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›Fall und Fallförmigkeit – Organisationsbezug und Digitalität von Fällen und Fallbearbeitung‹

Deadline: 05. April 2024

Fälle und ihre Bearbeitung prägen eine Vielzahl sozialer personenbezogener Organisationen (Klatetzki 2010, Hasenfeld 2010). Konstruktion und Bearbeitung von Fällen sind nicht nur durch professionelles Deuten und Handeln, sondern auch durch Organisationen und ihre Logiken geprägt (Büchner 2018). Fälle und Fallbearbeitung finden sich entsprechend in zahlreichen gesellschaftlichen Feldern – von der organisierten Krankenbehandlung (Vogd et al. 2018), über die Gewährung von Asylanträgen (Lahusen & Schneider 2017), die Bearbeitungen von Fällen in Jugend- und Arbeitsämtern (Ackermann 2017, Weinbach 2012), die polizeiliche Ermittlungsarbeit (Brodeur 2010) bis hin zur staatlichen Überwachung von Terrorverdächtigen (Dosdall & Löckmann 2023). In diesem Sinne werden unter anderem Verdächtige, Bürger:innen, Familien und junge Menschen, Geflüchtete und Patient:innen zu potenziellen Fällen in unterschiedlichen soziotechnischen Arrangements. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Fallbearbeitung Gegenstand umfassender sozialer, technischer und soziotechnischer Optimierungen ist.

Der weiten Verbreitung von Fällen und Fallförmigkeit als Modus des Operierens steht ein Forschungsstand gegenüber, in dem Fallbearbeitung als komplexes Geschehen vor allem aus einer Professionsperspektive untersucht wird (Bergmann et al. 2014). Diese Perspektive gilt es, theoretisch- konzeptuell und empirisch zu erweitern. Begreift man Fallförmigkeit, ähnlich wie Projektförmigkeit (Sydow & Windeler 2020, Besio 2014), als besonderen Organisations- und Arbeitsmodus, stellen sich u.a. folgende Fragen: Wie lässt sich Fallförmigkeit als Phänomen charakterisieren? In welchem Bezug steht sie zu Organisation? Wie rekonfigurieren digitale Technologien und Datafizierung Fallförmigkeit, Fälle und Fallbearbeitung? Im programmatischen Sammelband ›Fall und Fallförmigkeit – Organisationsbezug und Digitalität von Fällen und Fallbearbeitung‹ gehen wir genau diesen Fragen nach. Hierbei orientieren wir uns an einer Arbeitsdefinition, nach der sich Fälle bereichsübergreifend als Problemkomplexe begreifen lassen, die an Personen zurückgebunden sind (Büchner 2018, S. 80, Luhmann 2013, S. 205).

Wie diese Rückbindung gestaltet ist und wann sie relevant wird, liegt damit nicht in der ›Natur des Falls‹, sondern ist eine empirische Frage. Es scheint klarer zu sein, wie sich diese Rückbindung nicht gestaltet: Personen stehen nicht notwendig im Zentrum von Fallbearbeitung, wie nicht zuletzt Forderungen nach mehr Patient:innenorientierung in der Medizin oder nach Personenzentrierung in der Sozialen Arbeit zeigen. Diese Rückbindungen sind nicht eindeutig und zugleich von starken gesellschaftlichen Idealisierungen geprägt. Organisationen, die fallförmig arbeiten, sind entsprechend zunehmend Adressen dieser überschießenden gesellschaftlichen Erwartungen – nach mehr Sicherheit, weniger Fehlern oder passgenaueren Angeboten und Hilfen (Kette 2015). Während mit Koselleck ([1989] 2017) gesprochen der ›Erwartungshorizont‹ der Fallbearbeitung weit gespannt ist, ist Fallförmigkeit wissenschaftlich noch weit davon entfernt, als ›Erfahrungsraum‹ ausgeleuchtet worden zu sein.

In sachlich-sozialer Hinsicht lässt genau diese offene Relationierung, die Rückbindung von Problemkomplexen an Personen, soziomaterielle Fragestellungen und die Vulnerabilität von Menschen für Fallbearbeitung bedeutsam werden (z.B. Schutzbedürftigkeit von Kindern, Diskriminierung und Scham). In zeitlicher Hinsicht ist auffällig, dass Fallförmigkeit vor allem dort auftaucht, wo Organisationen nicht mit punktuellen Einmalkontakten zu Bürger:innen arbeiten, sondern wiederholte Kontakte die Regel sind. Dort müssen zugleich Problemlagen, die selektiert und für relevant erklärt werden, über einen gewissen Zeitraum konstruiert, stabilisiert und angepasst werden.

Dieser Band zielt darauf ab, Fallförmigkeit und Fallbearbeitung als besonderes Phänomen, als Organisations- und Arbeitsform theoretisch und empirisch-konzeptionell zu charakterisieren. Insbesondere drei Gründe sprechen für eine solche programmatische Diskussion:

Erstens tendieren Fallförmigkeit und Fallbearbeitung dazu, in der Aufmerksamkeit von Forschenden in den Hintergrund zu treten. Die Eigenkomplexität von sozialen personenbezogenen Organisationen und die Fragmentierung der Forschungslandschaft befördern es, dass Fallförmigkeit und Fallbearbeitung zwar in Analysen der Asylgewährung, der Arbeitsvermittlung oder der Behandlung im Krankenhaus als Thema bzw. empirischer Gegenstand vorkommen. Allerdings werden diese selten in ihrer konzeptuellen Besonderheit in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Damit wird das analytische Potenzial der Fallförmigkeit nicht ausgeschöpft. Mitunter fehlt das Interesse, Fallförmigkeit genauer zu beschreiben und zu explorieren. Entsprechend wenige Arbeiten analysieren Fallförmigkeit vergleichend, etwa im Kontrast zu projektförmigen oder auch biografieorientierten Formen des Beobachtens und Arbeitens (z.B. Heimer 2001).

Zweitens wächst angesichts multipler Krisen der Druck auf die öffentliche Daseinsfürsorge, die in weiten Bereichen fallförmig operiert. Einsichten in die strukturellen und prozessorientierten Besonderheiten von Fallförmigkeit und Fallbearbeitung können Positionierungen und Aushandlungen über realistische, wünschbare und problematische Formen der Weiterentwicklung und Effizientmachung von Fallbearbeitung informieren (Scherr 2023). Hierzu ist insbesondere bedeutsam, dass Fallbearbeitung kein singuläres Geschehen ist, sondern unter ›Falllasten‹ operiert. Auch wenn etwa in der Ausbildung von Lehrer:innen Fallanalysen häufig auf einzelne Schüler-Lehrer Interaktionen fokussieren, ist Lehrer:innenkommunikation ›immer eine one-to-many-Kommunikation‹ (Reichertz 2014, S. 28). Dieses reguläre Mehr an Fällen zu berücksichtigen, stellt auch in Analysen des Scheiterns, etwa bei Kinderschutzfällen mit Todesfolge, eine Herausforderung dar (Seibel et al. 2017). Vor diesem Hintergrund lässt sich Fallbearbeitung im organisationalen Alltag als plural und fragmentiert verstehen (Büchner 2018, S. 233ff.). Fälle werden selten konzentriert und am Stück, sondern meist innerhalb einer ›Fallökologie‹ (Dosdall & Löckmann 2023) bearbeitet. Hier stehen Fälle regulär im Wettbewerb um Ressourcen wie Aufmerksamkeit, finanzielle Mittel oder Reflexionszeit.

Drittens schließlich ist Fallbearbeitung Gegenstand umfassender soziotechnischer Optimierungen. Entlang der drei Optimierungsregime der Steigerung, Perfektionierung und des Wettbewerbs (Bröckling 2021) soll Fallbearbeitung effizienter werden, Fehler sollen reduziert und Lösungskapazitäten erweitert werden. Es gilt, innovative Initiativen der Optimierung anzustoßen oder aus anderen Kontexten zu übernehmen. Getragen von der Hoffnung eines ›doing more with less‹ (Hupe & Buffat 2014, S. 557) werden weite Bereiche von Fallbearbeitung digitalisiert und mit digitalen Technologien zu optimieren versucht. Fallbearbeitung wird hierdurch zum Teil widersprüchlich konfiguriert. So weisen beispielsweise Analysen digitaler Technologien darauf hin, wie digitale Infrastrukturen zwischen Schulen und Ministerien neue Diskussionen über Schüler:innengruppen und Schulperformanz anstoßen (Ratner & Plotnikof 2021) oder Wahrnehmungen von Personen als Fälle verändern, wenn Data-Dashboards Schüler:innen als Risikoobjekte (Jarke & Macgilchrist 2021) in der schulischen Intervention rahmen. Zugleich zeigt sich, dass Funktionen wie Alarmierungen z.B. auf Intensivstationen vor allem sozial hergestellt und relevant gemacht werden – der Teppich an Warntönen und visuellen Signalen ersetzt keine soziale Alarmierung, sondern macht diese notwendiger und anspruchsvoller (Büchner et al. i.E.).

Für die Schärfung und Konturierung von Fallförmigkeit und Fallbearbeitung laden wir bis zum 05. April 2024 Beiträge ein, die sich konzeptuell-theoretisch, empirisch-konzeptionell oder methodologisch mit einer oder mehreren der folgenden Fragen beschäftigen.

Fallförmigkeit und Fallbearbeitung:

  • Von welchen Formaten des Beobachtens und des Operierens unterscheidet sich Fallförmigkeit (z.B. Projekt- und Biografieorientierung)?
  • Was sind Struktur- und Prozessbesonderheiten von Fallbearbeitung (z.B. in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension?)
  • Wie moderiert Fallförmigkeit die Herstellung emotionaler Nähe und Distanz?
  • Wie gestaltet sich die Rückbindung von Fällen zu Personen? Wie werden deren Vulnerabilitäten in der Fallbearbeitung (ir-)relevant gemacht?
  • Welche Ähnlichkeiten und Differenzen charakterisieren zukunftsgerichtete (z.B. Prävention, Hilfe) und vergangenheitsorientierte (z.B. Ermittlungen) Fallbearbeitungen?
  • Was sind Grenzfälle und Grenzbereiche von Fallförmigkeit?

Organisation und Organisiertheit von Fällen und Fallbearbeitung:

  • Wie wirken sich intra- und interorganisationale Arbeitsteilungen auf die Bearbeitung von Fällen aus?
  • Wie reorganisieren Kategorisierungen Fallbearbeitung?
  • Wie funktioniert Fallbearbeitung über Organisationsgrenzen hinweg?
  • Welche Rolle spielen Kategorisierungen in der gemeinsamen Fallbearbeitung zwischen Organisationen?
  • Welche organisationalen und soziotechnischen Problemkomplexe sind typisch für Fallförmigkeit und Fallbearbeitung?
  • Wie rekonfigurieren Datafizierung und digitale Technologien die Planung und Koordination von Fallbearbeitungen?

Fälle und Fallbearbeitung in digitalen Transformationsprozessen:

  • Was hat Digitalität mit der Form des Falls zu tun? Wie werden Fälle in unterschiedlichen Kontexten geformt?
  • Wie rekonfigurieren digitale Technologien Fallbearbeitung?
  • Welche neuen Arrangements der Fallbearbeitung entstehen durch algorithmische Entscheidungsunterstützungssysteme, Dashboards oder Initiativen der data-driven governance?
  • Wie werden zusammenhängende Problemkomplexe in Datenbanken und Interfaces arrangiert? Wie wird die Dokumentation der Fallbearbeitung digitalisiert?
  • Personen, Organisationen und ihre Fälle – Was sind Herausforderungen in der Gestaltung digitaler Systeme (z.B. elektronische Patientenakte), die von Organisationen und Fall-Personen genutzt werden?
  • Wie werden Bedarfe der digitalen Unterstützung von Fallbearbeitung identifiziert und begründet?
  • Welche Leitbilder und Imaginaries prägen gesellschaftliche Verständnisse von Fallbearbeitung und ihrer Digitalisierung?

Wir freuen uns auf Ihre Abstracts (2-3 Seiten) bis zum 05. April 2024 an k.braunsmann(at)ish.uni-hannover.de.

Der Band wird im Winter 2025 bei transcript als Open Access Veröffentlichung erscheinen. Rückmeldungen zu den Beiträgen geben wir bis zum 30. April 2024.

Übersicht zur Timeline:

05.04.24: Einreichungsschluss der Abstracts
30.04.24: Aussendung der Rückmeldungen zu den Abstracts
01.11.24: Einreichungsschluss für die Beitragsmanuskripte
25./26.11.24: Autor:innenworkshop (1,5 Tage, Anreise- und Übernachtungskosten werden übernommen) 31.03.25: Einreichungsschluss der überarbeiteten Manuskripte
30.05.25: Aussendung der Reviews
15.08.25: Einreichungsschluss der finalen Manuskripte
Winter 2025: Veröffentlichung

Bei Rückfragen schreiben Sie uns gerne: s.buechner(at)ish.uni-hannover.de & k.braunsmann(at)ish.uni-hannover.de