Aktuell

Für eine breite sozialwissenschaftlich fundierte Schulbildung

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Januar 2016

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Januar 2016

Ökonomische Bildung steht hierzulande hoch im Kurs – ebenso wie die Bemühungen, sie von sozialwissenschaftlicher Einbettung freizuhalten. Im Herbst letzten Jahres hatte die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände den bemerkenswerten Versuch unternommen, durch Intervention beim Bundesinnenministerium ein Verbreitungsverbot des von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebenen Themen- und Materialienbandes ›Ökonomie und Gesellschaft‹ zu erwirken. Parallel dazu wurden und werden in Baden-Württemberg heftige öffentliche Diskussionen um den umstrittenen, von der rot-grünen Landesregierung vorgelegten Bildungsplan zum Schulfach ›Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung an allgemeinbildenden Gymnasien‹ geführt. Darin ist eine umfangreiche Einführung in Wirtschaftsprozesse und wirtschaftliches Handeln vorgesehen, deren Stundenkontingent zu Lasten der Vermittlung sozialwissenschaftlicher Perspektiven im Allgemeinen und auch spezifischer soziologischer Bildung im Speziellen geht. Entsprechende Entwicklungen deuten sich auch in den Lehrplänen anderer Bundesländer an. Umso relevanter erscheint eine jüngst veröffentlichte Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung, die sich für ideologiefreie Unterrichtsbeiträge ausspricht, den Vertretern und Vertreterinnen der sozialwissenschaftlich ausgerichteten sozioökonomischen Bildung aber im selben Atemzug die ›wissenschaftliche Dignität‹ ihrer Position abspricht.

Angesichts der intensiven lobbyistischen Aktivitäten von Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftsbildungsorganisationen hält es die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) für geboten, ihrerseits in die Debatte zu intervenieren. Denn es soll zwar nicht angezweifelt werden, dass solide Grundkenntnisse ökonomischer Prozesse wichtig sind, um Schülerinnen und Schülern Analyse- und Handlungskompetenzen zu vermitteln, die für das Leben in einer zunehmend ökonomisierten Gesellschaft unabdingbar sind. Gleichzeitig betrachtet die DGS jedoch erstens mit großer Sorge, wenn im Wirtschaftslehreunterricht die weitgehende oder gar ausschließliche Vermittlung binnenökonomischer Perspektiven angestrebt wird. Diese Fachkonzeption stößt in einem Unterrichtsfach ›Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung‹ schon allein deshalb an Grenzen, weil bei der Berufsorientierung die Hinzuziehung soziologischer Theorien und empirischer Befunde unerlässlich ist. Die Berücksichtigung der sozialen Mechanismen, komplexen Voraussetzungen, Einbettungen und Folgen von ökonomisch geprägten Problemen und Lebenssituationen ist in der ökonomischen Bildung unverzichtbar. Die Soziologie verfügt über eine breite und anerkannte Expertise in der Analyse ökonomischer Prozesse, die für eine wissenschaftsorientierte Auseinandersetzung mit ökonomischen Inhalten an Schulen und die Beförderung entsprechender praktischer Kompetenzen grundlegend ist. Mit ebenso großer Sorge stellt die DGS vor diesem Hintergrund zweitens fest, dass die Anteile soziologischer Lern- und Bildungsinhalte unter anderem durch die Aufnahme des neuen Faches Wirtschaft noch weitgehender marginalisiert werden, als sie dies ohnehin bereits sind. Dies betrifft im Grundsatz auch andere sozialwissenschaftliche Disziplinen, wenn auch im Einzelfall in weitaus geringerem Maße.

Diese, durch politische Vorgaben angestoßene und durch massive Interventionen von Interessenverbänden beförderte Entwicklung hat fatale Folgen für das an den Schulen vermittelte Grundverständnis der Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft gegenwärtig steht. Soziologisches Wissen lässt sich nicht, wie sich etwa jetzt in Baden-Württemberg abzeichnet, auf einige wenige Stunden der Vermittlung von Kenntnissen über private Lebensführung und Identitätsbildung reduzieren – jedenfalls nicht ohne spürbare negative Folgen sowohl für die Reflexionsfähigkeit der Schüler/innen als auch für ihre Fähigkeiten zum praktischen Handeln. Die weitreichenden gesellschaftlichen Umbrüche, mit denen jungen Bürger/innen sich in Zukunft konfrontiert sehen werden – flexibilisierte Arbeitsmärkte und demographischer Wandel, Prozesse der Globalisierung und ökologischen Transformation, Folgen der Digitalisierung und des technologischen Wandels, die sozialen Realitäten von Interkulturalität, Migration und Flucht –, lassen sich nur dann angemessen bewältigen, wenn in der schulischen Bildung dazu ein breites, gesellschaftswissenschaftlich fundiertes Verständnis von sozialen Prozessen und Mechanismen, Strukturen und Akteuren dieser Entwicklung vermittelt wird. Wir möchten daher an die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger der Bundesländer im Allgemeinen und, bezogen auf die aktuelle Diskussion in Baden-Württemberg, an den Ministerpräsidenten des Landes Herrn Winfried Kretschmann, den Minister für Kultus, Jugend und Sport Herrn Andreas Stoch und die Bildungspolitiker und Bildungspolitikerinnen des Landes BW appellieren, sowohl die soziale Dimension ökonomischer Prozesse als auch den unverzichtbaren soziologischen Beitrag zum Verständnis unserer Gesellschaft (wieder) deutlich stärker im Unterricht zu verankern, als dies gegenwärtig der Fall ist. Dies wäre ein wichtiger Beitrag nicht nur zum didaktischen Pluralismus, sondern auch zur zukünftigen Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft.