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Zwiespältiger Fortschritt? Neue Begründungs- und Legitimationsprobleme politisch handlungswirksamer Wissenschaft

Die Herausbildung und Umsetzung einer globalen Klimapolitik verdeutlicht in Aufsehen erregender und bisher beispielloser Weise die praktische Relevanz und Wirksamkeit moderner Wissenschaft, bringt aber zugleich neuartige Begründungs- und Legitimationsprobleme hervor. Diese resultieren vor allem daraus, dass wissenschaftliches Wissen (mit all seinen Ungewissheiten, Uneindeutigkeiten und Wissenslücken) zur Grundlage weltweit abgestimmten und folgenreichen politischen Handelns wird. Dabei ist - in scharfem Kontrast zu dieser Entwicklung - gerade in den vorangegangenen Jahren in zahllosen sozialen und politischen Konflikten (Kernenergie, Gentechnik etc.) deutlich sichtbar geworden, dass die Wissenschaft in praktischen Anwendungskontexten in der Regel weit davon entfernt ist, konsensuelles, eindeutig handlungsorientierendes Wissen zur Verfügung zu stellen. Die seit einigen Jahren wachsende öffentliche und (sozial-) wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Ungewissheit und wissenschaftliches Nichtwissen sowie für die Pluralität epistemischer Kulturen bringt dies recht klar zum Ausdruck und markiert einen zumindest partiellen Perspektivenwechsel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Wissenschaft und wissenschaftsbasierter
Technik.

Wie kann es der Wissenschaft vor diesem Hintergrund dennoch gelingen zur entscheidenden Ressource und Grundlage politischen oder wirtschaftlichen Handelns zu werden? Wie kann es trotz Wissenlücken und inhärenter Ungewissheit gleichwohl zu einer so weitgehenden Konsensbildung kommen, dass konsistente politische Handlungs- oder wirtschaftliche Innovationsstrategien formuliert werden können. Welche Formen des "boundary work" lassen sich hierbei soziologisch beobachten? Im Fall der Klimapolitik wurde bekanntlich mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ein neuartiger, interinstitutioneller Rahmen geschaffen, um die Spannungen zwischen wissenschaftlicher Ungewissheit einerseits und hohem politischen Entscheidungsdruck zu bearbeiten. Welche institutionellen Strukturen, Strategien oder Diskurse können oder sollen in anderen Fällen praxisrelevant werdender Wissenschaft (Gentechnik, Nanotechnologie, Biomedizin, Hirnforschung u.Ä.) eine ähnliche Funktion der Absorption von Ungewissheit und Nichtwissen übernehmen? Inwiewe it gelingt es beispielsweise suggestiven Visualisierungen oder der diskursiven Erzeugung und Verdichtung von Erwartungen und Hoffnungen (z.B. auf die Heilung schwerer Krankheiten oder weitergehend sogar auf eine "Perfektionierung" der menschlichen Natur), wissenschaftliches Wissen trotz aller Unwägbarkeiten und z. T. gegen ethische Bedenken und Einwände gesellschaftlich anschlussfähig und wirksam werden zu lassen?

Es ist nicht überraschend, dass durch derartige Mechanismen der Konsensbildung und des Ungewissheits-Managements sowie durch neuartige Konstellationen von Wissen(schaft) und Politik eine Reihe von kognitiven und normativen Fragen aufgeworfen werden: Wie kann beispielsweise die Validität des handlungsleitenden wissenschaftlichen Wissens gesichert und getestet werden, wenn dieses, wie etwa im Fall der Klimaforschung, auf hochkomplexen Modellierungen und Simulationen basiert? Inwieweit können "techno-scientific promises" (wie ein aktueller Bericht der EU-Expertengruppe "Science and Governance" dies nennt) auf ihre Realitätshaltigkeit überprüft werden und wie lassen sich Zeithorizonte ihrer Realisierbarkeit eingrenzen? Ist es politisch und ethisch vertretbar, auf der Grundlage ungesicherten Wissens und provisorischer Konsensbildungen zu handeln - und inwieweit wäre es umgekehrt gerechtfertigt, unter Hinweis auf bestehende Lücken und Unsicherheiten des Wissens nicht zu handeln? Wie werden diese Fragen innerhalb der Wissenschaft bzw der beteiligten Disziplinen wahrgenommen und beantwortet? Und in welcher Weise und in welchem Rahmen könnten solche Probleme gesellschaftlich bearbeitet und entschieden werden?

Auf einer etwas allgemeineren Ebene bieten die angedeuteten Entwicklungen auch einen Anlass zur konzeptionellen Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit: Lassen sich die erwähnten Phänomene mit Konzepten wie "post-normal science" und "extended peer-reviews" (Funtowicz und Ravetz) oder Modus 2, "Kontextualisierung" und "sozial robustes Wissen" (Nowotny), "enge Kopplungen" zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit (Weingart) oder auch "Realexperimente" (Krohn, Groß) zureichend erfassen? Oder zeichnen sich hier neuartige Konstellationen der gesellschaftlichen Intervention und Wirksamkeit von Wissenschaft und Technik ab, sei es in Form eines subtilen, latent technokratischen Autoritarismus (z.B. Klimapolitik), sei es in Gestalt eines medial abgestützten Regimes techno-wissenschaftlicher Versprechungen (z.B. Nanotechnologie, Biomedizin) oder der Infragestellung gleichermaßen lebensweltlicher wie institutionalisierter Wissensbestände (bspw. Infragestellung menschlicher Willensfreiheit durch die Hirnforschung)?

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Tagung der Sektion Wissenschafts- und Techniksoziologie als ein Forum, um die skizzierten Fragestellungen eingehender zu diskutieren: Eingeladen dazu sind Beiträge die sich dieser oder ähnlicher Fragen an empirischen Beispielen, in vergleichender Perspektive und/oder unter theoretischen Aspekten annehmen. Dabei sind auch solche Beiträge willkommen, die verschiedene theoretische Lesarten kontrastierend auf die Beobachtung bestimmter Phänomene anwenden. Mögliche Themen könnten in diesem Rahmen beispielsweise sein:

  • Welche Formen der innerwissenschaftlichen Konsensbildung, der Formulierung von Hoffnungen und Erwartungen, des boundary work oder des Ungewissheits-Managements zwischen Wissenschaft und Politik lassen sich beobachten?
  • Wie wird komplexes, auf Modellierungen und Simulationen basierendes Wissen validiert und wie wird es öffentlich kommuniziert?
  • Bilden sich neue Regeln des Handelns und Entscheidens unter Ungewissheit heraus, und wenn ja, wie sind diese begründet?
  • Welche Formen und Strategien der Legitimierung politisch engagierter und gesellschaftlich intervenierender Wissenschaft sind zu erkennen? Lassen sich dabei zugleich neue Konfliktlinien sei es innerhalb der Wissenschaft, sei es zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit ausmachen?
  • Lassen sich übergreifende Konsequenzen für Form und Funktion von Wissenschaft oder Politik identifizieren, die strukturelle Veränderungen anzeigen?

Die Einsendungen von 1-2-seitigen Abstracts wird erbeten bis zum 16. März an:
Stefan Böschen (stefan.boeschen(at)phil.uni-augsburg.de) und
Peter Wehling (p.wehling(at)t-online.de).