Wahl Vorsitz

Wahl Vorsitz

Vorstellung der Kandidatin und des Kandidaten zur Wahl der/des Vorsitzenden

Prof. Dr. Jörg StrübingProf. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky
zum vollständigen Wahlprofilzum vollständigen Wahlprofil

Wahlprogramm

Zur weiteren Professionalisierung der Soziologie

Wohin wollen wir mit der DGS? Das ist die Frage, die jeder Kandidatur für den Vorsitz unserer Fach­gesellschaft vorausliegen muss. Für mich ist die DGS der bedeutendste Verband für die akademische Soziologie in Deutschland, nicht allein, weil sie mit ihren rund 3500 Mitgliedern der größte Zusam­men­schluss soziologischer Kolleg:innen in Deutschland ist, sondern vor allem, weil sie als einzige hiesige Fach­gesellschaft die ganze theoretische, methodische und gegenstandsbezogene Breite unseres Faches zu organisieren vermag. Eben dies muss ein Kernanliegen der DGS auch in der Zukunft sein.

Dieses Alleinstellungsmerkmal ist kein Selbstläufer, sondern bedarf immer wieder gemeinsamer An­strengungen der Mitglieder und Gremien. Und es bedarf engagierter Debatten (nicht nur) innerhalb unserer Dis­zi­plin. Denn mit unserem Gegenstand Gesellschaft verändern sich auch die Bedingungen unter denen wir Soziologie als eine empirisch forschende Wissenschaft des Sozialen betreiben können. In jüngster Zeit konnten wir vor allem eine verstärkte Professionalisierung und Internationalisierung vieler Bereiche der Wissenschaften, Veränderungen im Publikationswesen, aber auch der Beschäfti­gungs­­optionen und Karrieremuster jüngerer Kolleg:innen beobachten.

Soziologie wird gerne als ›Krisenwissenschaft‹ bezeichnet. Wenn damit nicht eine Wissenschaft in der Krise gemeint ist (wie es das Feuilleton gelegentlich behauptet), sondern eine Wissenschaft, deren analytische Kompetenz in gesellschaftlichen Krisen unverzichtbar ist, dann ist jetzt eine Hochzeit unseres Faches. Auch wenn Anfragen an die gesellschaftsdiagnostische Kompetenz der Soziologie zunehmen, müssen wir konstatieren, dass Medien und Politik genuin soziologische Fragen oft eher an Vertreter:innen der Politik- oder Wirtschaftswissenschaften stellen als an unser Fach. Das ist be­dauer­lich, weil sich viele dieser Krisenphänomene ohne die gesellschaftswissenschaftliche und sozial­theo­re­ti­sche Grundlagenarbeit und die systematische Empirie der Soziologie nur schwer angemessen verstehen lassen. Das hat ernstzunehmende Konsequenzen und betrifft weit mehr als nur unsere wissenschaftliche Eitelkeit:

Wir können in den letzten Jahren beobachten, wie die Zahl der Studierenden, die sich für die Soziologie entscheiden, stagniert oder gar sinkt. Dafür sind viele Gründe verantwortlich, die auch andere Fächer betreffen, und nicht alle sind von der DGS aktiv zu beeinflussen. Mit Blick auf die Studien­wahl fällt allerdings auf, dass Jugendliche in der Schule – als einem zentralen Ort für Studienwahlentscheidungen - mit Soziologie als Fach kaum in Berührung kommen und Lehramts­stu­die­rende für sozialkundliche Fächer in fast keinem Bundesland soziologische Grundlagen studieren. Wenn wir den Nachwuchs in unserem Fach sicherstellen wollen, müssen wir auch aus diesem Grund als DGS dafür Sorge tragen, dass Soziologie in allen Bundesländern Teil der sozial­kund­lichen Fachinhalte und Lehramts­aus­bil­dun­gen wird. In diesem Feld habe ich mich in der aktuellen Wahlperiode gemeinsam mit dem Ausschuss ›Soziologie in Schule und Lehre‹ bereits engagiert, möchte dies aber als Vorsitzender noch weiter forcieren.

Ein weiteres Problem bleibt die prekäre Beschäftigungssituation im sog. Mittelbau. Vermehrt kehren aus­sichts­reiche junge Wissenschaftler:innen der akademischen Soziologie den Rücken. Sie tun dies nicht aus Mangel an Begeisterung für unser Fach, sondern wegen praxisferner Befristungsregeln, dem Mangel an universitären Dauerstellen und gleichzeitig steigendem Arbeitsdruck. Zusammen mit gestiegenen Ansprüchen an die Anerkennung erbrachter Leistungen und auch an die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben lässt dies Viele nach Alternativen außerhalb der Hochschulen suchen – zum Schaden auch für unser Fach. Ziel der Vorstandsarbeit im Themenfeld Soziologie als Beruf muss es hier sein, im Verbund mit anderen Fächern nicht nur auf Änderungen bei den Befristungsregeln zu hinzuwirken, sondern auch alternative dauerhafte Karrierepfade neben der Professur, aber innerhalb der Wissenschaft zu entwickeln und politisch zu etablieren.

Als zentrales Forum unseres Faches ist der Soziologiekongress seit langer Zeit etabliert. Er hat an Reiz und Bedeutung für die deutsche Soziologie – wie 2022 in Bielefeld zu besichtigen war – auch über die Zeit der Pandemie nicht eingebüßt. Daran sollten wir anknüpfen: Bei allem Zugewinn an Online-Optionen erscheint mir für die Debatte wissenschaftlicher Positionen und Forschungsergebnisse, aber auch für die unverzichtbare Vernetzung unter Kolleg:innen regelmäßiger Austausch in Präsenz unverzichtbar – und der Kongress ist der zentrale Ort dafür. Daneben sollten wir aber auch andere, elektronische Formate für die verschiedenen Aktivitäten der DGS nutzen.

Die Zeiten werden rauer. Die finanziellen Corona-Auswirkungen, vor allem aber der unerklärte Krieg Russlands gegen die Ukraine mit seinen auch wirtschaftlich dramatischen Folgen werden die Wissenschaft nicht verschonen. Aktuell bereiten Ministerien und Universitäten die ersten Bündel an Sparmaßnahmen vor. Die DGS verstehe ich in diesem Zusammenhang als organisiertes Sprachrohr gegen die Kannibalisierung unserer Institute und Studiengänge zugunsten marktgängigerer Angebote und Versprechungen. Hier kommt es, wenn wir Wirkung entfalten wollen, neben der nachdrücklichen Profilierung unseres eigenen Faches einmal mehr auf gute Koordination und Abstimmung mit anderen Fächern insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften an, wenn vermeidbare Kürzungen auch mit strategischen Allianzen abgewendet und unvermeidliche fair zwischen den Fächern verhandelt werden sollen. In der Regel passiert das an den Universitäten oder auf Länderebene, aber als Fachgesellschaft sollten wir Argumentationshilfen liefern, den Kolleg:innen strategisch beratend zur Seite stehen und Öffentlichkeit mobilisieren.

Um den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bewerbe ich mich vor dem Hintergrund eines langjährigen Engagements für unser Fach und die DGS. Anfang der 2000er Jahre habe ich in der Kom­mission zur Neuausrichtung der Methodenausbildung in den Soziologiestudiengängen mitge­arbeitet, war danach mehrere Jahre Vorstandsmitglied in der Sektion Methoden der qualitativen Sozial­for­schung und von 2008 bis 2012 ihr Sprecher. Über die kritische Auseinandersetzung mit der Forderung nach Archivierung von Forschungsdaten für Sekundäranalysen bin ich seit 2014 als gewähltes Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten für die DGS aktiv. Nachdem ich über mehrere Jahre intensiv an der Debatte zur Zukunft der deutschen Soziologie mitgewirkt habe, wurde ich 2019 ins Konzil und 2021 in den Vorstand der DGS gewählt und bin dort seitdem für den Bereich Lehre zuständig.

Meine Kandidatur verstehe ich als Angebot an alle, die den Weg in eine zunehmend professionalisierte Soziologie mitgehen wollen. Es geht mir also darum, bei aller Vielfalt der Spezialisierungen, Methoden und Theorieperspektiven die DGS als einen integrativen Kommunikationsraum nach innen und eine starke Interessenvertretung der Soziologie nach außen weiterzuentwickeln und dabei den Kern unseres Faches zu stärken. Dabei ist mir an Dialog im Fach (über alle vermeintlichen Gräben hinweg), aber auch an Kooperationen mit benachbarten Fachgesellschaften gelegen, denn viele aktuelle Probleme lassen sich – so viel hat mich die Arbeit im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten gelehrt – nur im kollegialen Verbund lösen.

Wahlprogramm

Ich bewerbe mich erneut um den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – nach inzwischen neun Jahren Mitarbeit im Vorstand, und zwei Jahren als Vorsitzender, sowie zuvor vier Jahren als Mitglied des Konzils (2009-2013). Auch durch meine Mitarbeit in den Vorständen der Sektionen Frauen- und Geschlechterforschung (1999-2004) und Soziologie des Körpers und des Sports (2016-2020) sowie Tätigkeiten in verschiedenen Ausschüssen und Kommissionen, habe ich einen soliden Eindruck von der Breite und Vielfalt der soziologischen Ansätze und Perspektiven in der DGS gewonnen, sowie von ihren Funktionsprinzipien und den Bedarfen ihrer Untergliederungen und ihrer Mitglieder. Dies betrifft Methoden, Theorien, normative Standpunkte, fach- und forschungspolitische Überzeugungen; es betrifft auch (Status-)Gruppen und ihre spezifischen professionellen Erfahrungen und Erwartungen an unsere Fachgesellschaft. Ich bin diesem Pluralismus verpflichtet und verstehe die Arbeit des Vorstandes sowie der Vorsitzenden als produktive Moderation dieser Vielfalt – balancierend zwischen zahlreichen Risiken, etwa Nischenabschottung, Einheitszwang, Bequemlichkeit der Beliebigkeit, Korporationsorganisation und Überpolitisierung.

Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Balance gelingen kann und ich bin stolz, mit dem Vorstand der DGS dazu beigetragen zu haben: Der DGS Kongress 2022 in Bielefeld zeugte von der Stärke professioneller Sachkontroversen sowie der Möglichkeit, innerhalb der DGS spezifische Forschung mit dem breiten Fachgespräch zu verbinden. So soll es inhaltlich gern weiter gehen. Und dafür möchte ich mich weiterhin einsetzen. Hinsichtlich der Form würde ich als Vorsitzende eine Diskussion darüber anstoßen wollen, wie wir mit dem Problem umgehen können, dass es immer mühsamer wird, einen ausrichtenden Ort für den zweijährlichen analogen Kongress zu finden. Womöglich tragen strukturelle Dynamiken der Arbeitsverdichtung, Prekarisierung, steigende Drittmittelorientierung und die Unterfinanzierung der Hochschulen ihren Teil dazu bei, dass Institute immer weniger dazu in der Lage sind, einen großen und aufwändigen analogen Kongress ehrenamtlich zu stemmen (so gern sie das auch würden), selbst im Lichte eines DGS-seitig professionellen Organisations-Services. Ich meine, dass wir über die Vor- und Nachteile digitaler Kongresse realistisch beraten sollten, so sehr auch die analoge Kongress-Interaktion unersetzbar bleibt.

Auch die deutliche Wahrnehmbarkeit soziologischer Expertise und Analyse in der Öffentlichkeit zeugt von der Stärke einer pluralen, empirisch forschungsstarken und theoretisch fundierten Soziologie, die sich in der DGS versammelt: Denn die Fähigkeit, komplexe (bio-)soziale Wirklichkeiten – wie etwa eine Pandemie – auch angemessen komplex zu erforschen und diese Komplexität nicht durch, z.B. politisch gefällige Vereindeutigungen zu tilgen, hat zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung beigetragen. Vielleicht nicht in hinreichendem Maße, aber doch, ist die Soziologie aktiv in Gremien, Kommissionen und weiteren Beratungsformaten zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme.

Plural, kontrovers und produktiv war auch die ausgiebige Diskussion zur Reform der Wahlordnung der DGS, die 2021 von der Mitgliedschaft mit großer Mehrheit entschieden wurde. Die Sichtbarkeit der nicht-professoralen Mitglieder der DGS, ihr Mitwirken in den Gremien und Entscheidungsprozessen wird dank der Reform der Wahlordnung steigen. Doch sind dies auch riskante Dynamiken, denn die DGS ist keine korporatistische Organisation – sie sollte es als Fachverband meines Erachtens auch nicht sein. So gilt es auch weiterhin Wege zu finden, verbandsintern mit Status- und Interessensdifferenzen produktiv umzugehen. Wir verfügen als Fach über eine enorme Expertise zu genau diesen Fragen. Das gilt es für die DGS zu nutzen, vor allem aber auch nach außen zu tragen.

Ich habe als Vorsitzende die DGS in der vergangenen Legislatur noch enger mit weiteren wissenschaftlichen Verbänden und Netzwerken vernetzt, um forschungspolitisch sinnvoll zu agieren. Dies erschöpft sich nicht in – wichtigen! – Stellungnahmen, sondern beinhaltet auch laufende Gespräche und Konsultationen mit den Akteuren der Forschungs- und Wissenschaftspolitik, etwa konkret zur Reform / Abschaffung des WissZeitVG. Die Kooperation mit weiteren Verbänden möchte ich weiterhin pflegen und stärken. In dieser Hinsicht war mir auch wichtig, die Beziehung zur ›Akademie für Soziologie‹ pragmatisch zu normalisieren, das ist in der letzten Legislatur gut gelungen. Die inter- und transnationale Zusammenarbeit mit weiteren soziologischen Fachgesellschaften und Vereinigungen – ESA, ISA – sollte auch zukünftig ein wichtiges Element der verbandspolitischen Arbeit der DGS sein.  

Das Open Access englischsprachige Zeitschriftenprojekt – GSJ – ist leider zunächst auf Eis gelegt, da wir die Finanzierung nicht ohne Drittmittel stemmen können. Mit dem Konzil und den Sektionen wurden das pro/con der Zeitschrift sowie weitere Optionen wiederum kontrovers und nuanciert diskutiert, das war hoch produktiv. Als Vorsitzende würde ich in der nächsten Legislatur gern die Variante einer Erweiterung der bisherigen Verbandszeitschrift SOZIOLOGIE voranbringen, so dass diese langfristig Teil einer digitalen DGS-Plattform würde, die auch einen OA peer review Anteil hätte.

Schließlich möchte ich auch weiterhin die Sichtbarkeit der Soziologie als evidenzbasierte, forschungsstarke, methodenplurale und (selbst-)reflexive Disziplin stärken.