Aktuell

Polarisierte Welten

Themenpapier zum 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozio­lo­gie vom 26. bis 30. September 2022 in Bielefeld

Der 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie steht zwei­fels­ohne im Zeichen einer erschütterten Weltgemeinschaft, und zwar in meh­re­ren Hinsichten. Ins Zentrum globaler Diskurse ist anhaltend das Co­rona­virus SARS-CoV-2 gerückt. Mit dem Herunterfahren vieler ge­sell­schaft­li­cher Funktionen, einer konzertierten Aktion zwischen Politik, Ge­sund­heits­wesen und Massenmedien, einer vielfach einsichtigen Bevölkerung und einer raschen Entwicklung von Impfstoffen wurde eine erstaunliche An­pas­sungs­­leistung vollbracht. Dennoch hat sich die Pandemie weltweit ver­brei­tet; und nicht alle sind von ihren Folgen gleichermaßen betroffen. Ab­hän­gig von Kon­tinent, Region aber auch Klasse oder Geschlecht scheinen sich be­reits bestehende Ungleichheiten wie Polarisierungen zu verschärfen. Maß­nah­men zur Eindämmung werden nicht weltübergreifend, sondern na­tio­nal­staat­lich eingehegt. Medikamente und Impfstoffe sind in vielen Regionen nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zeitgleich zweifeln in besser und gut ver­sorgten Ländern die Menschen die Wirklichkeit des Virus an und pro­tes­tie­ren gegen die Maßnahmen. Parallel zu diesem widersprüchlichen Ge­sche­hen haben sich weitere Phänomene zugespitzt, in deren Kontexten Be­nach­tei­ligungen, Ausgrenzungen und Differenzen sichtbar (gemacht) werden.

Erinnert sei an die zahlreichen Aktivitäten von Fridays For Future, die ihre An­strengungen auf weltweit auftretende Klimaveränderungen richten und in ihrem Protest nicht auf individuelles Verhalten, sondern auf strukturelle Ein­schnitte setzen. Fridays For Future hat jungen Menschen weltweit eine Stim­­me gegeben und auf generationale Differenzen aufmerksam gemacht. Em­­pörung und Wut über ausbleibende strukturelle Veränderungen, an­hal­ten­de Gewalt, Machtmissbrauch, Diskriminierung und Ausschluss von den Ver­heißungen der Moderne wie dem Anspruch auf Besonderheit, auf Frei­heit, Autonomie und Recht eint zudem Menschen unter den Hashtags #black­­­livesmatter und #metoo. In globalen Netzwerken verbreitet, entfal­ten Bewegungen wie diese eine starke Mobilisierungskraft: Ihre Forderungen ver­breiten sich global, werden lokal angeeignet und in die Weltgesellschaft zu­rückgespeist. Einhergehend werden auch soziologische Diskurse in un­ge­wohn­ter Dringlichkeit herausgefordert, – ob es nun um ihre theoretischen Tra­ditionslinien geht, oder um die Analyse empirischer Phänomene. Im Fokus des DGS-Kongresses stehen vor diesem Hintergrund Vorträge und Dis­kussionen, die das Interesse an Polarisierungsprozessen aufnehmen: Wie ent­stehen Polarisierungen, wie verlaufen sie und mit welchen Folgen sind sie ver­bunden? Aber auch: Was läuft ihnen zuwider, irritiert oder hebt sie auf? Uns interessieren Beiträge, die diesen Voraussetzungen, Verläufen und Fol­gen an möglichst vielfältigen sozialen Konstellationen nachspüren.

Der Begriff der Polarisierung ist freilich kein Novum in der Soziologie, je­doch scheint er durch die aktuellen Ereignisse eine neuerliche Relevanz zu er­fahren. Neben seiner Bedeutung für die Beschreibung gesellschaftlicher Ent­­wicklungen der Gegenwart kann auf eine vergleichsweise lange Ge­schich­te des Begriffskomplexes ›Polarisierung, Polarisation und Polarität‹ zu­rückgeblickt werden. Bereits beim ›6. Deutschen Soziologentag‹ 1928 wur­de die Multipolarität von Denkstandorten im Zusammenhang mit Hal­tun­gen des Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus diskutiert. Wir wol­len den Begriff der Polarisierung an dieser Stelle weiten, ohne einen genuin soziologischen Zugriff aufzugeben. Damit betonen wir unter an­de­rem, dass Polarisierungen nicht nur im Bereich des Politischen von Be­deu­tung sind, sondern ebenso zum Beispiel eine ästhetische, sozio-öko­no­mi­sche oder kulturelle Dimension haben können. Die Polarisierung definiert Identitäten. Man ist, wovon man sich unterscheidet. Religiöse Zu­ge­hörig­keit, wissenschaftliche Orientierung, kulturelle Praktiken, Konsumstile und Stile unternehmerischen Handelns definieren sich durch das, was sie ab­leh­nen, fast unabhängig von dem, was sie sind und tun. Zugleich eignet sich der Begriff der Polarisierung, um strukturell nach der sozialen Verortung von Lebensverhältnissen zu fragen.

Wir verwenden den Weltbegriff im Plural – sprechen also bewusst nicht von ›der polarisierten Welt‹, sondern von ›polarisierten Welten‹. Der Grund dafür ist, dass wir beobachten und genauer verstehen wollen, in­wie­fern Polarisierungsprozesse in vielfältiger Form vorkommen, koexistieren, aber auch aufeinandertreffen und einander – mit ihren jeweiligen ›Welten‹ – beeinflussen können. Welche Orientierungsleistungen haben sich in einer Ge­sellschaft, in ihrem Alltag ebenso wie in ihrem professionellen Handeln, derart abgeschwächt, dass Polarisierung, wenn die Diagnose stimmt, einen so dominanten Stellenwert gewinnt? ›Welten‹ lassen sich hier als Wirk­lich­kei­ten wie als Horizonte sozialen Handelns und Erlebens in ihren je unter­schied­lichen Kontexten und kulturellen Perspektiven über ihre Praktiken bis hin zu ihren Materialitäten und ökologischen Einbettungen verstehen. Unter ›pola­risierten Welten‹ lassen sich somit Polarisierungen zwischen unter­schiedlichen Welten wie auch innerhalb dieser in den Blick nehmen. Ent­spre­chend interessieren wir uns für die umfassende Spaltungen und Dif­fe­ren­zierungen ebenso wie für Prozesse der Reintegration und dadurch ent­stehende symmetrische oder asymmetrische Verhältnisse des Sozialen. Als Beispiele sind die Beziehungen des Lokalen zum Globalen zu nennen, der vir­tuellen zu den physischen Wirklichkeiten, die Fraktionierungen im Be­reich des Humanen und des Lebens wie der sozialen Mikrokosmen und ihren sozialen Makrokosmen. Als Vermittlungsebene kommen Or­ga­ni­sa­tionen auf der Mesoebene in Frage, die unterscheidbare Welten miteinander ver­knüpfen. Schließlich interessiert uns, dass auch die Soziologie bzw. So­zio­log*innen selbst in Polarisierungsprozesse eingreifen können. In diesem Sinne überschneiden sich die uns interessierenden polarisierten Welten mit der Welt der Soziologie auf vielfältige Weise. Auch der diskursive und all­täg­liche Gebrauch von Welt-Begriffen ist dabei von Interesse, so etwa die Be­griff­lichkeit von den drei Welten (Erste, Zweite, Dritte Welt) während des ›Kal­ten Krieges‹ oder die neuere dichotome Einteilung der Welt in Glo­ba­len Süden und Globalen Norden. Neuere Debatten zur Dekolonialisierung und der damit einhergehenden Frage unserer Beteiligung an der Re­pro­duk­tion imperialer Vorstellungen von Welt schließen daran an.

1. Phänomene polarisierter Welten

Aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Soziale Bewegungen (zum Beispiel #blacklivesmatter, Fridays for Future aber auch die Gilets Jaunes) verweisen auf die erneute Konjunktur von Polarisierung. Dies wirft auch empirische Fragen nach der gegenwärtigen Verfasstheit ›Polarisierter Wel­ten‹ auf. Neuere Forschungen, welche die vergangenen 200 Jahre in den Blick nehmen, weisen darauf hin, dass die ›soziale Schere‹ im Hinblick auf Einkommen und Vermögen heute weniger stark durch das Merkmal Klasse be­stimmt ist, sondern durch den Wohnort bzw. die Bürger*innenschaft – und damit durch die sozial-räumliche Position. Zudem lassen sich zwei ge­gen­läufige Tendenzen feststellen, die in das weltweite Gefüge von Ein­kom­mens­ungleichheiten eingreifen und entsprechende Wahrnehmungen be­ein­flus­sen: Einerseits nehmen die Ungleichheiten zwischen Ländern ab, ande­rer­seits nehmen in Rückgriff auf Milanović, Piketty und so weiter die Un­gleich­heiten innerhalb von Ländern sowie zwischen länderübergreifenden Ein­kommensklassen zu. Hier drängen sich auch Fragen der Skalierung von ›Welt‹ auf: Bezieht sich der Horizont der sozialen Zusammengehörigkeit auf den Nationalstaat (Kommunitarismus) oder auf die Menschheit (Kos­mo­politanismus)? Soziale Räume in den Blick nehmend erscheint uns auch die Frage lohnend, ab welcher räumlichen Dimensionierung und ab welcher Reich­weite soziale Beziehungen als Weltgemeinschaft oder Weltgesellschaft er­lebt werden. In welchem Verhältnis stehen hierbei soziale und räumliche Praxis zum Beispiel im Hinblick auf Mobilität? Inwieweit verändert die vor­an­schreitende Digitalisierung geteilte Erfahrungen, Zugehörigkeiten und so­ziale Beziehungen?

Zugleich möchten wir auf die historisierende Dimension des Kon­gress­the­mas hinweisen, ihre Bezugnahme auf Zeit- und Zukunftshorizonte. Uns geht es nicht nur um Gefahr und Risiko, sondern auch um Denk- und Ge­stal­tungsspielräume, um wandelbare Vorstellungen des ›Es-könnte-auch-an­­ders-seins‹, auf utopische wie dystopische Momente von Welten und des In-der-Welt-seins. Die durch Menschen verursachten Konsequenzen des Klima­wandels polarisieren das Verhältnis von jüngeren und älteren Gene­ra­tio­nen, von Armen und Reichen und der Aushandlung dessen, in welcher Welt gelebt und überlebt werden kann. Die damit verbundenen Konflikte um die Zukunftsgestaltung sind komplex, aber ebenso elementar: Wie kann bei­­spielsweise in Zukunft die Produktion von Lebensmitteln, eine Ver­tei­lung von Land und Meeresflächen oder eine globale Energiegewinnung aus­se­hen, die gerecht ist und keine Lebensgrundlagen zerstört? Aus­hand­lun­gen von Zukunft prägen ebenso die Gegenwart. In den vergangenen Jahren deu­ten zahlreiche Studien auf politische Polarisierungsprozesse hin, die sich hin­sicht­lich einer wachsenden Distanz zwischen unterschiedlichen Positionen und Meinungen beschreiben lassen. Zu nennen sind hier neue Ver­schrän­kun­gen von Milieus entlang der Achse Faktizität/Kontrafaktizität, pro und con­tra Evidenzbasierung und vieles mehr. Unterschiedliche Polarisierungen lassen sich auch zwischen und innerhalb der (Welt-)Religionen erkennen. Als Trittbrett genutzt, greifen sie in politische, wirtschaftliche und in private Dimensionen von Polarisierung ein. So etwa in Polarisierungsprozesse am Arbeits­markt, auch in Bereiche der Reproduktion wie jener der Bildung, der Sorgearbeit (Care) und der Gesundheitsversorgung.

2. Effekte und Wirkungen polarisierter Welten

Die Folgen von Polarisierung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für De­mokratie und gesellschaftlichen Wandel, für die Meinungsbildung im öffent­lichen Raum und die Chancen der Konfliktregulierung werden in ver­stärk­tem Maße diskutiert. Stellt Polarisierung per se eine Gefahr für ge­sell­schaft­lichen Zusammenhalt und Demokratie dar oder ist sie (auch) ein not­wen­diger Bestandteil gesellschaftlichen Wandels? Diese Frage stellt sich für die Kämpfe und Auseinandersetzungen marginalisierter und ausgebeuteter ge­sellschaftlicher Gruppen, aber auch für die Debatten im Bürgertum und die intellektuelle Verständigung auf zustimmungsfähige Weltbilder. Denn Po­larisierung kann auch mit ungewohnten Allianzbildungen, neuen Per­spek­­tiven und neuem Zusammenhalt einhergehen – oder eben diese unter­bin­­den. Dies bedeutet, dass Polarisierungsprozesse nicht zwangsläufig zu ohn­mächtigen und verlassenen Lebenswelten führen, sondern auch zu neu­en Kontexten und Strategien der Bewältigung und Auseinandersetzung, die es zu verstehen gilt. Ist Polarisierung, wenn es um große gesellschaftliche Her­ausforderungen geht, eher Teil des Problems oder der Lösung? So kann Po­la­risierung einerseits demokratische Prozesse und Institutionen gefähr­den, andererseits Orientierung und Beteiligung stärken sowie Transparenz und Rechenschaftspflichten durchsetzen. Welche Räume und Formate stellt die Gesellschaft bereit, die Polarisierung zu reflektieren, die Einsicht in ihre Kon­tingenz zu fördern und zugrundeliegende Fragen nach dem Zu­sam­men­leben der Menschen zu stellen? Welchen Beitrag leistet die Soziologie zu die­ser Reflexion und diesem Ausgleich?

Erfahrungen von Flucht und Migration schreiben sich global in un­zäh­li­ge Biographien ein – das Sterben flüchtender und migrierender Menschen im Mittelmeer ist zu einem drastischen Sinnbild hierarchisierter Welten ge­wor­den. Humanitäre Interventionen wie die Rettung von Schiffbrüchigen sind Gegenstand von äußerster Polarisierung in Europa geworden. Während auf der einen Seite eine stärkere Abschottung gefordert wird, kämpfen an­de­re um deren Ende. Muss Polarisierung überwunden oder eher ein­kal­ku­liert werden? Beides kommt empirisch in Projekten der Welt(en)­ver­bes­se­rung vor. Die Bedeutung dieser Fragen tritt in historischer Perspektive be­son­ders deutlich hervor. Während das ›Kommunistische Manifest‹ noch eine klare Trägergruppe einer wünschenswerten neuen sozialen Ordnung be­nennt, werden heute multiple Akteur*innen identifiziert, die in Begriffen wie ›Multitude‹ zum Ausdruck kommen. Besonderes Augenmerk ist hierzu in letzter Zeit auf die Polarisierungsinstrumente einer digitalen Gesellschaft ge­legt worden. Das sogenannte ›Social Web‹ erzeugt neue Allianzen, die ge­sell­schaftlich wie politisch Macht ausüben und zur Egalisierung von Un­gleich­heiten beitragen, jedoch über verschieden verteilte Zugangs­mög­lich­kei­ten gleichzeitig Ausschlüsse erzeugen können. Plattformen werden zu vir­tuellen Orten, auf die hingezogen wird und die genutzt werden, um Un­ent­schiedene(s) aus Grauzonen auf bestimmte Seiten zu ziehen. Zugleich un­ter­laufen diese Plattformen etablierte Strukturen der Macht. Hinsichtlich sozialer Netzwerke lässt sich zudem beobachten, dass diese immer offener und ›bunter‹ werden, so zum Beispiel durch transnationale Kontakte und Be­ziehungen (aber nicht zwangsläufig in allen Milieus). Andererseits gibt es auch deutliche Schließungstendenzen der Art, dass weltanschaulich/mental geschlossene Gruppierungen an Bedeutung zunehmen, die eher kulturellen als materiellen Distinktionen folgen, verstärkt durch die Möglichkeiten der Di­gitalisierung (›Echokammern‹). Hier lautet eine übergeordnete Frage, in­wiefern digitale Unterstützungssysteme bzw. soziotechnische Systeme zu einem Abbau oder zur Verstärkung von sozialen Ungleichheiten beitragen. Denn Systeme wie diese können Vorurteile nicht nur nicht beseitigen, son­dern auch akzentuieren und gesellschaftliche Spaltung vorantreiben. ›Digi­ta­le Zwillinge‹, also Repräsentationen von realen Menschen als zunehmend reich­haltige und komplexe Datenkonglomerate sind nur wenig untersucht und eine gesellschaftliche Bewertung im Hinblick darauf, inwiefern sie tat­säch­lich Basis von Chancenzuweisungen sein können bzw. sollen, steht noch aus. Inwiefern sind beispielsweise Erkenntnisse aus Genom­sequen­zie­run­gen aussagekräftig? Welche Aussagekraft haben prozessproduzierte Da­ten am Arbeitsplatz, beispielsweise für die Leistungsbewertung? Diskutieren wollen wir demnach auch Mechanismen, die (unerwünschte) Pola­ri­sie­run­gen wieder einhegen oder nach Kompensationsmöglichkeiten fragen.

3. Soziologie polarisierter Welten

Über welche Pole und/oder Welten redet die Soziologie fast 100 Jahre nach den Debatten aus dem Jahr 1928 – und über welche nicht? Und welche Pole sind in bestimmten Zeitphasen besonders prominent? Zum klassischen Re­per­toire soziologischer Antworten gehören indes die Perspektiven auf Fel­der, Systeme, soziale Kreise, Lagen und Formen, Milieus und Lebenswelten oder auch Welten der Rechtfertigung. Darüber hinaus sind ›Neu- und Wie­der­entdeckungen‹ zu nennen, wie die (sozial-kulturelle) Klasse, die frag­men­ta­le Differenzierung, Subsinnwelten, Humandifferenzierung oder Nach­ahmungs­strahlen. Wir verstehen diese als eine offene Liste, deren Be­ar­bei­tung ein Gegenstand des Kongresses sein kann. Dabei geht es nicht exklusiv um mehr oder weniger neuartige Differenzierungen. Mit dem Begriff der Po­la­risierung sind über das Differenzierte hinaus Abstufungen seiner Inten­si­tät angesprochen, die bis zur Abschottung reichen. Dies wiederum stellt Be­ziehungen zu weiteren Ungleichheits- bzw. Vielheitsdimensionen her. Da­ran anknüpfend ist zu fragen, inwieweit der Beobachtungsstandort das Er­leben und Handeln festlegt. Welche Welten sind nur von bestimmten und be­stimmbaren Weltstandorten aus erfassbar? Von welchen Relationierungen zwi­schen ihnen können wir ausgehen: in Form von Konkurrenz, Konflikt, fried­licher oder feindlicher Übernahme, Überzeugung, Überredung, Über­set­­zung, Unterdrückung, Verflechtung, Interdependenz und vieles mehr? In welchem Bezug steht Polarisierung wiederum selbst zu anderen Konzepten, wie etwa Widerspruch, Dialektik, Dichotomie, Binarität, Paradoxie, Am­bi­va­lenz, Indifferenz, Antagonismus oder Entfremdung? Wie verhalten sich Po­la­risierung und Fragmentierung zueinander? Lässt sich die Wahrnehmung von Polarisierung ohne Mobilisierung denken? Heben sich die Ein­wirk­ver­suche so vieler polarisierter Welten wechselseitig auf, oder gehen unter­schied­liche Welten mit ungleichen Durchsetzungschancen einher? Wie stel­len wir ›soziale Welten‹ und ›soziale Polaritäten‹ her? Welche Rolle spielen Kör­per, Materialitäten, Praktiken oder Semantiken hierfür? Wo und wie wer­den Polarisierungen vollzogen, realisiert und markiert? Auch die willkürliche oder unwillkürliche Herstellung strikter Differenz ist kein neues Phänomen. So­ziale Medien, digitale Online-Plattformen wie auch das sogenannte Dark Web bieten zuvor ungekannte Möglichkeiten der Vergemeinschaftung eben­so wie des Polarisierens. Die hier entstehende Sozialität und die sie kon­sti­tuie­renden Praktiken als polarisierend zu beobachten, ist zudem nicht selbst­ver­ständlich und erfordert soziologische Reflexion: Wie ist es möglich, dass sich soziale Welten differenzieren und diese Welten dann auch noch als ›Pola­risierungen‹ bewertet werden? Welche Bedeutung kommt bei der Ent­wick­lung, Gestaltung und Regulierung dieser digitalen Sozialität Techno­lo­gie­konzernen wie den ›Big Five‹ (Google, Apple, Facebook, Amazon, Micro­soft) zu?

Schließlich: Die Soziologie kann sich nicht als große Ausnahme behan­deln, sie ist in vielfacher Hinsicht Teil der Konstruktion von ›Polarisierung‹ und von ›Welt(en)‹. Sie beobachtet und stiftet schon damit Unterschiede; sie definiert, misst und schneidet auf diese Weise Welt(en) zu; sie schafft eige­ne Begriffswelten, bezieht auch in öffentlichen Debatten Stellung, was wie­derum als Polarisierung beobachtet werden kann. Viele der gegen­wär­ti­gen existenziellen Krisen und Phänomene, die Teil der polarisierten Welten sind, stellt die Methodologien der Soziologie auf die Probe. Was manche als Plu­ralität für eine Stärke des Fachs halten, wird im milden Fall als ›Multi­para­digmatase‹ (Luhmann) bezeichnet, die in schwereren Fällen offenbar zur Spaltung einer (Fach-)Gesellschaft führen kann. Auch wenn uns diese Pola­risierung besonders nahe ist oder geht, liegt doch der Schwerpunkt un­se­res Themas darauf, dass wir in einer Welt voller polarisierter Welten auf viel­fältigen Ebenen leben, die in vielschichtigen Weisen aufeinander be­zo­gen sind. Solche Konstruktionen, Relationen und Effekte besser zu ver­ste­hen, soll den 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kenn­zeich­nen.