Schenkt man den Selbstbeschreibungen in der Frauen- und Geschlechterforschung Glauben, so gehören die Sozial- und Geisteswissenschaften zu den Fächergruppen, in denen feministische Ansätze und Geschlechterperspektiven den größten Niederschlag im Wissenschaftsbereich gefunden haben, und auch die Geschlechtergleichstellung scheint in diesen Fächergruppen in allen Statusgruppen vergleichsweise komfortabel zu sein. Als ›Problemfächer‹ in Bezug auf die Gleichstellung und die Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung gelten demnach die Natur- und Technikwissenschaften. Diese Haltung wird auch in der Wissenschafts- und Gleichstellungspolitik vertreten, zuletzt in den vom Wissenschaftsrat im Juli 2023 vorgelegten ›Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland‹, und beeinflusst die Ausrichtung öffentlicher Programme zur Forschungs- und Gleichstellungsförderung. Im Rahmen dieses Expert*innenworkshops soll fächervergleichend diskutiert werden, wie weit die Entwicklung feministischer Ansätze und Geschlechterperspek- tiven in den Sozial- und Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum gediehen ist und inwiefern feministische Ansätze und Geschlechterperspektiven in den betreffenden Disziplinen etabliert und anerkannt sind.
Wir wünschen uns Beitragsvorschläge unter anderem zu den folgenden Fragen:
Wie erfolgreich ist die feministische Kritik darin gewesen, das Wissen, das in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen als autoritativ und exzellent gilt, nachhaltig zu verändern, ja, zu transformieren? Wie und von wem wurden bzw. werden diese Erfolge erreicht? In welchen disziplinären (Teil-)Bereichen sind feministische Perspektiven Teil des Kanons und wie kommt es jeweils dazu? In welchen disziplinären (Teil-)Bereichen konnten feministische Perspektiven bisher nicht Fuß fassen und wie ist dies zu erklären?
Wie versuchen die an feministischer bzw. Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten in den Sozial- und Geisteswissenschaften Einfluss auf die Epistemologien, Method(ologi)en und Inhalte der jeweiligen Disziplinen zu nehmen? Welche Organisationsformen, z. B. Arbeitsgruppen, Sektionen und Vereine, und welche Medien, z. B. Tagungen, Publikationen und Preise, werden hierfür (nicht) genutzt, und warum (nicht)? Inwiefern treten bei der Organisationsbildung Widerstände/Hindernisse auf bzw. könnten auftreten? Welche Themen werden dabei (bisher nicht) gesetzt? Wie ist die jeweilige Resonanz auf feministische Wissenschaftler*innen und ihre Organisationsformen in den betreffenden (Herkunfts-)Disziplinen zu erklären?
Wie ist der Stand der Geschlechtergleichstellung in diesen Disziplinen? Inwiefern tragen die jeweiligen wissenschaftlichen Fachgesellschaften dazu bei, die Gleichstellung in den Disziplinen zu fördern und durchzusetzen? Auf welche Resonanz treffen die Fachgesellschaften dabei in den Disziplinen und außerwissenschaftlich?
Wie steht es mit der Beziehung zwischen den in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen variierenden Integrationsformen und -graden feministischer Perspektiven und dem Fortschritt der betreffenden Fachwissenschaften in der Erreichung von Gleichstellungszielen?
Welchen Einfluss hat in diesen Disziplinen die (begrenzte) Präsenz von Frauen und Frauen- und Geschlechterforschung in den Schlüsselbereichen der Forschung auf die Möglichkeiten, sozialen und politischen Wandel zu analysieren? Wie antworten die Sozial- und Geisteswissenschaften selbst auf den sozialen und politischen Wandel in den Geschlechterverhältnissen und den Bedarf an geschlechterinformiertem Wissen außerhalb des Wissenschaftssystems?
• Gibt es Besonderheiten in den jeweiligen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Hinblick auf die genannten Fragen und wie lassen sich diese erklären?
Zielsetzung des geplanten Workshops in hybrider Form ist es, diese und angrenzende Fragen mit Expert*innen zu erörtern. Dabei soll eine Bestandsaufnahme in Bezug auf den Status der geschlechterbezogenen Analysen und feministischen Forschung in verschiedenen Sozial- und Geisteswissenschaften erarbeitet werden. Der Workshop soll so einen Raum für Reflexionen eröffnen, wie die Geschlechter- und feministische Forschung diese Disziplinen bereichert oder geschärft hat. Des Weiteren sollen mögliche Forschungsdesiderate und Handlungsbedarfe ausgelotet werden.
Willkommen sind theoretische und empirische Beitragsvorschläge zu und aus allen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften. Besondere Aufmerksamkeit soll jedoch der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Philosophie sowie den Wirtschaftswissenschaften zukommen. Denkbar sind z. B. Fallstudien, Beiträge zu aktuellen epistemologischen und method(olog)ischen Fragen, Überlegungen zur Forschungspraxis und zur Organisation der Disziplinen. Besonders begrüßt werden Beiträge, die sich auf die fach- wissenschaftliche Ebene der Wissenschaftstheorie/-kritik, Inhalte, Curricula, Lehr- und Einführungsbücher, Publikationen u. a. m. beziehen, sowie Beiträge, die sich mit der disziplinenpolitischen Ebene der Etablierung eigener Arbeitsgruppen, Sektionen bzw. Vereine von Frauen* bzw. zu feministischen Perspektiven in den wissenschaftlichen Fachgesellschaften und außerhalb dieser befassen. Wir freuen uns bspw. aber auch über Beiträge zum Stand der Gleichstellung und zur Gleichstellungspolitik in allen Statusgruppen der im Fokus stehenden Fächergruppen und über Beiträge, die fachwissenschaftliche und -politische Aspekte verknüpfen oder etwa auf den sozialen und politischen Einfluss feministischer Perspektiven in den Fachwissenschaften eingehen. Die Beiträge können einzelne Disziplinen oder Teilbereiche von Disziplinen behandeln aber auch fächer(gruppen)vergleichend angelegt sein.
Wir laden alle interessierten Wissenschaftler*innen herzlich ein, ein Abstract zum geplanten Beitrag (mit Informationen zu Gegenstand, Fragestellung, Zielsetzung und möglicher Struktur des Beitrags) im Umfang von 3.000 bis 5.000 Zeichen bis zum 30. November 2023 an Prof. Dr. Heike Kahlert (conference-sozsug(at)rub.de) als Word- oder PDF-Datei einzureichen. Das Abstract soll auch eine Kurzbiographie im Umfang von maximal 10 bis 12 Zeilen und vollständige Kontaktdaten (Name, akademische/r Titel, institutionelle Zugehörigkeit, Postadresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse) enthalten. Bitte geben Sie auch an, ob Sie in Präsenz oder digital am Workshop teilnehmen möchten. Eine Rückmeldung zu Annahme oder Ablehnung Ihres Beitragsvorschlags erfolgt bis Mitte Januar 2024. Ausgewählte Beiträge sollen publiziert werden.
Der Expert*innenworkshop findet im Rahmen des Forschungsprojekts ›Gender-Innovationen in den Sozial- und Geisteswissenschaften: Organisationen und Lehre im Fokus (Gender-Innovationen)‹ statt. Am Beispiel der Fächer Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Geschichtswissenschaft und Philosophie wird in dem Projekt herausgearbeitet, inwiefern die Beiträge von Frauen und ihre wissenschaftlichen Leistungen und Potenziale in Verbindung mit Gender als Thema und Erkenntniskategorie in den Sozial- und Geisteswissenschaften berücksichtigt werden und welche Anerkennung sie hierfür bisher erfahren. Das Forschungsvorhaben ›Gender-Innovationen‹ wird von 2023 bis 2026 aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und unter der Leitung von Prof. Dr. Heike Kahlert von Susanna Booth und Lisa Christine Wackers am Lehrstuhl für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht der Ruhr-Universität Bochum bearbeitet. Nähere Informationen unter: www.gender-innovationen.de.