Thema
Die Natur der Gesellschaft
Aber auch in anderer Weise zeigt sich die Soziologie gewappnet für die Reflexion auf die natürlichen Voraussetzungen der Gesellschaft, die diese selbst nicht garantieren kann.
Hinter all dem verbirgt sich die Frage, wohin sich eine Gesellschaft entwickelt, die in der Natur einen Grund für Hoffnungen und Ernüchterungen findet.
Ein anderes Thema ist die Ausweitung bildgebender Verfahren, einschließlich der biometrischen Identifikation von Menschen, für welche erhebliche öffentliche Mittel ausgegeben werden, mehr jedenfalls als für die Untersuchung der sozialen und kulturellen Bedingungen menschlichen Handelns oder gesellschaftlicher Spaltungen.
Die Natur der Gesellschaft
Aufgeregte öffentliche Debatten über die sozialen Folgen schrumpfender Bevölkerungen, über die moralischen Gefährdungen einer genetischen Optimierung des Lebens oder einer Selbstbestimmung über den Tod, rücken die Frage nach der menschlichen Natur erneut ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Wie verhalten sich Erwartungen über die Herstellbarkeit schönerer, klügerer und gesunderer Menschen zu Befürchtungen über das Aussterben eines Volkes, über die Vernichtung ›unnützen Lebens‹ oder die nachhaltige Manipulation des Erbgutes? Es sind die damit verbundenen neuen Definitionen des Humanen bis hin zu einer Infragestellung des Menschen, welche eine neue Bestimmung seines Verhältnisses zur Gesellschaft notwendig macht. Es soll beim Kasseler Soziologiekongress um die Diagnose einer epochalen Veränderung von dem gehen, was am Menschen als ›natürlich gegeben‹ und was als ›gesellschaftlich vermittelt‹ angesehen wird. Der Geltungszuwachs bedeutet nicht einfach, dass ›Kultur‹ durch ›Natur‹ ersetzt würde, vielmehr wird nach neuen und anderen Mischungen einer kulturierten Natur oder einer naturbedingten Kultur gefragt. Zwar versuchen Ethikkommissionen, vor allem im Felde der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, einer zunehmenden biotechnischen Eigengesetzlichkeit Einhalt zu gebieten. Aber gegen euphorische Erwartungen und die Macht der medialen Bilder vermögen die Argumente einer abwägenden Betrachtung oftmals wenig auszurichten.
Wiedererstanden ist auch der Traum vom ›neuen Menschen‹, individuell vielleicht auf die Versprechungen kosmetischer Chirurgie setzend, kollektiv jedoch in Forschungslinien wirksam wie Gentechnik oder Robotik. Der Sieg über Erbkrankheiten auf der einen, wie artifizielle Körper und eine ›lebendige Technik‹, die uns in postsoziale Welten führen, auf der anderen Seite scheinen möglich zu werden. Was immer sich davon erfüllen mag: neue Märkte werden in jedem Fall geschaffen.
Seit Jahren erleben wir einen Innovationsschub der Biowissenschaften, parallel zur informations- und medientechnischen Veränderung des menschlichen Zusammenlebens – und dies im globalen Maßstab. In vielen Debatten erscheint es so, als ob die geistes- und sozialwissenschaftlichen Deutungen der menschlichen Lebenswelt abgedankt hätten, wie das paradigmatisch den öffentlichkeitswirksamen Diskurs zwischen Gehirnforschern, Philosophen und Kulturwissenschaftlern um die ›Willensfreiheit‹ bestimmt hat.
Exemplarisch lässt das Konkurrenzverhältnis zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaft an der Sozialisationsforschung aufweisen: Die Grundannahmen der Soziologie über die frühkindliche Prägung intellektueller und psychischer Strukturierungen scheinen durch die Spezifizierung genetischer Determinationen in Frage gestellt zu sein. Darauf reagiert die Soziologie oft mit einer Tabuisierung naturwissenschaftlicher Ansätze, während es darauf ankäme, auch die Anregungen der Neurobiologie zu verarbeiten, etwa wenn – gegen verbreitete Unterstellungen einer jederzeit möglichen Neukonstruktion von Mensch und Gesellschaft auf der Basis rationaler Entscheidungen nachdrücklich auf die Beharrlichkeit einmal aufgebauter, physischer, mentaler und sozialer Strukturen und die damit einhergehenden ›Pfadabhängigkeiten‹ hingewiesen wird. Insofern steht die ›zweite Natur‹ des Menschen mit seiner inneren und der äußeren Natur in vielfältigen Wechselbeziehungen, die auch soziologisch verstanden werden müssen. Zu relativieren wäre allerdings das Modell einer Fixierung des personalen Verhaltens durch neuronale Verschaltungen, nicht weniger als jede traditionelle Willens- und Entscheidungsmetaphysik. Werden demgegenüber neuronale Prozesse als physische Bedingungen von Denken, Fühlen, Handeln und personaler Identitätsbildung verstanden, so ergibt sich daraus keine Determination. Vielmehr sind diese naturalen Basisprozesse im Horizont der handelnden Personen zu verstehen, gibt es eine gegenseitige Beeinflussung der Ausbildung des Körpers ebenso wie der Identitätsbildung. Für lange Zeit erschien das Kind als ›Natur‹ durch gesellschaftliche – erzieherische – Eingriffe erst eingehegt, gebändigt, geformt werden zu müssen, um dann zum verantwortlichen, mündigen, gesellschaftsfähigen Individuum werden zu können. Daraus leitete sich – nach der ›Erfindung der Kindheit‹ – als Aufgabe der Bildungsinstitutionen ab, ›natürliche Begabungen‹ auszumachen und sie in einer Art gärtnerischer Tätigkeit derart zu pflegen, dass sie sich entfalten und gesellschaftlich produktiv wirksam werden können. Deshalb ist für die Soziologie die naturwissenschaftliche Thematisierung des Menschen keineswegs marginal, da ohne sie ein Verständnis auch des vergesellschafteten Individuums nicht möglich ist.
Daraus ergeben sich zum Beispiel folgende Fragen: In welchem Verhältnis stehen Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten, physiologische Substanzannahmen und sozial geförderte Kreativitätsprozesse zueinander? Wie sind individuelle Bildungsprozesse mit sozialer Ungleichheit und Herrschaft verbunden, woraus wiederum die Vorstellungen über ›individuelle Natur‹ und ›Gesellschaft‹ beeinflusst werden. Desweiteren wird in weltweiten Migrationsprozesse die ethnische Zugehörigkeit auf neue Weise zu einer quasinatürlichen Bedingung für die Bildungsfähigkeit von Individuen.
In allen diesen Bereichen ist es offenbar weniger die ›Gesellschaft‹ als das ›Lebens‹, was die Menschen heute in Atem hält. Es ist dies aber keine erstmalige Faszination durch die Lebenswissenschaften. Der Einfluss der darwinschen Evolutionstheorie hatte im 19. Jahrhundert zu einer ersten Revolutionierung des Weltbildes durch biologische Modelle geführt. Zu einer zweiten, die ganze Kultur durchdringenden Betonung des ›Lebens‹ kam es am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, wobei biologischer Vitalismus, Frühmenschenfunde und die neuartige Verhaltensforschung den Anstoß gaben. Der Kasseler Soziologiekongress beschäftigt sich nun mit Ursachen, Formen, Funktionen und Folgen der heutigen biopolitischen Wende in der öffentlichen Selbstthematisierung.
Themenfelder: Ökologie, Demographie, Naturkatastrophen
Ein Aspekt des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft wurde als ökologische Perspektive durch soziale Bewegungen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben und ist seither politisch und wissenschaftlich etabliert. Das zeigt sich in der zunehmend wichtiger werdenden ökologischen Landwirtschaft ebenso wie in der Verbindung von Agrarproduktion im Verhältnis einerseits zum Verbraucherschutz und anderseits zum Naturschutz. Die Produktion, auch die Verteilung von Lebensmitteln erweist sich immer als Schnittstelle zwischen naturalen und gesellschaftlichen Prozessen. Daraus ergeben sich Anwendungsgebiete wie das biotechnologische Abfallmanagement oder Altlastsanierung, die ohne eine Kooperation zwischen Sozialwissenschaften auf der einen und Natur- bzw. Ingenieurwissenschaften auf der anderen Seite nicht weiterzuentwickeln wären. Hier berühren sich Naturprozesse nicht nur mit dem staatlichen und ökonomischen Regulierungsinteressen, sondern auch mit dem sehr unterschiedlichen Konsumverhalten verschiedener Gruppen, Schichten und Gesellschaften.
Trotz der Etablierung ökologischer Perspektiven in vielen Bereichen gesellschaftlichen Lebens, wird erst seit jüngster Zeit der Zusammenhang, zum Beispiel zwischen dem Klimawandel und der zunehmenden Erwartbarkeit ›normaler Katastrophen‹ in den modernen Gesellschaften als brisantes Problem wahrgenommen. Die Verkettung von Naturkatastrophen in Folge des Hurrikans Katrina mit sozialen und politischen Gegebenheiten machte New Orleans – wenigstens außerhalb der USA – zum Menetekel. Dabei zeigt sich auch, dass Katastrophenfolgen ungleich verteilt sind, dass der Mangel materieller Ressourcen auch die Überlebenschancen dramatisch verringert. Das gilt ebenso für die Ausbreitung und die gesellschaftlichen Folgen von Aids, etwa in afrikanischen Gesellschaften, wie Kenia, im Vergleich mit den entwickelten Industriegesellschaften. Die fast unkontrollierbare Ausbreitung der Krankheit in dem einen Fall, die spezialisierte Versorgung der, wenn auch größer werdenden, Minderheit von Infizierten auf der anderen Seite belegt deutlich den Zusammenhang von Wohlstand, medizinischer Versorgung, aufklärender Information und der Beschleunigung eines eben nicht nur ›naturalen‹ Ansteckungsprozesses, ebenso die Versorgung mit Medikamenten und die Chance der Lebensverlängerung bei HIV-positiven Patienten. In allen diesen Fällen bedarf es neuer Kategorien für die Beschreibung der Verwundbarkeit heutiger Vergesellschaftung durch die – sozial allerdings ungleich verteilte – ›natürliche‹ Risikolage.
Unübersehbar sind auch die demographischen Verschiebungen in unserer Zeit geworden. Das alte Thema der Bevölkerungsexplosion in großen Teilen der Welt wird neuerdings begleitet durch die Wahrnehmung nicht nur schrumpfender Gesellschaften, sondern auch der Verschiebung des Verhältnisses von jungen und alten Menschen in den reichen Ländern der Welt – all dies äußert sich auch in veränderten Biographien, Persönlichkeitsentwürfen, den Spannungsgefügen von Kollektivität und Individualität. Diese Veränderungen der Alterspyramide, des ›natürlichen Alterns‹ in Spannung zu den veränderten Formen der Institutionalisierung von Lebensläufen, mag ebenso eine neue politische und moralische Ökonomie auf den Plan rufen, wie auch strukturell neue Generationskonflikte wahrscheinlich machen. Es reflektiert sich dies wohl auch in der neuen Attraktivität eines soziologischen Generationenbegriffes, der die gesellschaftliche Selbstbeobachtung historisiert und soziale Probleme von den prägenden Erfahrungen ungefähr Gleichaltriger aus interpretiert.
Themenfelder: Wohlfahrtsstaat, Familie, Gesundheit
Der als problematisch empfundene Rückgang der Geburtenzahlen in den meisten europäischen Gesellschaften hat auch in den Forschungen zur Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaates zu einem Überdenken des Verhältnisses von Bevölkerungsdynamik und Sozialstruktur geführt. Sozialpolitik in individualisierten Gesellschaften mit einem entzauberten Staatsverständnis wird zunehmend bevölkerungspolitische Effekte zu berücksichtigen haben. Das betrifft in aller erster Linie – wie nicht nur der Bundespräsident proklamiert – die Familie, deren ›Versagen‹ im Reproduktions- wie im Bildungsbereich zur Herausforderung einer neuen, ›sozialinvestiven‹ Sozialpolitik geworden ist. Und doch erweist die Familie sich, bei allen Veränderungen der Formen des Zusammenlebens, auch heute als Basiseinheit der gesellschaftlichen Reproduktion, denn in diesem institutionellen Rahmen werden nach wie vor eine Fülle sozialpolitischer Probleme subsidiär gelöst (auch wenn Ehen zerbrechen oder komplizierte Verhältnisse von Partnern und Kindern existieren, bleibt der Familienzusammenhang erstaunlich leistungsfähig).
Dass die natürliche Fortpflanzung einer Gesellschaft der sozialen Rahmung bedarf, war der Familienpolitik (bis zur deren besonderen Schutz durch einen Artikel des Grundgesetzes) immer schon selbstverständlich, dürfte für die Alltagspolitik jedoch neue Probleme aufwerfen. Es ist längst nicht mehr so, dass die Soziologie die Augen vor den Tatbeständen einer zurückgehenden Bevölkerungszahl und einer umgeschichteten Altersstruktur verschließen würde. Im Gegenteil: Die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes verstehbare Tabuisierung schon des Begriffs ›Bevölkerung‹ löst sich zugunsten konzeptioneller Erweiterungen dieser Fragestellung auf.
Dieselben weltweiten und innergesellschaftlichen Veränderungen machen auch die soziologischen Forschungen zu Krankheit und Gesundheit erneut aktuell. Organtransplantationen stellen das Problem der Artifizialität der menschlichen Körperzurichtung und Lebensweise ebenso deutlich vor Augen wie die Verbindung zwischen körperlichen Naturprozessen, psychischer Verarbeitung, ökonomischen Chancen und kriminellen Risiken. Politisch werden institutionell folgenreiche Fragen nach einer gesteigerten Selbstverantwortung für die Pflege der eigenen ›natürlichen Ausstattung‹ aufgeworfen: Welche Sorge hat jeder einzelne für seine Gesundheit zu tragen? Gibt es Grenzen der gesellschaftlichen Kostenerbringung für die medizinische Versorgung von Hochbetagten (bei gleichzeitiger aktiver Lebensgestaltung und einer durch den erzwungenen Ruhestand beschleunigten Dequalifizierung)? Wissenschaftlich sind das Themenstellung einer kritischen Altersforschung und einer Gerontologie, welche gegen den naturwissenschaftlichen Objektivismus vorprogrammierter Alterungsprozesse komplexere Bedingungsstrukturen auf der Basis veränderter biographischer Daten erörtert. Auch darin spiegelt sich das Problem sozialer Ungleichheit, wie das in der rhetorischen Wendung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder plastisch zum Ausdruck kam, der als ›Reform‹-Politiker doch daran festhielt, dass es nicht erneut dazu kommen dürfe, den sozialen Status wieder an den Zähnen ablesen zu können.
Themenfelder: Körper, Raum
Ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft wird in der zunehmend wichtiger werdenden Soziologie des Körpers thematisch. Theoretische Arbeiten zum Verhältnis von Körperpolitik und Ordnungsherstellung sowie zur Verkörperung ungleicher Statuslagen waren hierfür ebenso anregend wie die Frauen- und Geschlechterforschung. Für die Inkorporation ungleicher Lebenslagen und -chancen stehen öffentlich erzeugte Begriffe, wie etwa ›white trash‹, Ausdruck sowohl der Deklassierung wie der Möglichkeiten ihrer kulturellen Stilisierung. Auch die Propagierung von Schönheitsidealen und Körpernormierungen – etwa Fettleibigkeit nicht mehr als Wohlstandssymbol, sondern als Zeichen der Selbstexklusion – zeigen den Umgang mit dem eigenen Körper als Ausdruck der Einschreibung von Gesellschaft.
Reifungs- und Alterungsprozesse machen es für alle Lebensphasen notwendig, den Menschen als psychophysische und soziale Einheit zu verstehen, wozu die Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers gehört. Körperliche Befindlichkeit, Emotionen und die kulturellen Formen der Körperthematisierung und -stilisierung gehören hierher – in Jugendkulturen beispielsweise das peergroupenbezogene Ad(-)dressing the body. Und Mode ist seit jeher Ausdruck der auf den Leib geschnittenen Gesellschaft, in der Überformung des Naturkörpers durch den sozialen Körper.
Als fundamental ist die soziale und kulturelle Verfassung der Körpernatur in den Forschungen zur Geschlechtsbestimmtheit von Verhaltensweisen und Klassifikationssystemen.
Zwischen einem radikalen Konstruktivismus der sozialen Konstitution des Geschlechts auf der einen und einem biologischen Geschlechtsdeterminismus auf der anderen Seite, wurde zunehmend die Differenz von gegebenem Geschlechtskörper und dem Selbstverhältnis des Menschen in seiner Leiblichkeit zur Voraussetzung der Unterscheidung und Verbindung von sex und gender. Noch in der Reflexion (nicht nur bei Grenzphänomenen der Transsexualität) über die ›falsche‹ körperliche Festgelegtheit auf ein Geschlecht, hat sich der Körper als ein erfahrungsoffenes und erlebnissensibles Medium von Vergesellschaftungsprozessen erwiesen. Gleichwohl gibt es, wie ethnische – gesteigert: rassistische – Varianten einer Naturalisierung, auch eine durch fixierte Gender-Zuschreibungen; wie sich das insbesondere trotz des unübersehbaren Aufstieges der Frauen in den westlichen Industriegesellschaften bleibt immer noch Distinktions- und Diskriminierungskraft.
Mit der Thematisierung des Körpers hängt auch das neue Interesse an der Kategorie des Raumes eng zusammen. Das gilt für kleinteilige Lebensweltanalysen ebenso, wie für interkontinentale Migrationsprozesse. Vor dem Hintergrund von extrem ungleicher Ressourcenverteilung, demographischer Entwicklung und globaler Wanderung entsteht eine neuartige, Raumverhältnisse einbeziehende, soziale Frage. Beispielsweise ergaben sich in der soziologischen Analyse der, für unsere Vorstellung von der Moderne so wichtigen, Urbanisierung neue Verbindungen zwischen einer netzwerkorientierten Sozialgeographie und Analysen sozialer Verhaltensformen in unterschiedlichen Raumkonstellationen. Auch werden veränderte Raum-Zeit-Kompressionen im weltweiten Maßstab in ihren Konsequenzen erkannt und tragen zum besseren Verständnis neuer basaler Vollzüge sozialen Handelns bei, was für unser Fach auch methodologische Konsequenzen hat. Ebenso sind es Untersuchungen über städtische ›Chronotopien‹, über transitorische ›Nicht-Orte‹ des standardisierten Konsums oder der globalen Mobilität, über vermischte Lebenswelten aus Arbeit und Freizeit, die ? gegen die alte Klage, dass die Soziologie ›raumvergessen‹ sei – zu einer Wiederbelebung der scheinbar archaischen Kategorie des ›Raumes‹ für eine genuin soziologische Zeitdiagnostik beigetragen haben.
Themenfelder: Gewalt, z.B. Terrorismus, Krieg
Gewalt oder in Gewaltdiskursen und gewaltsamen Handeln (wie auch in der Unterwerfung unter strukturelle Verzerrungen der Macht) äußert sich ganz unmittelbar die Körperlichkeit des Menschen, konkurrieren wiederum die trieb- und aggressionstheoretischen Deutungen der Naturwissenschaftler (eingeschlossen der Ethologen) auf der einen und der Sinnprovinzen der Gewaltsamkeit rekonstruierenden Soziologie. Immer berühren sich hier – auch in der Raumnahme und hierarchischen Raumdefinition – Naturgewalt und gesellschaftliche Machtdifferenz. Man kann das von Handlungsoptionen her ebenso untersuchen, wie aus unter dem Gesichtspunkt kollektiv geronnener ›Sachzwänge‹. Die Karriere des Exklusionsbegriffes und seiner Ethnisierung in den öffentlichen Debatten ist dafür ein Beispiel – und das kann ganze Kontinente oder ganze Ländergruppen betreffen. Ein Beispiel ist Afrika, das Bundespräsident Horst Köhler wenigstens partiell dem ausschließenden Vergessen entreißen will. Inzwischen wissen wir also, dass es nicht nur die Inkludierung der Unterdrückung sondern auch die exkludierende Gleichgültigkeit, das Abschneiden der Beziehungszusammenhänge gibt. Und all das lädt zur Naturalisierung sozialer Zusammenhänge geradezu ein. In diesem Felde finden wir die unterschiedlichsten Gewaltformen, von den jugendlichen und/oder ethnischen ›rights‹, der individuellen Gewaltausübung deklassierter, in der Gewaltritualisierung in der ›Erlebnisgesellschaft‹ (wenn man den Nah- und Ferntourismus von Hooligans denkt), die praktische Umcodierung von Demonstrationen in lebensbedrohliche Kämpfe (von der Seite radikaler Gruppen ebenso wie von Ordnungskräften). Aber das Thema hat ebenso andere Dimensionen, die des Krieges, die des regionalen und internationalen Terrorismus (und der neuartigen Verbindung zwischen ihnen). Vor solchem Hintergrund wird man ›Globalisierung‹ nicht als ›Naturgewalt‹ ausgeben können, dürfte die soziologische Forschung den – auch in der Ökonomie – weitverbreiteteten ›No alternativ‹-Suggestion nicht folgen. Das kann sie aber nur, wenn sie ein realistisches Verhältnis zur Einlagerung solcher Prozesse in (sozial geformte und definierte) Naturprozesse ausschließt.
Thematische Kontinuität der jüngsten Kongresse der DGS
Manchem erschien es so, dass mit dem voraussetzungsvollen Titel ›Natur der Gesellschaft‹ (in dem manche nur eine Anspielung auf Luhmann herauslesen wollten, andere eine Thematisierung des ›Wesens‹ von Gesellschaft) ein Bruch gegenüber frühreren Themen und Problemstellungen vollzogen worden sei. Aber schon die wenigen, exemplarischen Aspekte des Kasseler Themas zeichnen ein anderes Bild: Der Entstaatlichung-Kongress in Leipzig (2002) hatte sich mit fast sich allen hier gennannten Feldern unter dem Gesichtspunkt des Sozialstaates und seiner Herausforderungen und nach dem 11. September 2001 – befaßt, nach dem 11. September 2001, dann auch die neue Zunahme nationalstaatlicher Machtansprüche einbeziehend. Und es dürfte auf der Hand liegen, dass der das Münchner Ungleichheits-Kongress (2004) große Teile des wiederum zu bearbeitenden Sozialprozesse und ihrer Wirkungen zum Thema hatte. Auch damals wurde über die Naturalisierung der neuen Konfliktlinien zwischen den ›Zivilisationen‹ gesprochen. Aber nun läßt sich das vertiefen und viel genauer in Naturbilder der Gesellschaft, von Bevölkerung, Ethnien, Geschlechtern etc. einbetten. Zu alledem gehören immer auch ›Gesellschaftsbilder‹ und so ist die metaphorische Nebenbedeutung des Titel ›Natur der Gesellschaft‹ durchaus sollte anregen, diesen Zusammenhang ebenfalls zu behandeln. Aber im Zentrum steht eben die besondere Fokussierung in einem neuen Zeitalter der Biologie, wie einem zuvor der Ökonomie zutun hatten und haben.
Alle diese Themen brechen und spiegeln sich in der rasanten Gesellschaftsentwicklung Chinas, Deshalb wird dies das Gastland dieses 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel sein. Die Auswirkungen von Geburtenkontrolle, der Umgang mit Naturkatastrophen und die ökologischen Folgen eines rasanten wirtschaftlichen Wachstums sind hier in einem ganz anderen Maßstab als in Europa und Amerika oder den sogenannten ›Schwellenländern‹ Asien und Südamerika zu studieren. China ist ein gesellschaftliches Großexperiment für die Frage, wie die Gesellschaft in Zukunft mit ihrer ›Natur‹ umgehen wird.
XX. Kontinuität der Soziologiekongresse (thematisch)
Der Kasseler Soziologentag – wie die hier skizzierte Vielfalt von Aspekten belegt , wird sich mit dem Verhältnis von Natur und Gesellschaft immer auch unter dem Aspekt befassen, dass naturale Bedingungen die gesellschaftlichen Verhältnisse prägen (weshalb Ramond Aaron Montesquieu als ›ersten Soziologen‹ qualifiziert hat,) sondern auch dass die innere und äußere Natur vom mensch aus gesehen, kulturell und sozial eben gesellschaftlich geprägt sind. Im Titelbegriff (der auch eine Anspielung auf Niklas Luhmann enthalten mag), ist aber auch eine methaphorische Bedeutung enthalten, die manchem derer, die von Ankündigung des 33. Kongresses hörte, zuerst aufdrängte, dass es nämlich um die ›Natur‹ der Gesellschaft im Sinne der Erforschung ihres ›Wesens‹ oder ihrer Existenzmöglichkeiten und damit um die unterschiedlichen Bestimmungen von Gesellschaft in bestimmten Kulturen ginge, das wird immer auch ein Aspekt der Diskussionen sein, man denke immer an die unterschiedlichen Gesellschaftsbilder und -realitäten des Gastlandes China. Aber im Zentrum steht eben die Frage nach den naturalen Bedingungen der Naturalität des Menschen und den sozialen Bedingungen der von ihm geschaffenen Welt.
Man könnte das Kasseler Thema als isoliert von früheren Problemstellungen auffassen. Aber das würde nur für eine oberflächliche Wahrnehmung gelten, denn die Kontinuität der in Leipzig 2002 behandelten Entstaatlichungsproblematik in der zugleich das Wiedererstarken staatlicher Hegemonieansprüche als Antwort auf sub- und den metastaatlichen Terrorismus werden mußte, wie auch das Thema sozialer Ungleichheit und kultureller Unterschiede 2004 in München werden vielfältig in Kassel fortgesetzt werden können
Soziologisches Denken hat sich von Anbeginn mit den gegenläufigen Quellen menschlichen Lebens auseinandergesetzt. Verstehen und Erklären bezog sich auf die ›Kulturbedeutung‹ (Max Weber) menschlichen Handelns, Wissens und Produzierens, wie auf die Gegebenheiten der ›menschlichen Natur‹, d.h. des evolutionären Erbes andererseits. Es war dies auch ein Thema der Philosophischen Anthropologie von der die Soziologie lernen konnte, so wenig wie ihre Klassiker sich dagegen zu wappnen sich in bloße Kulturwissenschaft oder bloße Naturlehre á la Soziobiologie aufzulösen. Heute sieht sich die Soziologie erneut in der Mitte der Herausforderung durch das ungleiche Paar der Lebenswissenschaften der Lebens- und Kulturwissenschaften. Und wiederum hat sie, zumal als Wissenssoziologie, zu zeigen, dass soziale Welten – sei es in Ästhetik, Religion, Krieg oder Ökonomie – sich weder aus Kultur noch aus lebenswissenschaftlicher Sicht erschöpfend deuten, verstehen und erklären lassen.
Allerdings stehen mit der Rückbesinnung auf die Natur der Gesellschaft auch die stillen milieutheoretischen Unterstellungen der Soziologie zur Debatte. Gesellschaftliche Vermitteltheit kann nicht länger als polemischer Gegenbegriff zu natürlicher Festgelegtheit begriffen werden.