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Identität und Interdisziplinarität
Jenni Brichzin
Die Demokratie der Soziologie
Die Soziologie hat ein Demokratieproblem: Zunehmend autoritäre Tendenzen machen die gesellschaftliche Bedeutung demokratischer Ordnung deutlich, doch der Disziplin fehlen die theoretischen Mittel, um diese Bedeutung adäquat zu erfassen. Die gesellschaftstheoretische Sprachlosigkeit der Soziologie gegenüber der Demokratie führt auch, so die zentrale These dieses Essays, zu einer problematischen Sozialvergessenheit der Demokratietheorie – einer fehlenden Fundierung gängiger Demokratieverständnisse in sozialen und gesellschaftlichen Prozessen. In Anschluss an Dewey, Popper, Arendt und andere wird vorgeschlagen, Demokratie nicht primär entlang der normativen Idee der Selbstregierung oder als Set tradierter politischer Institutionen (von Wahlsystemen über Parlamente bis zum Rechtsstaat) zu verstehen – sondern als spezifische Gesellschaftsformation: als Formation, die ihre eigene Offenheit für sozialen Wandel auf Dauer stellt, indem sie gegen gesellschaftliche Prozesse der Verfestigung, Verkrustung und Essentialisierung anarbeitet. Diese Interpretation wird durch einen Blick in die Geschichte der Demokratisierung gestützt, die sich als Geschichte der Institutionalisierung von Mechanismen zur Prävention sozialer Schließung begreifen lässt. Gesellschaftstheoretisch kann man so von Demokratie als Emergenzphänomen sprechen: als Resultat des Zusammenspiels derartiger Präventionsmechanismen (bzw. ihrer funktionalen Äquivalente) in verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungsdimensionen.
Sociology has a problem with democracy: increasingly authoritarian tendencies highlight the social significance of democratic order, but the discipline lacks the theoretical tools to adequately grasp this significance. The central thesis of this essay is that sociology’s lack of social theory language with regard to democracy also leads to a problematic social obliviousness in democratic theory - a lack of foundation for common understandings of democracy in social and societal processes. Following Dewey, Popper, Arendt, and others, it is proposed that democracy should not be understood primarily along the normative idea of self-government or as a set of traditional political institutions (from electoral systems to parliaments to the rule of law), but rather as a specific social formation: as a formation that permanently establishes its own openness to social change by working against social processes of consolidation, ossification, and essentialization. This interpretation is supported by a look at the history of democratization, which can be understood as the history of the institutionalization of mechanisms for preventing social closure. In terms of social theory, democracy can thus be described as an emergent phenomenon: the result of the interaction of such preventive mechanisms (or their functional equivalents) in various dimensions of social order.
Forschen, Lehren, Lernen
Ulrich Bröckling
Lehren, was man nicht weiß
Ausgehend von der Figur des ›unwissenden Lehrmeisters‹ formulierte der französische Pädagoge Joseph Jacotot in der Restaurationsphase vor der Juli-Revolution von 1830 ein radikales Programm intellektueller Emanzipation, das allen Didaktiken des Erklärens die Praxis egalitärer Selbstbildung entgegensetzte. Der Vortrag – die Abschiedsvorlesung des Verfassers – ruft diese Sozialfigur in Erinnerung, um aktuelle Fragen akademischer Lehre zu diskutieren. Unter Bedingungen der sich selbst destruierenden Zuspätmoderne, in der Katastrophenszenarien und Untergangsimaginationen diskursive wie affektive Macht gewinnen, plädiert er für ein Verständnis soziologischer Aufklärung, das kollektive Suchbewegungen initiiert und sich nicht gegen aufkommende Resignation, Trauer oder Wut abdichtet.
Based on the figure of the ›ignorant teacher‹, the French pedagogue Joseph Jacotot formulated a radical programme of intellectual emancipation in the restoration phase before the July Revolution of 1830, which countered all didactics of explanation with the practice of egalitarian self-education. The lecture – the author’s farewell lecture – recalls this social figure in order to discuss current questions of academic teaching. Under conditions of self-destructive late modernity, in which catastrophe scenarios and imaginations of doom gain discursive and affective power, he pleads for an understanding of sociological enlightenment that initiates collective search movements and does not seal itself off against emerging resignation, grief or anger.
Hier der Text zum Download.
David Stark
›Wir brauchen neue Stimmen, exzellente Stimmen‹
Der Text behandelt die Erstellung und Überarbeitung von wissenschaftlichen Arbeiten und betont, sich nur auf Informationen zu konzentrieren, die für das Verständnis des Arguments notwendig sind. Zugleich ist die Komprimierung von Ideen wichtig, um zentrale Konzepte prägnant auszudrücken. Konzepte sind klar zu benennen, um sie verständlich zu machen. Auch der Prozess der Titelerstellung und die Suche nach geeigneten Metaphern sind wichtig. Schließlich wird die Erfahrung des Autors mit dem Überarbeitungsprozess und den Reaktionen auf Gutachten thematisiert.
The text deals with the creation and revision of scientific papers and emphasizes focusing only on information that is necessary for understanding the argument. At the same time, it is important to summarize ideas in order to express key concepts concisely. Concepts must be clearly named to make them understandable. The process of title creation and the search for suitable metaphors are also important. Finally, the author’s experience with the revision process and the reactions to reviews are thematized.
Ilona Pap, Antonia Velicu
Akademische Zufriedenheit: Wer bleibt, wer geht?
Der Beitrag diskutiert, wie Arbeitsbedingungen mit der Arbeitszufriedenheit von Wissenschaftler:innen an Hochschulen zusammenhängen und ob sich geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen. Für Wissenschaftler:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt die Auswertung der Daten des ›Zurich Survey of Academics‹ (2020, N = 13.459), dass der zunächst messbare Unterschied in der Arbeitszufriedenheit zwischen Männern und Frauen verschwindet, sobald Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden. Arbeitszufriedenheit hängt eng mit Autonomie, Sinnhaftigkeit der Arbeit und einem kollegialen Umfeld zusammen, während hohe Arbeitsbelastung, niedrige Löhne sowie starker Publikations- und Drittmitteldruck negative Effekte haben. Zwischen den Geschlechtern zeigen sich Unterschiede: Entwicklungsmöglichkeiten steigern besonders bei Männern die Zufriedenheit, während Frauen unter Wettbewerbsdruck stärker leiden als Männer. Die Befunde verweisen auf strukturelle Ansatzpunkte zur Förderung von Zufriedenheit und Verbleib in der Wissenschaft.
This article discusses how working conditions are related to the job satisfaction of academics and whether gender differences emerge. For academics in Germany, Austria, and Switzerland, the analysis of data from the ›Zurich Survey of Academics‹ (2020, N = 13,459) shows that the initially measurable difference in job satisfaction between men and women disappears once working conditions are taken into account. Job satisfaction is closely linked to autonomy, meaningful work, and a collegial environment, while high workloads, low pay, and strong publication and funding pressures have negative effects. Differences emerge in that men report higher satisfaction when they have better opportunities for advancement, while women report lower job satisfaction when experiencing competitive pressure, unlike men. The findings point to structural levers for fostering satisfaction and retention in academia.
DGS-Nachrichten
- Zukünfte der Gesellschaft.Themenpapier zum 43. Kongress der DGS 2026 in Mainz
- Widerspruch der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) gegen den Ausschluss der Israelischen Soziologischen Gesellschaft (ISS) aus der International Sociological Association (ISA)
- Aus der Vorstandsarbeit
- Veränderungen in der Mitgliedschaft
Berichte aus den Sektionen
- Sektion Kultursoziologie
- Sektion Wissenssoziologie
- Arbeitskreis Diskursanalyse
Nachrichten aus der Soziologie
- ›In bester Gesellschaft. Warum (nicht) Soziologie studieren‹. Podcast mit Nick Schmitt, Tom Horne und Stefan Kühl von der Universität Bielefeld
- Peter A. Berger Sektionspreis
- Forschungspreis Ethnographie
- Habilitationen
- Calls
- Vertrauen in der Polykrise
- Thematischer NEPS-Call for Modules 2024
- Tagungen
- Social Waters – im sozialwissenschaftlichen Dialog
- Gemeinsam forschen – Impulse aus Citizen Science, partizi-pativer und transdisziplinärer Forschung
- Generative AI & The Faces of Power
Jahresinhaltsverzeichnis