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Kollaps und Grausamkeit: Die Brutalisierung der kapitalistischen Gesellschaft am Ende vom ›Ende der Geschichte‹

Deadline: 02. Januar 2026

Ein wesentliches Merkmal der gegenwärtigen Konjunktur des autoritären Kapitalismus ist dessen Brutalisierung, die sich in der Ausweitung immer gewaltsamerer Mittel der Ausbeutung, Enteignung und Herrschaft sowie der Inszenierung und Normalisierung von Grausamkeit und Zerstörung auf globaler Ebene zeigt. Immer größere Teile der Gesellschaft weltweit unterstützen dies enthusiastisch. Parallel dazu werden Menschenrechte und demokratische Strukturen sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene massiv angegriffen.

Dies reicht von Krieg und Genozid in Palästina, im Sudan und im Kongo über die massive Militarisierung Europas bis hin zur Verfolgung und Entmenschlichung von Migrant:innen an seinen Grenzen, von Donald Trumps nihilistischer Grausamkeit bis hin zu Javier Mileis Kettensäge und Nayib Bukeles punitivistischem Spektakel. Die Reproduktion, Zurschaustellung und Verherrlichung von Gewalt und Grausamkeit stehen dabei zunehmend im Mittelpunkt des globalen autoritären Wandels. Die Ära der Soft Power scheint zu Ende zu gehen.

Ähnlich wie im historischen Faschismus braucht Gewalt keine Rechtfertigung mehr durch Argumente, Rechtsnormen oder internationale Abkommen. Immer mehr Regierungen geben die Diplomatie und die Suche nach einem politischen, demokratischen Konsens auf. Praktiken wie Online-Trolling, öffentliche Demütigung, Hatespeech und Rachegelüste sind zur Staatspolitik geworden. Das Paradigma von Krieg, bewaffneter Intervention, Militarisierung der Grenzen und Versicherheitlichung setzt sich zunehmend als primäre Form der Konfliktlösung durch.

Wir erleben einen Moment extremer Verrohung, der nicht nur ein Nebeneffekt autoritärer Politik ist, sondern deren zentrale Dimension darstellt. Dieser Wandel bringt neue Formen sozialer Fragmentierung, ideologischer Betäubung, Nihilismus und Enthemmung in der Ausübung von Macht hervor.

Dieser qualitative Wandel in der (Re-)Produktion und Ausübung von Gewalt wirkt sich tiefgreifend auf die gesellschaftliche Dynamik und die Funktionsweise der internationalen Politik aus und wirft wichtige Fragen hinsichtlich unseres Verständnisses von Staatsmacht sowie der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft auf.

Ist die symbiotische Beziehung zwischen liberaler Demokratie und Kapitalismus – ein Modell, das sich insbesondere seit den 1990er Jahren weltweit ausgebreitet hat und als das›Ende der Geschichte‹bezeichnet wurde – letztendlich zu Ende gegangen? Was ist, wenn überhaupt, das Neue an dieser jüngsten autoritären Wende im Vergleich zu früheren Phasen kapitalistischer Gewalt? Sind diese Veränderungen als konjunkturelles Dispositiv in einer Zeit akuter kapitalistischer Krise oder als struktureller Wandel in der Organisation des kapitalistischen Staates und der Gesellschaft zu verstehen? Erleben wir einen Wandel hin zu einer posthegemonialen governance des Kapitalismus?

Welche – politische, wirtschaftliche, soziale, affektive oder kulturelle – Funktion hat Gewalt für die aktuelle Form des Kapitalismus? Wie unterscheidet sie sich von früheren Momenten, insbesondere aus der Perspektive der Postkolonie, in der gewalttätige Formen der Ausbeutung und Herrschaft an der Tagesordnung waren? Und warum ist sie für viele Menschen so attraktiv? Wie hängen die verschiedenen Formen und globalen Erscheinungsformen von Gewalt miteinander zusammen? Welche Rolle spielen (neo-)koloniale Beziehungen, Praktiken und Ideologien? Welche spezifischen Akkumulationsstrategien, neuen Formen der Ausbeutung von Arbeitskräften, finanzielle Enteignung oder Aneignung von Überschüssen lassen sich hinter der Zurschaustellung von Grausamkeit und Autorität erkennen?

Wie können wir in einem Szenario, in dem nicht nur die extreme Rechte, sondern auch liberale politische Akteure aktiv daran arbeiten, den demokratischen Rahmen zu zerstören, sinnvolle defensive, offensive und transformative Strategien entwickeln?

All diese Fragen sind Ansätze zum Hauptthema dieser Sonderausgabe: die zentrale Rolle von Brutalisierung, Grausamkeit und Gewalt im zeitgenössischen globalen Autoritarismus. In diesem Zusammenhang bitten wir um Beiträge, die sich mit folgenden Themen befassen:

  • Fragen zur Transformation des Staates und zu Formen der Herrschaft;

  • Trends in den internationalen Beziehungen und der Geopolitik sowie

  • die Rolle von Kolonialität, post- oder neokolonialen Beziehungen und Praktiken;

  • die (globale) politische Ökonomie der Gewalt;

  • Perspektiven auf Kapitalakkumulation sowie Klassenkonflikte und Klassenpolitik;

  • anthropologische und soziologische Perspektiven auf Faschisierung, Gewalt und Brutalisierung;

  • Fragen zur politischen Strategie, insbesondere zu Gegenstrategien.

Ebenfalls willkommen sind Beiträge zu anderen Themen, die mit dem Schwerpunkt dieses Aufrufs in Zusammenhang stehen. Wir freuen uns über Artikel mit transnationalen Perspektiven, ebenso über nationale Fallanalysen oder über Studien, die transdisziplinäre Ansätze verwenden.

Redaktionsschluss für Artikel ist der 2. Januar 2026. Manuskripte, Rückmeldungen zu möglichen Beiträgen und weitere Fragen senden Sie bitte an info(at)zeitschrift-peripherie.de