Neben der Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien, so die Stoßrichtung, kann qualitative Sozialforschung damit auch einen wichtigen Beitrag zur grundlagentheoretischen Arbeit leisten.

Der geplante Workshop zielt zum einen darauf ab, den state of the art zu dokumentieren und nach fast 20 Jahren kritisch Bilanz zu ziehen: Konnten die programmatischen Forderungen überhaupt eingelöst werden? Welche Fortschritte hat die theoretisch informierte Sozialforschung in der Soziologie gemacht? Welche Barrieren bleiben bestehen oder erwachsen aus den gegenwärtigen Bedingungen von Forschung? Wir möchten zum anderen aber auch dazu anregen, die Diskussion über den status quo hinausgehend weiterzudenken. Hierbei scheinen insbesondere mit Blick darauf, wie TE als Forschungsstrategie realisiert werden kann und welche – bisher nicht ausgeschöpften – Potenziale sie zu bieten hat, noch Fragen offen. Das Verhältnis von empirischer Forschung und Theoriebildung kann bereits in der Forschungskonzeption klar strukturiert und im Forschungsprozess entsprechend organisiert werden, jedoch lassen sich die Passungsverhältnisse von theoretischen Perspektiven, methodischem Vorgehen und empirischem Gegenstand auch offener anlegen und dynamischer entwickeln. Zentral ist die Frage danach, wie dies jeweils forschungspraktisch bewerkstelligt werden kann. Mithin steht die Angemessenheit der Passungsfrage zwischen Theorie und Empirie vor dem Hintergrund anhaltender und neuer Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse in der Methoden- und Theorieentwicklung per se zur Debatte.

Vor diesem Hintergrund stellen sich insbesondere folgende Fragen:

  1. Mittels welcher Forschungsdesigns können Theoriegrundlagen und empirische Erkenntnisse so miteinander verbunden werden, dass sie sich gegenseitig etwas zu›sagen‹haben? Was kann es grundsätzlich heißen, dass Theorie und Empirie zueinander passen – oder eben nicht?

  2. Die Möglichkeit einer empirisch fundierten Theorie-Irritation hängt wesentlich davon ab, wie (und ob) Forschende ihre Gegenstände jeweils widerständig machen können, damit diese›widersprechen‹können. In welcher Hinsicht und entlang welcher Kriterien können Theorien also irritiert werden?

  3. Wie viel Experimentalität jenseits etablierter Theorien-Methoden-Pakete verträgt die empirische Forschung? Wie (umfassend) lässt sich diese in Anbetracht der Forderung nach der Gegenstandsangemessenheit qualitativer Forschung realisieren? In welchen Phasen des Erkenntnisprozesses und in Anbetracht welcher Herausforderungen sind neue und originelle Kombinationen von Theorien und Methoden hilfreich?

  4. Inwiefern kann die Debatte um eine Theoretische Empirie dazu beitragen, die Diskussion über (ansatzübergreifende) Gütekriterien qualitativer Sozialforschung weiterzudenken (Strübing et al. 2018; Eisewicht und Grenz 2018)? Wie können Formen der Feststellung der Adäquanz von Theoriebezügen angesichts eines epistemologischen Pluralismus diskutiert werden?

  5. Wie verhält sich die qualitativ orientierte TE zur standardisierten Sozialforschung? Wie lässt sich, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Theoriebezüge qualitativer und quantitativer Forschung, Mixed-Methods Forschung theoretisch integrativ realisieren (Baur et al. 2017)?

  6. Welche Impulse können von der von Richard Swedberg (2014) angestoßenen Theorizing-Debatte ausgehen, um Theoretische Empirie weiterzuentwickeln, und was kann eine TE zum internationalen Theorie-Empirie-Diskurs beitragen (Abbott 2004; Tavory und Timmermans 2014)?

  7. Wie verhält sich eine TE zu den im deutschsprachigen Raum prominenten Debatten zur Methodisierung der Theoriearbeit oder zum Theorienvergleich (Anicker 2017, Neun 2020)?

Beitragsvorschläge im Umfang von max. 500 Wörtern (pdf-Dokument) richten Sie bitte bis spätestens 31.10.25 an Alexander Antony (alexander.antony(at)fau.de) und an Silke Steets (silke.steets(at)tu-berlin.de).