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Digitalisierung in der Sozialpolitik – Prozesse, Wirkungen und Perspektiven

Deadline: 31. Dezember 2025

Digitale Technologien prägen den Lebensalltag der meisten Bürger:innen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Umso erstaunlicher ist es, dass die sozialpolitische Forschung das Thema Digitalisierung nur selten explizit in den Blick genommen hat (vgl. Henman 2022). Auf den ersten Blick könnte es sich dabei um ein Spezifikum des nationalen Diskurses handeln. Deutschland wird in der Digitalisierungsforschung regelmäßig als Nachzügler betrachtet, der gegenüber anderen Wohlfahrtsstaaten in digitalen Transformationsprozessen aufzuholen hat (Behm/Klenk 2020). Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass das Thema auch im internationalen Diskurs weitestgehend ausgespart wird (Henman 2022). Die geringe Aufmerksamkeit könnte darin begründet liegen, dass die Digitalisierung bislang vor allem als Umstellung administrativer Prozesse verstanden wurde, bei der zwar analoge Verfahren digitalisiert werden, die grundsätzliche Funktionsweise des Sozialstaats jedoch unangetastet bleibt.

Dass Digitalisierungsprozessen auch ein größeres sozialpolitisches Transformationspotenzial inhärent ist, haben Forschungsarbeiten der jüngeren Vergangenheit herausgestellt, die Veränderungen am Arbeitsmarkt in den Blick nehmen (vgl. Busemeyer 2022). So stellen sich bei neuen Formen der Organisation von Erwerbsarbeit wie der Plattformarbeit oder hybrider Selbstständigkeit nicht nur Fragen der unmittelbaren sozialen Absicherung solcher Erwerbsverhältnisse, sondern auch weitreichendere Fragen nach den Implikationen eines lohnarbeitszentrierten Sozialversicherungssystems, etwa der Rentenversicherung (vgl. Nullmeier 2022).

Dabei lassen sich auch abseits des Arbeitsmarktes tiefgreifende Transformationspotenziale vermuten, die das sozialstaatliche Funktionsgefüge verändern können. Das zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern, beispielsweise mit dem Universal Credit System in Großbritannien (vgl. Bennett/Currie et al. 2024). Während Untersuchungen zu diesen Digitalisierungsprojekten die unmittelbaren Auswirkungen für Leistungsbeziehende in den Fokus rücken, steht eine Analyse der indirekten Wirkungen unter Rückgriff auf wohlfahrtsstaatstheoretische Perspektiven noch weitgehend aus. Erste Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass durch Digitalisierungsprozesse auch grundlegende Mechanismen des Sozialstaats wie das Versicherungsprinzip (Iversen/Rehm 2022) oder wohlfahrtsstaatliche Leitbilder wie Aktivierung und Eigenverantwortung (König 2017) vor einer tiefgreifenden Transformation stehen. Für ein umfassendes Verständnis der Transformation reicht ein Fokus auf den Prozess, dessen Wirkungen und Perspektiven sicher nicht aus. Ebenso stellt sich die Frage, ob die Digitalisierung auch Akteurskonstellationen und die Interessen beteiligter Stakeholder verändert. Neben der Neupositionierung bekannter drängen dabei zunehmend neue Akteure, wie Tech-Unternehmen, in das Feld (z.B. Lupton 2018).

Auch wenn Deutschland im Bereich der Digitalisierung der Sozialpolitik weiterhin als Nachzügler gilt, sind Bürgerinnen und Bürger mittlerweile hierzulande ebenfalls mit sozialpolitischen Digitalisierungsprozessen konfrontiert. Beispiele hierfür sind die digitale Rentenübersicht, digitale Pflegeassistenzsysteme und die elektronische Patientenakte. Mit einem Schwerpunktheft im Sozialen Fortschritt sollen solche sozialpolitischen Transformationsprozesse eingehender beleuchtet werden. Das Heft verfolgt die Arbeitshypothese, dass Digitalisierung mehr ist als die bloße Umstellung analoger auf digitale Verfahren. Sie verändert die Substanz und den Gestaltungsmodus von Sozialpolitik in struktureller, normativer und praktischer Hinsicht.

Vor diesem Hintergrund sind theoretisch und empirisch fundierte Beiträge zur Digitalisierung in unterschiedlichen Feldern der Sozialpolitik gefragt. Folgende Fragestellungen stehen dabei exemplarisch im Fokus:

• Welche Digitalisierungsprozesse zeichnen sich in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialpolitik ab (z. B. Pflege, Gesundheitswesen, soziale Dienste, Alterssicherung), und welche systematischen Veränderungen ergeben sich für Institutionen, Akteure und Adressat:innen?

• Welche Auswirkungen haben Digitalisierungsprozesse auf sozialpolitische Einstellungen, Wahrnehmungen und Präferenzen in der Bevölkerung?

• Inwiefern können klassische Theorien des Wohlfahrtsstaates (z. B. institutionell, normativ, funktionalistisch) zur Erklärung digitaler Transformationen herangezogen werden – oder bedarf es neuer theoretischer Instrumente?

• Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung für Zugänglichkeit, Inanspruchnahme und Teilhabe im Sozialstaat und welche Implikationen ergeben sich daraus für Grundrechte, wie informationelle Selbstbestimmung?

• Welche Konsequenzen ergeben sich durch die zunehmende Datafizierung der Sozialpolitik? Welche Bedeutung hat beispielsweise der Einsatz algorithmischer Systeme zur Unterstützung bzw. Automatisierung von Entscheidungen oder die Etablierung von Verfahren auf Basis prädiktiver Risikoabschätzungen?

• Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Digitalisierungsprozessen und sozialer Ungleichheit – etwa im Zugang zu Leistungen oder bei digitalen Kompetenzen?

• Inwieweit verändern sich sozialpolitische Leitbilder wie Aktivierung, Eigenverantwortung oder Solidarität durch Digitalisierung?

• Wie wird durch Digitalisierung Wissen erzeugt, verteilt und politisch wirksam gemacht – und welche Folgen hat dies für Steuerung und Governance im Sozialstaat?

Das Schwerpunktheft lädt daher dazu ein, theoretisch wie empirisch fundierte Beiträge einzureichen, die sich mit Digitalisierungsprozessen in unterschiedlichen Feldern der Sozialpolitik auseinandersetzen. Besonders willkommen sind auch international vergleichende Analysen.

Einreichung von Abstracts: Bitte senden Sie ein Abstract (max. 400 Wörter) bis zum 31.12.2025 an Felix Wilke (felix.wilke(at)eah-jena.de).

Zeitplan: Bei Annahme der Skizze ist der vollständige Beitrag bis zum 30.04.26 einzureichen. Angenommene Manuskripte sind eingeladen im Rahmen einer Tagung an der EAH Jena im Juli 2026 vorgestellt und mit Fachpublikum diskutiert zu werden. Die vollständigen Beiträge werden einem doppelten Begutachtungsverfahren unterzogen. Ziel ist es, das Heft Ende 2026 zu veröffentlichen.