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Vorläufiges Vertriebsverbot der Sammelpublikation ›Ökonomie und Gesellschaft‹ (Bundeszentrale für politische Bildung) durch das Bundesministerium des Innern

Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat auf Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) den Vertrieb der von Bettina Zurstrassen (Universität Bielefeld) wissenschaftlich verantworteten Sammelpublikation ›Ökonomie und Gesellschaft‹, erschienen in der bpb-Schriftenreihe ›Themen und Materialien‹, (vorläufig) untersagt. In der Publikation werden in einzelnen Beiträgen ökonomisch geprägte politische und gesellschaftliche Probleme auch aus soziologischer, politikwissenschaftlicher und volkswirtschaftlich heterodoxer Perspektive unterrichtsmethodisch aufgearbeitet. Das BMI begründet sein vorläufiges Vertriebsverbot mit dem Verstoß gegen den Beutelsbacher Konsens (Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot).

Der inzwischen mit der Überprüfung des BDA-Vorwurfs betraute Wissenschaftliche Beirat der bpb kommt mehrheitlich zu dem Schluss, dass der Vertrieb der Publikation als unproblematisch anzusehen ist.

In der Kritik der BDA stehen drei der neun Beiträge, die kritische Perspektiven auf wirtschaftspolitischen Lobbyismus werfen oder alternative, auch soziologisch fundierte wirtschaftstheoretische Ansätze aufgreifen. In skandalisierender Absicht hat die BDA den Autor/innen Zitate zugeschrieben, die nicht von ihnen stammen, Zitate verkürzend aus dem Kontext gerissen und Zitate durch nicht markierte Auslassungen verfälschend dargestellt. Zum Teil werden als Beleg für die Kritik auch Zitate aufgeführt, die aus Zeitungsartikeln entnommen wurden, die in den Unterrichtsmaterialien abgedruckt sind.

Obwohl das BMI über diese unseriöse Zitierweise detailliert in Kenntnis gesetzt wurde, hat es mittels eines Erlasses ein (vorläufiges) Vertriebsverbot erteilt, das nunmehr seit Juli 2015 besteht. Die Urheber/innen hatten keine Möglichkeit, sich gegen die an sachlicher Fundierung mangelnden Einwände der BDA zu Wehr zu setzen. Das Ministerium setzte also die Forderung des wirtschaftlichen Interessenverbandes um, ohne sich für die Argumente der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu interessieren oder zunächst die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats abzuwarten.

Der Vorstand der DGS hält die seitens des Bundesministeriums des Innern auf eine ungeprüfte Verdächtigung und ungeachtet des erfolgten Widerspruchs seitens der Autor/innen hin ergriffene Maßnahme für inakzeptabel. Er kritisiert die Verletzung des Prinzips der Anhörung der Betroffenen und des Abwägens sämtlicher Argumentationen vor Ergreifen von Maßnahmen gegen wissenschaftliche Autor/innen scharf und verwehrt sich gegen den massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft.

Der DGS-Vorstand kritisiert den politischen Vorstoß der BDA und des Bundesinnenministeriums gegen den Anspruch der soziologischen Disziplin, ökonomische Phänomene wie den Lobbyismus auch aus soziologischer Perspektive zu analysieren und diese Erkenntnisse in Lehr-Lern-Materialien zu ökonomisch geprägten gesellschaftlichen Problemen für sozialwissenschaftliche Bildungsprozesse angemessen zu repräsentieren. Der Soziologie das Recht auf Beschäftigung mit ökonomischen Themen abzusprechen und den Schülerinnen und Schülern soziologische Erkenntnisse über Wirtschaft vorzuenthalten, ignoriert die wissenschaftliche Expertise der Disziplin und den Beitrag der soziologischen Aufklärung zur allgemeinen Bildung. Vor allem aber missachtet er das Gebot der Wissenschaftsorientierung von Bildung.