Zahlreiche und besonders der Soziologie nahestehende Disziplinen widmen sich seit einigen Jahren verstärkt dem Thema›Verletzbarkeit‹und damit verbundenen Fragen: von der Sozialphilosophie und Ethik (z.B. Liebsch 2018a/b, 2021), der feministischen und politischen Theorie (z.B. Butler 2016; Butler et al. 2016; Gilson 2014; Huth 2016) über die geografische und klimawissenschaftliche Forschung (z.B. Rajan und Bhagat 2018) bis hin zur Geschichtsforschung (z.B. Lignereux et al. 2020), den Rechtswissenschaften (z.B. Al-bertson Fineman 2017) oder der Pädagogik (z.B. Aktaş 2020; Burghardt et al. 2017). Die besondere Aufmerksamkeit, die das Thema in diversen Nachbardisziplinen der Soziologie zuletzt erfahren hat, ist nicht zu trennen von einer politischen Gegenwart, die für alle möglichen Formen von Verletzbarkeit zu sensibilisieren verspricht. Die Rede von Vulnerabilität und Verletzbarkeit ist längst zu einem hochumstrittenen Politikum geworden, das unser Selbst- und Weltverhältnis berührt – man denke nur an Diskussionen über Rechte von Minderheiten, Frauen, Kindern oder Tieren (z.B. Donaldson und Kymlicka 2011: 61), an eindringliche Warnungen vor dem Kollaps verletzbarer Ökosysteme (z.B. Kaufmann und Blum 2013), an die Debatten um›vulnerable Gruppen‹und die Konflikte unterschiedlicher Verletzbarkeiten (physiologisch, psychisch, juridisch, ökonomisch etc.) im Rahmen der Corona-Pandemie (z.B. Lindemann 2020: 101ff.), an die sprachsensible Überarbeitung rassistischer Terminologien in Kinderbüchern (z.B. Marmer und Sow 2015; Nel 2017) oder an die Problematisierung der oft unfreiwilligen Weitergabe von sensiblen Persönlichkeitsdaten im Zuge der Digitalisierung (z.B. Mau 2017: 268). Ebenso zu bedenken sind gegenläufige Kritiken an überbordenden Empfindlichkeiten,›politischer Sentimentalität‹(z.B. Bargetz 2017) oder die jüngsten Debatten über›cancel culture‹(z.B. Revers und Traunmüller 2020).
Die Soziologie selbst tut sich indes ausgesprochen schwer damit, im Anschluss an den interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs eigene Forschungsperspektiven zu entwickeln. Zwar ist man auch hier zuletzt ein wenig aufmerksamer auf das Thema geworden, wohl auch unter dem Eindruck multipler Krisendiskurse, unübersehbar gewordener sozialer Spannungen und einer wachsenden gesellschaftlichen Sensibilisierung für diverse Formen von Verletzbarkeit (K. Brown 2011; K. Brown et al. 2017; P. Brown 2022; Hentschel und Krasmann 2020; Nungesser 2019a, 2019b). Besonders die allgemeinsoziologisch orientierte Forschung jedoch hat bislang kaum ernsthaft versucht, den Verletzbarkeitsbegriff als gesellschaftsanalytisches Konzept fruchtbar zu machen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass der Begriff bislang sehr unterschiedlich, teils unsystematisch und nicht selten auch in explizit normativer Absicht verwendet wird, weshalb er einigen für eine differenzierte Gesellschaftsanalyse ungeeignet erscheinen mag (zur terminologischen Unschärfe etwa K. Brown 2015: 3; Gilson 2014: 4; Mackenzie et al. 2014: 1). Gerade der Umstand jedoch, dass Verletzbarkeit nicht nur ein im wissenschaftlichen Diskurs sehr umstrittener Begriff ist, sondern auch in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern selbst zu einem bedeutenden semantischen Topos konfliktbeladener Deutungspraktiken geworden ist, macht das Thema zu einem Forschungsgegenstand, der gesellschaftspolitisch hochaktuell und für die sozial- und gesellschaftstheoretisch interessierte Soziologie ebenso relevant wie instruktiv ist.
Zentraler Ausgangspunkt für das geplante Schwerpunktheft der Zeitschrift für Soziologie ist vor diesem Hintergrund die doppelte Umstrittenheit von Verletzbarkeit in Wissenschaft und Gesellschaft. Zum einen ist Verletzbarkeit als gesellschaftliches Phänomen stets an veränderbare Formen der Wahrnehmung und der symbolischen Artikulation lebensweltlicher Erfahrungen gebunden, die unweigerlich mit sozialen Deutungskonflikten verknüpft sind, in denen um die Bedeutung und die Anerkennung spezifischer Verletzungs- und Verletzbarkeitserfahrungen gerungen wird. Das Heft legt sein Augenmerk deshalb zunächst auf diese grundlegende Verschränkung von leiblichem Erleben, Erfahrungsartikulation und soziokulturellen Deutungsmöglichkeiten, um für die Wandlungen und die Konflikthaftigkeit von Verletzbarkeitsphänomenen in ihrer empirischen Vielfalt offen zu bleiben. Mit dieser Ausrichtung der Heftperspektive ist zum anderen die Annahme verbunden, dass sich auch die Wissenschaft dem Zusammenhang zwischen Verletzbarkeit als sozialem Phänomen und der Sensibilisierung gesellschaftlicher Diskurse für unterschiedliche Formen von Verletzbarkeit nicht gänzlich entziehen kann. Wie aber lässt sich das Thema›Verletzbarkeit‹angesichts dieser methodologischen Verstrickung als soziologisches Forschungsproblem theoretisch fassen und methodisch angemessen bearbeiten?
Der damit grob umrissene thematische Schwerpunkt soll in dem Heft mit Hilfe von zwei Problemperspektiven systematisch vertieft werden:
- Vielversprechend erscheint, erstens, eine diachrone Perspektive auf den gesellschaftlichen Wandel von Verletzbarkeit. Untersuchen lassen sich aus dieser Sicht insbesondere die klassifikatorischen Verschiebungen, durch die bestimmte Entitäten als verletzbar wahrgenommen werden, während andere diesen Status mitunter einbüßen. In den Fokus rücken dabei auch die historisch-kulturellen und institutionellen Umstände, in deren Rahmen spezifische Formen von Verletzbarkeit artikuliert und problematisiert werden, empirisch Gestalt annehmen und gegebenenfalls an Bedeutung gewinnen oder verlieren.
- Grundlegend sind, zweitens, Analysen der Politisierung von Verletzbarkeit, welche die unterschiedlichen Konfliktdynamiken rund um Verletzbarkeitsphänomene konzeptuell und empirisch erfassen. Wessen Verletzungserfahrungen oder -ängste als wie bedeutend wahrgenommen werden, ob sie überhaupt als legitim erscheinen (oder etwa als überempfindlich oder anmaßend) und ob daraus womöglich auch moralische oder politische Ansprüche erwachsen, entpuppt sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen als außerordentlich umkämpfte Frage.
Wir laden ein, Vorschläge für theoriegeleitete empirische sowie theoretische Beiträge einzureichen, die systematische Bezüge zu den skizzierten Problemperspektiven entwickeln. Das geplante Schwerpunktheft ist offen für sehr unterschiedliche theoretische wie methodische Herangehensweisen. Auch lassen sich die Zusammenhänge zwischen dem gesellschaftlichen Wandel von Verletzbarkeit und den Dynamiken ihrer Politisierung auf ganz unterschiedlicher›Flughöhe‹betrachten. So können beispielsweise Analysen von Medienberichten, Gesetzen und Gerichtsurteilen oder Protestkampagnen Aufschluss über die Wahrnehmung, Anerkennung und Umstrittenheit von Verletzbarkeitsansprüchen in öffentlichen und politischen Arenen geben. Untersucht werden kann zudem, wie Organisationen mit gesellschaftlichen Verletzbarkeitswahrnehmungen umgehen oder wie sie Verletzbarkeiten mitstrukturieren – man denke nur an diskriminierende Strukturen oder Awareness-Konzepte. Zentral erscheint schließlich auch die Frage, wie indi-viduelle Erfahrungen und Artikulationen der Verletzbarkeit durch gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen und soziale Konflikte ermöglicht, angestoßen oder zu-rückgedrängt werden.
Konkrete Beitragsvorschläge nehmen wir gerne bis zum 24.04.2023 in Form von ausführlichen Abstracts (1–2 Seiten) entgegen. Diese werden in einem ersten Begutach-tungsschritt auf ihre Passung zur inhaltlich-programmatischen Ausrichtung des Schwerpunktheftes geprüft. Die Autor:innen ausgewählter Beitragsvorschläge werden anschließend gebeten, ihre Aufsatzmanuskripte bis zum 31.10.2023 direkt bei den Gastherausgebern einzureichen. Die Texte durchlaufen dann ein für die ZfS übliches double-blind peer review. Eine Publikation des Schwerpunktheftes wird für das Jahr 2024 angestrebt.
Ihre Abstracts schicken Sie bitte an:
eddie.hartmann(at)wiku-hamburg.de und frithjof.nungesser(at)uni-graz.at