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Fragile Behausungen. Prekäres Wohnen und Wohnungslosigkeit in Zeiten multipler Krisen

Deadline: 20. Januar 2024

Behausungen in Form von Wohnbauten und Wohnungen schützen Menschen nicht nur vor der sie umgebenden Natur und Umwelteinflüssen wie Nässe, Kälte, Wind oder Sonneneinstrahlung, sie strukturieren auch das Zusammenleben mit und die Beziehungen zu anderen Menschen und sind existentieller Ausdruck des Lebens und Mensch-Seins, indem sie eine Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Mitwelt ermöglichen. Die technischen Mittel der Dach-Mauern-Konstruktionen schaffen einen geschlossenen, privaten Raum, der es Menschen erlaubt, der gesellschaftlich erwarteten Verhäuslichung und Verbergung der meisten leiblichen Vitalfunktionen gerecht zu werden (Gleichmann), darunter Toilettengänge, Körperpflege, Entkleiden und Bekleiden, Schlafen und Sexualgeschehen und Gastlichkeit. Im Prozess des Einwohnens (Hasse) machen Menschen sich ansässig, sie beheimaten und verwurzeln sich, dadurch, dass sie Routinen und Sicherheiten im Umgang mit den vertrauter werdenden Räumen und Dingen der Wohnung, Nachbarschaft und dem Quartier entwickeln. Der dauerhaft verfügbare Wohnraum wird von Menschen angeeignet, gestaltet, kultiviert und erlebt, er ist leiblich spürbar und die Bewohnenden fühlen sich mit ihm sinnlich-emotional verbunden. Menschen gehen durch Gebrauch oder ästhetischer Betrachtung eine körperliche und geistige Wechselwirkung zu den in der Wohnung befindlichen Dingen ein und schreiben diesen Bedeutungen zu. Das Behaustsein (Breckner) in Form eines eigenen, in der Regel mietrechtlich abgesicherten oder sich im Eigentum befindlichen Wohnraums wird zur Basis von allem: Die Wohnung trägt zum physischen, psychischen und sozialen Wohlbefinden von Menschen bei, fungiert als Voraussetzung von sozialer, kultureller, politischer und digitaler Teilhabe und lässt vielfältige soziale Praktiken alltäglicher Lebensführung zu, wie u.a. Reproduktions- und Care-Arbeit, die Herstellung von Sicherheit und Erholung sowie den sozialen Austausch im Nahbereich. Auf diese Weise identifizieren sie sich mit dem Ort und entwickeln und behaupten ihre eigene Identität. Der eigene Wohnraum stellt ein menschliches Grundbedürfnis dar und ist daher verfassungsrechtlich besonders geschützt und als Grund- und Menschenrecht artikuliert.

Multiple Krisen, allen voran die Krise auf dem Wohnungsmarkt bzw. der Mangel an leistbarem Wohnraum in urbanen Settings, die Inflation mit steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten bis hin zur COVID-19-Pandemie, dem Ukrainekrieg und dem Klimawandel, führen dazu, dass sich immer mehr Menschen in fragilen Behausungen befinden. Fragile Behausungen als gesellschaftlich hergestelltes Phänomen können sich erstens auf Formen der prekären Wohnverhältnisse beziehen: Obwohl eine Mietwohnung vorhanden ist, bietet diese Behausung keinen Schutz und kein Zuhause, da sie beengt ist, häusliche Gewalt erlebt wird oder ein baldiger Wohnungsverlust angenommen wird. Letzteres Phänomen ist u.a. Prozessen der residentiellen Segregation, Gentrifizierung, Deregulierung, Neoliberalisierung und Finanzialisierung der Wohnungsmärkte geschuldet und führt zu einer Entsicherung des Wohnens, da subjektive Unsicherheiten und Ängste entstehen, ob die hohe Mietbelastung dauerhaft getragen werden kann, ob Mietpreissteigerungen drohen oder Entmietungen durch Modernisierungsmaßnahmen stattfinden. Fragile Behausungen beziehen sich zweitens auf Formen der Unterbringung für wohnungslose Menschen wie ordnungsrechtliche und sozialarbeiterische Unterbringungen in Notunterkünften, Gemeinschaftsunterkünften, Sammelunterkünften, Wohnheimen, Wohngruppen oder Übergangswohnungen ohne Mietvertrag. Die Behausungen bieten als Mehrbettzimmer und Schlafsäle ein (tages-)zeitlich begrenztes Obdach ohne Privatsphäre, die Wohnverhältnisse bieten vielfach ungenügende Wohn- und Versorgungsstandards und werden häufig als menschenunwürdig wahrgenommen. Mit fragilen Behausungen ist drittens die Inanspruchnahme informeller Unterstützungsnetzwerke für die Übernachtung gemeint, wenn bei Freunden, Verwandten oder Bekannten im Sinne eines Couchsurfings oder Sofa-Hoppings genächtigt wird. Hier werden häufig Zwangs- oder Zweckbeziehungen eingegangen, die durch hohe Abhängigkeit geprägt sind und zu Konflikten, psychischen Belastungen und sexueller Ausbeutung führen können. Viertens beziehen sich fragile Behausungen auf Formen der Obdachlosigkeit: Kenn- zeichnend hierfür ist, dass die wohlfahrtsstaatlichen Hilfeangebote geringfügig oder gar nicht genutzt werden und Menschen versuchen, die Wohnungsnotfallsituation in Körperbehausungen (Hilti) wie Schlafsäcken oder Kartons zu bewältigen, indem sie›Platte machen‹ sie übernachten›auf der Straße‹ in Abbruchhäusern, Gartenlauben, Zelten oder Kellern, unter Brücken oder einem wie auch immer beschaffenen Unterschlupf. Insgesamt verweisen Facetten der Fragilität von Behausungen auf materielle, soziale, affektive, psychische, politische, ökonomische und figurative Praktiken, Prozesse, Zustände und Strukturen.

Die Konferenz›Fragile Behausungen. Prekäres Wohnen und Wohnungslosigkeit in Zeiten mul- tipler Krisen‹lädt dazu ein, wissenschaftliche Beiträge zu versammeln, die die Situation, Deutungen oder Praxen von Menschen in fragilen Behausungen analysieren (Mikro-Ebene), auf die wohlfahrtsstaatlichen, kommunalen, sozialarbeiterischen, zivilgesellschaftlichen oder politischen Bearbeitungen des sozialen Phänomens fragiler Behausungen durch Organisationen der Problembearbeitungen, Institutionen oder soziale Bewegungen fokussieren (Meso- Ebene), gesellschaftliche Diskurse, Sozialstrukturen, Systeme oder kollektive Phänomene thematisieren (Makro-Ebene) oder Phänomene erforschen, die auf verschiedenen Maßstabs- ebenen angesiedelt sind. Forschende im Feld von fragilen Behausungen treten in Kontakt zu Menschen, die in der Forschungsliteratur als›vulnerabel‹›hard-to-reach‹oder›marginalisiert‹beschrieben werden. Daher freuen wir uns insbesondere über Beiträge, die in reflexiver Weise das Othering von Beforschten, den Konstruktionscharakter von wissenschaftlichen Kategorien, ethische und methodologische Fragen der Beziehungsgestaltung und des Feldzugangs sowie Möglichkeiten und Grenzen der partizipativen Forschung erörtern.

Die Ausschreibung ist themenoffen und will möglichst viele Facetten von und Perspektiven auf das soziale Phänomen fragiler Behausungen vereinen und verhandeln. Die dreitägige Konferenz soll ein geeignetes Austauschformat sein, um den Forschungsstand innerhalb der Wissenschaften (Sozial-, Kultur-, Kunst-, Geistes- und Naturwissenschaften) als auch mit Akteur*innen aus Politik, Verwaltung, Praxis der Sozialen Arbeit und Selbstvertretungen wohnungsloser Menschen zu diskutieren. Wir erwarten theoretische und empirische sowie disziplinäre, interdisziplinäre, raumvergleichende oder ländervergleichende Beiträge, die spezifische Betrachtungsweisen auf prekäres Wohnen und Wohnungslosigkeit einnehmen. Auch studentische Arbeiten sind willkommen, sofern es sich um Ergebnisse aus Qualifizierungsarbeiten (Bachelor, Master) handelt. Neben wissenschaftlichen Vorträgen und Workshops sollen besondere offene Formate angeboten werden, um Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen.

Konferenz-Formate

  • Vortrag: Der mündliche Vortrag auf der Grundlage von wissenschaftlicher Forschung kann von einer Einzelperson oder mehreren Personen eingereicht werden. Das Abstract sollte sich auf das Thema der Konferenz beziehen. Die Dauer des Vortrags beträgt 20 Minuten gefolgt von einer 10-minütigen Diskussion.
  • Ad-Hoc-Gruppe (Session mit Vorträgen): Die Ad-Hoc-Gruppe ist ein selbstorganisiertes Seminar mit drei bis vier mündlichen Vorträgen auf der Grundlage von wissenschaftlicher Forschung. Die Vorträge werden in derselben Sitzung zu einem gemeinsamen Thema präsentiert, das dem Thema der Konferenz entspricht.
  • Posterpräsentation (Vorstellung von Forschungsergebnissen oder Projekten): Die Posterpräsentation kann von einer Einzelperson oder mehreren Personen erstellt werden. Die Poster werden während der Konferenz ausgestellt. Zudem findet eine Poster-Session statt, in der die Autor*innen Fragen zu ihrem Poster beantworten.
  • Open-Space-Beitrag (Mitmach-Formate): Dieses Format soll Räume eröffnen, um sich über wissenschaftliche Forschung zum Thema der Konferenz auszutauschen. Es können Vorschläge für freie Formate wie u.a. Barcamps, Workshops oder World-Cafés eingereicht werden.
  • Buchvorstellung: Autor*innen von Veröffentlichungen (Dissertationen, Sammelwerke, Monografien) haben die Möglichkeit, während der Konferenz in einem 20-minütigen Format ihr Buch vorzustellen, welches in Verbindung zur Konferenz steht.

Einreichung

Bitte verfassen Sie Ihren Vorschlag für ein Konferenz-Format in Form eines Abstracts von maximal 250 Wörtern für Vorträge, Posterpräsentationen oder Buchvorstellungen und maximal 900 Wörtern für Ad-Hoc-Gruppen oder Open-Space-Beiträge. Bitte geben Sie bei der Einreichung an, für welches Konferenz-Format Sie sich bewerben. Zudem bitten wir um eine Autor*innen-Info mit maximal 100 Wörtern für alle Beitragenden (Kurzportrait mit beruflichem/persönlichem Hintergrund, Kurzbiografie, Arbeitsschwerpunkte).

Senden Sie alle Unterlagen an wolokon(at)th-nuernberg.de. Für Rückfragen steht Ihnen das Organisationsteam unter dieser E-Mail-Adresse jederzeit zur Verfügung. Die Deadline für den Call for Papers ist der 20. Januar 2024! Im Anschluss an die Konferenz werden alle Abstracts und Autor*innen-Infos in der digitalen Schriftenreihe›Prekäres Wohnen und Wohnungslosigkeit‹der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm veröffentlicht. Zudem werden ausgewählte Beiträge als wissenschaftliche Buchbeiträge in einem Sammelband veröffentlicht.