Seit den 1990er Jahren hat sich die Ethnografie im deutschsprachigen Raum als ein wichtiger Bestandteil der Forschung im Feld der Pädagogik der frühen Kindheit etabliert (Bollig & Cloos, 2018; Panagiotopoulou, 2013). Sie zeichnet sich durch methodische Flexibilität und Pluralität aus, die es ermöglichen, das komplexe und dynamische Zusammenspiel der Akteur:innen in Praxisfeldern des Systems der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern gegenstandsangemessen zu erfassen. In den verschiedenen Bezeichnungen für ethnografische Ansätze wie ›Forschungsstrategie‹ (Breidenstein et al., 2020; Knoblauch & Vollmer, 2019), ›Forschungsprogramm‹ (Knoblauch & Vollmer, 2019) oder ›Forschungshaltung‹ (Breidenstein et al., 2020) spiegelt sich diese Methodenvielfalt wider.
Als zentrales Element ethnografischer Feldforschung, verstanden als ›in-depth study of collective life‹ (Bailey, 2020, S. 734), kann jedoch die intensive, häufig langfristige Einbindung der Forschenden in Untersuchungsfelder wie Kindertageseinrichtungen markiert werden. Die teilnehmende Beobachtung als Schlüsselmethode (Becker & Escher, 2013) zielt darauf ab, ein (Mit-)Erleben alltäglicher Kita-Praxis zu ermöglichen und so die sozialen und materiellen Strukturen, die das Leben der Akteur:innen im Feld prägen, zu verstehen.
Offenheit im Forschungsdesign und die Flexibilität, sich auf Unerwartetes einzulassen (Bollig & Cloos, 2018; Friebertshäuser & Panagiotopoulou, 2013) sowie die Reflexion der eigenen Positionalität, sind zudem entscheidende Qualitäten ethnografischer Forschung auch im Feld der Pädagogik der frühen Kindheit. Dabei besteht eine methodologische Herausforderung darin, das Forschungsfeld nicht lokalistisch verkürzt (Neumann, 2013), sondern vielmehr als Teil des Forschungsgegenstandes zu begreifen (Göbel, 2018; Holztrattner, 2024). Der ›repräsentationalistische Glaube an [...] schon vorhandene Phänomene‹ (Barad, 2023, S. 9) führt gleichwohl noch immer häufig zu einem ›Verständnis vom Forschungsfeld, das als ›Wirklichkeit da draußen‹ wie eine gleichsam beobachtungsunabhängige Tatsache behandelt wird‹ (Neumann, 2013, S. 15). Um dieser Aufgabe zu begegnen, lassen sich folgende Fragen stellen: Welche Feldverständnisse liegen ethnografischen Arbeiten im Kontext der Pädagogik der frühen Kindheit zugrunde? Wie schreiben sich Felder in Beobachtungsprotokolle und Analysen ein? Inwiefern trägt ethnografische Forschung dazu bei, tradierte Vorstellungen und Grenzen des Forschungsfeldes zu hinterfragen und weiterzuentwickeln?
Forschende in Kitas sind mit vielfältigen Zuschreibungen konfrontiert – sie sind Erwachsene, Wissenschaftler:innen, ggf. selbst pädagogische Fachkräfte oder (keine) Eltern, aber auch bspw. vergeschlechtlichte und migrantisierte Personen. Hieraus resultierende Differenz-, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse drohen jedoch mit wenigen Ausnahmen (z.B. von Kubandt, 2016; Kuhn, 2013 und Machold, 2015) übersehen zu werden, wenn gesellschaftliche oder institutionelle Positionalitäten sowohl der Forschenden als auch anderer Akteur:innen unberücksichtigt bleiben. Intersektionale Verwobenheiten zu berücksichtigen, eröffnet dagegen den Raum, machtvolle Verstrickungen und blinde Flecke aufzudecken.
Darüber hinaus sind Kindertageseinrichtungen Organisationen mit spezifischen Dynamiken, verwoben in bestimmte Feldverhältnisse und Diskurse, die das Handeln der beteiligten Akteur:innen prägen. Diese Strukturen, innerhalb derer sich auch Forschende bewegen, werden von den Akteur:innen in spezifischer Weise interpretiert und in soziale Praktiken übersetzt (Sydow, 2014). Kita-Praxis (auch) als Organisationsprodukt zu begreifen (Cloos, 2016), ist bedeutsam, um Forschung so zu gestalten, dass sie der Komplexität und Dynamik übergeordneter Zusammenhänge möglichst gerecht werden kann.
Sondiert man im Feld bereits bestehender Ethnografien, so lassen sich unterschiedliche Zugänge, thematische Schwerpunkte und methodologische Herausforderungen identifizieren. Erste Differenzierungen und Systematisierungen von Ethnografien mit Kita-Bezug (Buchbinder et al., 2006; Panagiotopoulou, 2013) bieten wichtige Anknüpfungspunkte, um das komplexe Gefüge der sozialen und institutionellen Dynamiken in Kitas zu erfassen.
Der geplante Sammelband schließt hier an und verfolgt das Ziel, Bestandsaufnahmen von Ethnografien in Praxisfeldern der frühen Kindheit zu bündeln und die aktuelle Vielfalt der theoretischen und methodologischen Überlegungen sowie empirischen Forschungsprojekte sichtbar zu machen. Ziel ist es, bestehende ethnografische Ansätze zu systematisieren, zu reflektieren, weiterzuentwickeln sowie aktuelle und neue Perspektiven auf Praxisfelder der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern zu eröffnen.
Mit diesem Call laden wir dazu ein, Beiträge einzureichen, die sich mit ethnografischer Forschung in Bezug auf ›Erziehung, Bildung und Sorge in sozialen, ökologischen, institutionellen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Dynamiken in der ersten Epoche des Lebens befassen‹ (Kommission Pädagogik der frühen Kindheit, 2024).
Beiträge können sich an folgenden Aspekten ausrichten:
- Theoretische Implikationen und Herausforderungen
- Methodologische/methodische Überlegungen bzw. Herausforderungen
- Ontologische und epistemologische Überlegungen
- Forschungsethische Herausforderungen
- Empirische Erkenntnisse (Systematisierung von Ethnografien oder eigene Forschung)
- Einblick in Forschungsprozesse und Strategien (Design, Datenproduktion, Analyse...)
Einreichung von Beiträgen
Wir bitten um Einreichung eines aussagekräftigen Abstracts (max. 3.500 Zeichen inkl. Leerzeichen, exkl. Literatur) bis zum 15.03.2025 an jan.peeters(at)ph-freiburg.de. Eine explizite Verortung innerhalb der genannten Themenbereiche ist wünschenswert. Die Rückmeldung erfolgt im Mai 2025. Die Frist zur Einreichung der ausgearbeiteten Beiträge im Umfang von 30.000-40.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen, inkl. Literatur) endet am 15.10.2025. Anschließend durchlaufen die Beiträge ein Doppel (Peer-)Review Verfahren, an dem auch die Autor:innen beteiligt sind. Die Veröffentlichung des Sammelbandes in der Reihe der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit der DGfE im Beltz-Verlag ist für 2026 geplant.