Wahl Vorsitz

Wahl Vorsitz

Vorstellung der Kandidatin und des Kandidaten zur Wahl der/des Vorsitzenden

Prof. Dr. Dirk BaeckerProf. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky
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Wahlprogramm

›Wir aber treiben nicht Soziologie um ihrer selbst willen (…).‹
Max Weber

Die Soziologie ist eine der Beobachtung und Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene verpflichtete Wissenschaft. Ihr Wissen um die Komplexität der Gesellschaft zwingt sie zur Differenzierung und Kontextualisierung. Dieses Wissen um Komplexität stellt sie der Gesellschaft zur Verfügung. Die Theorien und Methoden der Soziologie geben Auskunft über Diversität und Perspektivenvielfalt.

Darüber hinaus ist die Soziologie eine zivile Wissenschaft. Sie ist eine Stimme unter anderen. Die Soziologie ist auch streitbar, keine Frage, aber dies typischerweise nur bis zu jenem Punkt, an dem auch ihre Gesprächspartner sich zur Komplexität der Verhältnisse bekennen. Erst dann beginnt die eigentliche Arbeit.

Die Soziologie ist eine akademische Disziplin und eine berufliche Ausbildung. Sie ist in Universitäten, öffentlichen und privaten Forschungsinstituten sowie in Stellenbeschreibungen von Behörden, Unternehmen, Kirchen, kulturellen Einrichtungen und anderen Organisationen verankert. Es gibt keinen Lebens- und Arbeitsbereich, der ihr fremd ist, weil jeder Lebens- und Arbeitsbereich ein Teil der Gesellschaft ist, ihres wichtigsten Forschungsgegenstands.

Die Soziologie pflegt den interdisziplinären Austausch. Ihre Problemstellungen ergänzen jene der Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Biologie und Psychologie, Linguistik, Literatur-, Kunst-, Film-, Kultur- und Medienwissenschaften, sowie der Theologie, Medizin, Mathematik und Informatik. Jede dieser Wissenschaften ist zugleich Teil ihres Gegenstands. Jede dieser Wissenschaften ist paradigmatisch geprägt durch die Gesellschaft, in der sie ihre Problemstellungen, Begriffe und Methoden entfalten. Die Soziologie ergänzt diese Wissenschaften, indem sie nicht nur Formen ihrer Institutionalisierung untersucht, sondern auch ihr eigenes Verständnis von Sinn, Kommunikation und Praxis der Arbeit an Grundbegriffen zur Verfügung stellt.

Zugleich ist die Soziologie ein Kind der Industriegesellschaft und der Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften im 19. Jahrhundert. Schon im 20. Jahrhundert zeigt sich, dass die Soziologie außerhalb der Universitäten, ihrer Institute, Lehrstühle und Curricula nicht an diese fachwissenschaftliche Ausdifferenzierung gebunden ist. Begriffe wie Komplexität, Kommunikation, Kognition und Kontingenz sind Begriffe, die wissenschaftliche Interessen markieren, die typischerweise über die Grenzen von Fachdisziplinen hinausgreifen. Die verschiedenen Turns der Wissenschaften des 20. Jahrhundert (linguistic turn, cultural turn, rhetoric turn, spatial turn, performative turn, postcolonial turn usw.) zeigen an, dass Begriffe und Gegenstände neue Allianzen suchen, die sich disziplinär nicht begrenzen lassen.

Seit Comte und Marx untersucht die Soziologie nicht nur Elemente der Gesellschaft und ihre statistischen Mengen, sondern Relationen, Relationen von Relationen und Konditionierungen dieser Relationen von Relationen. Dass das Verhältnis empirischer Sozialforschung zu theoriegeleiteten Fragestellungen nach wie vor eher im Zeichen der Differenz als der Integration steht, ist möglicherweise eher Teil der Lösung eines Problems als selber ein Problem. Zu selten allerdings fühlt sich die Soziologie durch diese Differenz fruchtbar herausgefordert. Die Netzwerktheorien und Netzwerkanalyse des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts machen deutlich, dass sich interdisziplinär eine neue Konsolidierung wissenschaftlicher Fragestellungen andeutet, die in den elektronischen Medien nicht nur einen neuen Gegenstand und neue Methoden zu ihrer Erforschung, sondern auch neue Herausforderungen ihrer Paradigmen gefunden hat.

Die Soziologie ist innerhalb der Universitäten als Hauptfach, Nebenfach in verschiedenen Konstellationen und Lehramtsfach etabliert. Sie zielt auf berufliche Kompetenzen von der gesellschaftlichen Beratung und Konfliktmoderation bis zur Projekt- und Organisationsentwicklung. Oft findet man Soziologinnen und Soziologen dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Dementsprechend vielfältig sind die Kontakte, die die Deutsche Gesellschaft für Soziologie pflegt und ausbauen sollte. Von der Hochschul- und Schulpolitik über das Gespräch mit den Berufsverbänden bis zur Suche nach Formaten, in denen die Soziologie sich an Projekten gesellschaftlicher, kultureller, urbaner und regionaler Entwicklung beteiligen kann, gibt es kaum ein Feld, das keine Aufmerksamkeit verdient. Der Umgang mit einer Pandemie wie Covid-19 zeigt, dass es ebenso sinnvoll ist, ein historisches Wissen abrufbar bereitzuhalten, wie mit überraschenden gesellschaftliche Reaktionen umgehen zu können.

Die Soziologie ist eine Wissenschaft mit Augenmaß. Für das Unauffällige und Durchschnittliche, das eine Gesellschaft am Laufen hält, interessiert sie sich ebenso sehr wie für das Auffällige und Ungewöhnliche. Es gehört zu ihrem Profil, bestimmte, für sie typische Themen nachhaltig im Blick zu behalten, von der sozialen Frage über die soziale Ungleichheit bis zu Fragen der Globalisierung und Migration, des Auseinanderdriftens von Globalem Süden und Globalem Norden, der Digitalisierung, des Umbaus zu einer nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft, des Verhältnisses der Geschlechter und der Transformation der modernen Buchdruckgesellschaft in eine nächste Gesellschaft der elektronischen Medien. Die Soziologie weiß, dass sie in allen diesen Themen ebenso sehr Akteur wie Gegenstand einer Rücksicht auf neue Sensibilitäten ist. Zu dieser Rücksicht gehört nicht zuletzt eine Überprüfung der medialen Präferenzen der Soziologie für Daten und Texte. Dabei kommen nicht nur Bilder und Töne zu kurz, sondern auch Grafiken, Formeln und Modelle.

Vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erwarte ich, dass er das Bild einer wissenschaftlichen Disziplin, die für Komplexität und Differenzierung zu werben vermag, nach Innen und nach Außen vertritt und eine Agenda verfolgt, die die Soziologie zu einem gesuchten und geschätzten Partner gesellschaftlicher Entwicklungen macht.

Zur Person: 1974 bis 1982 Studium der Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaften, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln und Université Paris-IX (Dauphine); 1982 bis 1993 Promotion und Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld bei Niklas Luhmann; 1993 bis 1996 Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Visiting Scholar an der Stanford University, London School of Economics und Johns Hopkins University; Gastprofessur an der Universität Wien; 1996 Ruf auf den Reinhard-Mohn-Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel an der Universität Witten/Herdecke; 2000 Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke; Mitbegründer des Management Zentrums Witten; 2007 Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin University; Lehraufträge an der Universität Basel; 2015 Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.
Internet: catjects.wordpress.com und uni-wh.de/baecker. Email: dirk.baecker@uni-wh.de.

Wahlprogramm

Die DGS ist eine große, in verschiedener Hinsicht plurale Gemeinschaft von Soziolog_innen.

Ich bewerbe mich um den Vorsitz der DGS in breiter Kenntnis sowie nachhaltigem Engagement in zahlreichen Gremien der DGS – nach inzwischen 7 Jahren durchgängiger Mitarbeit im Vorstand, davon die vergangenen 2 Jahre als stellvertretende Vorsitzende und Beauftragte für die Sektionen, und zuvor 4 Jahren als Mitglied des Konzils (2009-2013). Auch durch meine langjährige aktive Mitarbeit in den Vorständen der Sektionen Frauen- und Geschlechterforschung (1999-2004) und Soziologie des Körpers und des Sports (2016-2020) sowie Tätigkeiten in verschiedenen Ausschüssen und Kommissionen, habe ich einen soliden Eindruck von der Breite und Vielfalt der Soziologie in der DGS gewonnen, und auch von ihren Funktionsprinzipien und den Perspektiven und Bedarfen ihrer Untergliederungen und ihrer Mitglieder. Dies betrifft Methoden, Theorien, normative Standpunkte, fach- und forschungspolitische Überzeugungen; es betrifft auch (Status-)Gruppen und ihre spezifischen professionellen Erfahrungen und Erwartungen an unsere Fachgesellschaft.

Die interne Heterogenität ist in den letzten Jahren größer und wahrnehmbarer geworden, und damit stellen sich zahlreiche Fragen zur Fachidentität und zu den Aufgaben und Zielen der DGS neu. Ich denke, dass die sinnvollste Antwort hierauf darin besteht, diese Fragen in eine organisationsweite Reflexivität zu überführen, sie also pragmatisch diskutier- und bearbeitbar zu machen, um daraus nachhaltige verbandspolitische Handlungsfähigkeit zu generieren. Ich bin davon überzeugt, dass die interne Pluralität des Faches ein wichtiges Pfund ist. Dies allerdings nur, wenn es gelingt, in und durch diese methodologischen und theoretisch-konzeptuellen sowie normativen Differenzen das Fachgespräch und auch die sachliche Auseinandersetzung zu pflegen. Soziologische Forschung wird zuverlässiger, soziologische Expertise reflexiver und die Übersetzungsfähigkeiten von Soziolog_innen zwischen verschiedenen Kontexten werden besser, wenn sich das soziologische Wissen auch in der innerfachlichen Kontroverse bewährt. Dafür braucht es einerseits Formate, die die Kontroverse als Teil der professionellen und verbandlichen Routine ermöglichen, andererseits braucht es aber auch mehr Sichtbarkeit für die vielfach bereits stattfindenden Debatten innerhalb des Verbandes. Für beides möchte ich mich als Vorsitzende, gemeinsam mit dem Vorstand, einsetzen. Weitere Eskalation und Distinktionsmarkierung zwischen den verschiedenen ›Lagern‹ braucht es indes nicht.

In diesem Sinne würde ich bei zukünftigen DGS-Kongressen Vieles behalten und stärken wollen, insbesondere die Kombination aus Sektions-Veranstaltungen und vorstandsseitig organisierten Formen. Als neues Element würde ich ein ›Soziologie Kontrovers‹-Element anregen, das, ähnlich wie die Author-meets-Critics-Veranstaltungen, die kollegiale Debatte fokussiert. Auch möchte ich anregen, dass die Zeitschrift ›Soziologie‹ weiterhin, aber stärker als bislang fach- und verbandsinterne Debatten abbildet.

Die Sichtbarkeit der nicht-professoralen Mitglieder der DGS, ihr Mitwirken in den Gremien und Entscheidungsprozessen, sollte steigen, davon bin ich überzeugt. Ich habe in den vergangenen Jahren vorstandsseitig zwei einschlägige Ausschüsse geleitet und dank des Engagements der Kolleg_innen aller Statusgruppen haben wir zahlreiche Veranstaltungen organisiert und interne Diskussions- sowie Reformprozesse (z.B. Reform der Wahlordnung, Mitgliederversammlungen des Mittelbaus) angestoßen. Mit, wie ich meine, großem Erfolg. Doch sind dies auch streitbare Dynamiken, denn die DGS ist keine korporatistische Organisation – sie sollte es als Fachverband meines Erachtens auch nicht sein. So gilt es auch weiterhin Wege zu finden, verbandsintern mit Statusdifferenzen produktiv umzugehen. Wir verfügen gerade als Fach über eine enorme Expertise zu genau diesen Fragen. Das gilt es für die DGS zu nutzen, aber auch nach außen zu tragen. Hier sind bereits gegebene Vernetzungen mit anderen Verbänden und Netzwerken, auch des disziplinenübergreifenden Mittelbaus zu intensivieren; hier ist auch im Sinne des Mittelbaus forschungs- und hochschulpolitisch zu agieren.

Die DGS ist außerdem ein wichtiger Akteur im Kanon der Wissenschafts- und Forschungspolitik. Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen im Feld findet schon lange erfolgreich statt; sie sollte weiter gepflegt und intensiviert werden. So ist die kritische Intervention der DGS in aktuellen politischen Bemühungen um eine Stärkung von Wissenschaftskommunikation als Element von Forschungsförderung wichtig, um naive, gar populistische Varianten von ›public science‹ zugunsten sinnvoller Übersetzungsformate im Dienste einer ›public sociology‹ zu verhindern. Hierfür möchte ich mich (weiterhin) einsetzen.

Stärken möchte ich zudem die Vernetzung zwischen den bislang schon kooperierenden Fachverbänden. Eine im Sommer 2020 von mir mit entsprechenden Verbänden aus den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften initiierte Konsultation zur Situation des wissenschaftlichen Personals (unter Corona-Pandemie-Bedingungen) sollte verstetigt werden. Auch international ist die Vernetzung und Kooperation mit weiteren soziologischen Fachgesellschaften sowie den transnationalen Vereinigungen – ESA, ISA – weiterhin ein Kernelement der verbandspolitischen Arbeit der DGS. Auch zukünftig sollte die DGS diese Kooperationen vertiefen und aktualisieren, sie sollte dabei die transnationale Verflechtung inhaltlich nutzen, um die deutschsprachige Soziologie weiterhin und noch stärker mit internationalen Forschungskonstellationen ins Gespräch zu bringen.

Vor allem hierfür wird die bereits auf den Weg gebrachte neue Zeitschrift der DGS stehen, das German Sociological Journal. Ich habe mich in der letzten Amtszeit maßgeblich in diesem von mir wieder aufgenommenen und voran getriebenen Projekt einer englischsprachigen Open Access-Fachzeitschrift engagiert, die vom DGS-Vorstand ko-herausgegeben werden soll. Diesem steht ein Fachbeirat zur Seite, der neben einigen internationalen und außeruniversitären Kolleg_innen alle Sektionen mit je einer_m Vertreter_in umfasst. Ich bin zuversichtlich, dass diese Zeitschrift sich durch das breite Engagement unserer scientific community etablieren und erfolgreich sein wird.

Schließlich möchte ich auch weiterhin die Sichtbarkeit der Soziologie als evidenzbasierte, forschungsstarke, methodenplurale und reflexive Sozialwissenschaft stärken. Ich nehme als in der Öffentlichkeitsarbeit engagiertes Vorstandsmitglied deutlich wahr, wie sehr soziologische Expertise nachgefragt und verstanden wird. Das ist ein Riesenerfolg und sollte so weitergehen.
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