Das Verhältnis von Phänomenologien und Politik bzw. dem Politischen wurde traditionell als konfliktreich oder auch als Leerstelle dargestellt. Klassische Phänomenologien werden aufgrund ihrer deskriptiven Methode oft als (notwendigerweise) unpolitisch oder zumindest nicht normativ engagiert verstanden. Diese Lesart wurde zunächst vor allem von der im angloamerikanischen Raum beheimateten Critical Phenomenology in Frage gestellt, die zumindest für Vertreter*innen einer›existentiellen Phänomenologie‹wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty oder Frantz Fanon einen apolitischen Charakter bestreitet und sich selbst als dezidiert politisch und normativ versteht.
In der jüngeren Vergangenheit entstand auch im deutschsprachigen Raum eine Reihe von phänomenologischen Arbeiten, die nicht nur das Verhältnis von Phänomenologie und dem Politischen bzw. der Politik neu verhandeln, sondern sich theoretisch, methodisch und phänomennahe in produktiver Weise phänomenologisch der Politik und dem Politischen näherten.
Die dabei in den Blick genommenen Phänomene, wie etwa politische Konflikte, soziale Ungleichheits- und Herrschaftsphänomene oder Rassismus, sind seit langer Zeit Gegenstand soziologischer Forschung. Verbindungen von politischer Phänomenologie und Soziologie sind bislang wenig verbreitet. Im Gegensatz dazu haben entsprechende Debatten in der (philosophischen) Phänomenologie in den letzten Jahren einige Prominenz erlangt. Die Soziologie könnte diese Debatten bereichern und selbst von ihnen profitieren – etwa indem sie aus soziologie- und ideengeschichtlicher Perspektive die Relation der klassische Phänomenologien (und klassischen phänomenologischen Soziologie) zum Politischen analysiert, oder indem sie die jüngeren Entwicklungen innerhalb der Philosophie für eine dialogische Erweiterung eigener Methoden, Perspektiven und Phänomenanalysen verwendet.
Die Standortbestimmung des Politischen in der Phänomenologie ist keinesfalls abgeschlossen und die Frage nach der Bedeutung der politischen Phänomenologie für die Soziologie steht noch am Anfang. Die vorgeschlagene Tagung möchte zu einer Klärung des Verhältnisses beitragen. Von Interesse wären etwa Beiträge in folgenden Bereichen:
- Vor allem klassische Phänomenologien unterliegen oft dem Vorwurf apolitisch zu sein oder sich dem Politischen nicht zuwenden zu können. Zugleich greifen neuere Zugänge wie die kritische Phänomenologie selbst in Teilen auf Klassiker (allen voran das Werk Frantz Fanons) zurück. Instruktiv sind demnach soziologie- und ideengeschichtliche Arbeiten, die das Fundament der politischen Phänomenologie und des politischen Denkens in der klassischen Phänomenologie zum Thema haben, sowie Arbeiten, die sich mit den Stärken einer politischen Phänomenologie gegenüber anderen Zugängen zum Politischen beschäftigen.
- Deskriptive Analysen des Politischen, die sowohl produktiv an klassische Phänomenologien anschließen als auch darüber hinausgehen, etwa indem sie den eigenen Blick reflektieren. Diese Analysen können etwa politische Erfahrungen (Protest, Solidarität, Ungleichheit, Ausgrenzung, Ohnmacht, Missachtung etc.) oder Erfahrungen von Gewalt, Verletzbarkeit, Affekten und Emotionen oder Körperlichkeit in ihren politischen Implikationen in den Blick nehmen.
- Beiträge, die sich der Frage widmen, wie sich Konzepte einer politischen Phänomenologie mit breiteren gesellschaftstheoretischen, sozialhistorischen oder anthropologischen Perspektiven verbinden, ergänzen oder kontrastieren lassen. Hier wären beispielsweise sowohl Anschlüsse an Michel Foucault und die Subjektivierungsforschung in der kritischen Phänomenologie als auch an Helmuth Plessners noch wenig erschlossene politische Phänomenologie möglich. In den Blick geraten hierbei jeweils auch Fragen nach der Historizität der menschlichen Erfahrung, der Vorstellung›des Menschen‹und der Möglichkeit universaler normativer Maßstäbe.
- Auch deswegen sind normative Fragestellungen bedeutend: Gerade in jüngeren deutschsprachigen und vor allem auch angloamerikanischen Diskursen werden nicht nur Fragen der Kritik, etwa in Bezug auf Rassismus und Sexismus und andere Formen von Herrschaft und Unterdrückung diskutiert und mit dem Anspruch von Engagement und politischer Aktion verbunden. Elisa Magrì und Paddy McQueen sprechen nicht nur von einer kritischen, sondern auch einer›ameliorative phenomenology‹und damit verbunden von›collective action‹ Beiträge können sich sowohl auf die Fragen der politischen Normativität als auch des praktischen politischen Engagements in empirischer und/oder theoretischer Form beziehen.
Wir freuen uns über empirische und theoretische Vortragsangebote (max. 500 Wörter) zu den oben umrissenen Themenfeldern bis zum 31. August 2025. Schicken Sie die Abstracts bitte an:
Alexander Brunner (alexander.brunner(at)fh-campuswien.ac.at)
Frithjof Nungesser (frithjof.nungesser(at)uni-graz.at)
Antonia Schirgi (antonia.schirgi(at)uni-graz.at)