Mit der SARS-CoV-2-Pandemie gerät Gesundheit als konstitutionelle Voraussetzung gelingender Vergesellschaftung in den öffentlichen Blick. Gesundheit wird fraglos als gesellschaftlicher Zentralwert erkannt und ganz offensichtlich kollektive (und nicht nur individuelle) Verantwortung dafür zugewiesen. Die Erhaltung von Gesundheit und die Vermeidung von Krankheit und Tod ist daher eine kollektive Anstrengung, die, so hat es jedenfalls den Anschein, alle anderen ge-sellschaftlichen Felder und Bereiche bestimmt, wenn nicht sogar dominiert. Diese Überlegung kann ein Ausgangspunkt für einen Kongress sein, in dem mit der Pandemie die herausragende Bedeutung von Gesundheit für Vergesellschaftung zu thematisieren ist. Das neuartige Coronavirus stellt nicht nur ein Gesundheitsproblem (unter vielen anderen) dar, vielmehr belegt ihn der öffentliche Diskurs als Bedrohung sozialer Ordnung schlechthin, die sich im Krisenmodus zu befinden scheint und sich immer wieder neu ausrichtet: Die Pandemie irritiert soziale Ordnung und stellt viele sicher geglaubte Gewissheiten in Frage.
Die Gesundheits- und Medizinsoziologie ist dazu aufgerufen, das Experimentierfeld der ›Corona-Gesellschaft‹ (Volkmer und Werner 2020) unmittelbar und in situ zu beobachten:
- In sozialstruktureller Hinsicht ist nach den Auswirkungen und Belastungen der Pandemie auf die Lebenschancen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten zu fragen: So liegt es fast auf der Hand, dass vorhandene gesundheitliche Ungleichheiten der sozialen Schicht, von Alter und von Geschlecht verstärkt werden. Wenn das zutrifft: Wie sind die Mechanismen zu erklären?
- Auf der Deutungs- und Konstruktionsebene ist nach den Gesundheits- und Körperver-ständnissen zu fragen: Zumindest für westliche Gesellschaften schien die Bedrohung durch Infektionskrankheiten längst gezähmt. Wie konzeptionieren Leute das neuartige Virus und die Krankheit? Welche Ängste und Mythen verknüpfen sich mit dem Virus? Und welche Konsequenzen haben solche Repräsentationen für Gesundheits- und Kör-perpraktiken, etwa beim Abstandhalten?
- Die aktuelle Pandemie ist nicht zuletzt eine Belastungsprobe für die kleinen Netze von Familie und Nachbarschaft. Im Hinblick auf den generativen Zusammenhalt ist nach den spezifischen Bedürfnissen und Situiertheiten von Altersgruppen zu fragen (Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer im Erwerbsalter, alte und hochaltrige Menschen), die in den Familien verhandelt werden. Daraus ergeben sich Fragen der sozialen Unter-stützung und der Nachhaltigkeit von Solidarbeziehungen in Familie und Nachbarschaft.
- Aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive stellen sich auch ganz praktische Fragen der Prävention gegen eine Infektion. Welche Maßnahmen wirken bei welchen Gruppen? Wie gestaltet sich die Risikokommunikation zwischen Wissenschaft, Öffent-lichkeit und Politik?
- Aus einer machttheoretischen Perspektive wäre das neue Verhältnis der Gesund-heitswissenschaften und Staat in den Blick zu nehmen. Für beide ist Infektion und In-fektionsschutz zum zentralen Paradigma geworden, trotzdem muss Anschlussfähigkeit erst hergestellt werden. Wie übersetzen sich also wissenschaftliche Kalküle der Wahr-heit in politische Kalküle der Macht? Und welche Bedeutung in diesem Übersetzungs-verhältnis nehmen die Massenmedien ein?
Obwohl die Pandemie außergewöhnlich ist und Ordnung irritiert, scheint sie in vieler Hinsicht schon bestehende Trends zu beschleunigen und Probleme zu verstärken.
- Das zeigt sich nicht zuletzt am Stand der Digitalisierung, mit deren Fortschreiten sich die expertielle Medizin und das Gesundheitshandeln der Laien entgrenzt. Neue Medien scheinen eine Eigendynamik zu entfalten, in der sie zu Trägern neuer Gesundheitsprak-tiken werden und neue Orientierungen auf Gesundheit produzieren; gleichermaßen ver-ändern sie auch expertielles Handeln.
- In methodischer Hinsicht – sowohl für die quantitativen als auch für qualitative Verfah-ren – sind Herausforderungen und Chancen für die Erhebung und Analyse von Gesund-heit und von Gesundheitshandeln durch digitalisierte Daten und digitale Verfahren zu eruieren.
- Gesundheit ist ein globales Phänomen und nicht auf Einzelgesellschaften beschränkt. Insofern ist weiter nach internationalen Verflechtungen, nach dem Vergleich von Ge-sundheitssystemen sowie nach der internationalen Zusammenarbeit im Gesund-heitssektor zu fragen.
- Schließlich ist auch weiterhin die Spezialisierung von Versorgungsstrukturen in den Blick zu nehmen. Etwa: Wie Krankheiten in darauf abgestellten Versorgungspfaden bes-ser behandelt werden? Wie lassen sich neue Versorgungswege institutionalisieren? Und welche neuen Muster der Arbeitsteilung ergeben sich daraus, etwa durch die Entste-hung neuer Professionen?
Da die pandemiebedingten Beschränkungen vermutlich auch noch im März 2021 bestehen werden, ist es bislang geplant den Kongress als Hybrid-Veranstaltung in der Siemensstiftung in München stattfinden zu lassen. D.h. körperlich anwesend sein dürften nach derzeitigem Kenntnisstand 40 Personen und die Vorträge werden zusätzlich per Zoom an angemeldete Online-TeilnehmerInnen übertragen. Mit dem fertigen Programm ist Mitte Februar 2021 zu rechnen.
unsere Sektion veranstaltet am 4. und 5. März gemeinsam mit den Medizin- und Gesundheitssoziologiesektionen aus Österreich und der Schweiz sowie mit der DGMS den Dreiländerkongress.
Wir laden Sie herzlich ein an der Veranstaltung teilzunehmen. Die Veranstaltung wird digital stattfinden – bitte melden Sie sich bis 2.März 2021 unter folgendem Link für die Veranstaltung an.
https://www.tu-chemnitz.de/hsw/soziologie/Institut/DreilaenderKongress21/reg.php
Die Veranstaltung wird durch die freundliche Unterstützung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung möglich.