Die jüngsten gesellschaftlichen Krisen, v.a. die COVID-19-Pandemie, stürzten manch qualitativ Forschende in eine methodische Krise. Doch auch unabhängig davon weist qualitative Forschung wegen ihres zentralen Merkmals der Offenheit ein hohes Scheiternspotenzial entlang des gesamten Forschungsprozesses auf: Feldzugänge misslingen, die Interaktion mit den Beforschten verläuft nicht nach Lehrbuch, das gewonnene Material ist karg statt reichhaltig oder bewährte Analyseinstrumente fördern kaum etwas Neues über den Gegenstand zu Tage. Trotz dieser empirischen Normalität von Krisen (z.B. Whyte 1996 [1943], Anhang A; Eckert/Cichecki 2020) erscheinen diese als individuelles Problem und Tabu; auf der wissenschaftlichen Vorderbühne der Veröffentlichungen dominieren Gelingensdarstellungen. Zugleich rücken – wenngleich wenig beachtet – qualitative Grundlagenmethodologien den Erkenntniswert von Krisen in den Fokus. So gelten etwa im US-amerikanischen Pragmatismus Probleme als Ausgangspunkt neuen Wissens, insofern sie einen Problemlöseprozess anstoßen.
Die beantragte Ad-hoc-Gruppe widmet sich Krisen im Forschungsprozess als konstitutivem Merkmal qualitativer Forschungsprozesse in ihrem wenig reflektierten Spannungsfeld zwischen Normalität, Tabuisierung und besonderer Erkenntnischance. Ziel ist es, Krisen als notorische Begleiterinnen qualitativ-offener Forschung nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch erkenntnisproduktiv zu nutzen und darüber die im angelsächsischen Raum begonnene Thematisierung von ›gescheiterter‹ Forschung (z.B. Nairn et al. 2005; Clark/Bailey 2020) im deutschsprachigen Kontext fort- und weiterzuführen.
Hierfür versammelt die Ad-hoc-Gruppe Beiträge, die verschiedene empirische Krisen aus unterschiedlichen methodologischen Perspektiven beleuchten, ›Scheitern‹ oder ›Fehler‹ konstruktiv wenden und sich an folgenden Leitfragen orientieren:
- Was wird angesichts welcher (epistemologischer, methodologischer, forschungsgegenständlicher, …) Annahmen als Krise, ›Scheitern‹ oder ›Fehler‹ behandelt?
- Inwiefern werden derartige Krisen- und ›Scheiterns‹-Erfahrungen thematisiert, tabuisiert oder konstruktiv gewendet?
- Wie wird in verschiedenen Forschungstraditionen und -epistemologien der Stellenwert von Krisen eingeschätzt?
- Welche Krisenbewältigungswerkzeuge stehen methodologisch und/oder forschungspraktisch zur Verfügung?
- Welche (z.B. empirischen) Erkenntnisse und Folgen erwachsen aus Krisen und ›Fehlern‹ tatsächlich?
Zwei Beiträge sind bereits eingeplant, zwei weitere sollen über diesen Call for Abstracts gewonnen werden. Beitragsvorschläge im Umfang von max. 1 Seite senden Sie bitte bis 31.03.2023 an judith.eckert(at)uni-due.de, georgios.coussios(at)uni-due.de, malin.houben(at)unibielefeld.de und carsten.ullrich(at)uni-due.de
Die Rückmeldung erfolgt bis 15.04, angenommene Beiträge müssen bis zum 30.4.2023 über conftool eingereicht werden.