Das ›traute Heim‹ ist Ort der Aushandlung von Geschlechter- und anderen Machtverhältnissen. Das ›Zimmer für sich allein‹ (Virginia Woolf) ist Sinnbild für Privatsphäre und Freiraum, das gleichwohl nicht allen gleichermaßen offensteht und inhärent vergeschlechtlicht ist: Der Wohnraum gilt als Sphäre des Weiblichen, als Ort der unbezahlten Care-Arbeit. An der Frage der Verteilung häuslicher Reproduktionsarbeit sowie am Problem ›häuslicher‹ Gewalt offenbaren sich zentrale Aspekte vergeschlechtlichter Machtverhältnisse. Das Wohnen stand in den letzten Jahren jedoch nur noch selten im Fokus der Geschlechterforschung. Die Frage, wer wie wo und mit wem wohnt, wer sich wo ›zuhause‹ fühlen kann, ist nach wie vor virulent. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre wollen wir daher die Frage nach dem Verhältnis von Wohn- und Geschlechterverhältnissen aus intersektionaler Perspektive neu aufwerfen.
Energiekrise, Mietendeckel, steigende Immobilienpreise, das eigene Zuhause als Lockdown-Gefängnis, Gentrifizierung und Landflucht – das Thema Wohnen ist gegenwärtig zum zentralen Debattenthema geworden. In der Corona-Pandemie wurden wir daran erinnert, wie sehr die Wohnsituation zur Frage der sozialen Chancengleichheit gehört. Die Wechselbeziehung von räumlichen Wohnstrukturen und Reproduktionsarbeit erlebt durch die Zunahme von Homeoffice-Beschäftigten sowie durch technologische Entwicklungen hin zu Smart(er) Homes eine Modifikation. Auch die größtenteils in Privaträumen stattfindende Versorgung von Kranken und Alten (teils durch Migrantinnen, die ihr Zuhause selten sehen) sowie die Wohnautonomie im Alter stellt sich in alternden Gesellschaften mit neuer Schärfe. Die Auswirkungen einer marktliberalen Wohnungspolitik werden angesichts der Infrastruktur(unter)versorgung, dem ›Aussterben‹ ländlicher Regionen und dem sozialen Wandel in Stadtteilen und der Segregation ganzer Städte zunehmend kritisch verhandelt. Im Zuge der Energiekrise und explodierender Mietpreise bei nur zögerlich steigenden Löhnen zeigen sich nicht nur die sozio-ökonomisch benachteiligten, sondern auch die als relativ gesichert geltenden Milieus beunruhigt: Wer kann die eigene Wohnung heizen, wer verbraucht wieviel warmes Wasser in der Badewanne und wie wird gelüftet? Und wer kann sich den Immobilienbesitz überhaupt noch leisten? An der Frage des Wohnens und des Immobilienbesitzes werden Fragen der Klassenzugehörigkeit und Distinktion verhandelt. Dabei haben seit jeher nicht alle ein ›Zuhause‹ – Obdachlosigkeit und Zwangsmigration sind nicht erst seit der Inflation und dem Ukrainekrieg (geschlechter-)soziologisch relevante Themen, ebenso wie die Situation von Frauen und queeren Menschen in entsprechenden Not- und Sammelunterkünften.
All dem soll auf der diesjährigen Jahrestagung der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der DGS mit einem intersektionalen Fokus auf Geschlecht nachgegangen werden. Wir laden zu Einreichungen zu theoretischen, methodischen und empirischen Aspekten folgender Fragen ein:
- Wie lassen sich Wohn- und Geschlechterverhältnisse theoretisch konzeptualisieren? Welche Bedeutung kommt der Frage des Wohnens in der Geschlechterforschung und Politik zu und vor welchen alten und neuen Herausforderungen steht sie?
- Wie verschiebt sich das vergeschlechtlichte Verhältnis von öffentlich und privat z.B. durch die pandemiebedingte Home-Office-Arbeit, durch das Leben auf der Straße, in Flüchtlingsunterkünften oder auch in kollektiven Wohnformen, im betreuten Wohnen, in Frauennotunterkünften, im Altenheim oder auch im Smart Home und welche Folgen hat dies für die Geschlechterverhältnisse?
- Wie lässt sich das Verhältnis von Geschlecht und Wohnen empirisch erforschen und welche forschungsethischen Fragen wirft die Auseinandersetzung mit dem ›privaten‹ und ›intimen‹ Bereich des Lebens auf?
- Welche Vorstellungen legitimer geschlechtlicher Ordnung drücken sich in den gegenwärtigen Debatten um das Wohnen aus – in ihrer Intersektion mit anderen dualistischen Ordnungsvorstellungen wie Alter/Jugend, arm/reich, erwerbstätig/erwerbslos, deutsch/migrantisch, inländisch/ausländisch, Singles/Alleinerziehenden/Paaren/Familien, städtisch/ländlich?
- Inwiefern produziert die vergeschlechtlichte Norm der heterosexuellen Kleinfamilie im Einfamilienhaus intersektionale Ein- und Ausschlüssen (z.B. im Zugang zu Wohnraum, im Design von Sozialwohnungen, in der Organisation von Care-Arbeit)? Welche alternativen Wohnformen etablieren sich?
- Welche Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen machen unterschiedlich marginalisierte soziale Gruppen (wie queere, non-binäre, transgeschlechtliche Menschen oder people of colour, Menschen mit Behinderung, ältere Menschen) auf dem Wohnungsmarkt und welche Umgangsweisen entwickeln sie damit?
- Welche Formen des Zusammenlebens im Quartier sind vor diesem Hintergrund möglich? Wie gestaltet sich die soziale Teilhabe von Frauen und marginalisierten sozialen Gruppen im Quartier oder in der Stadt, auch räumlich?
- Welche Bedeutung kommt Geschlecht in der Wohnungspolitik und Wohnungsbauplanung z.B. von Städten, Kommunen, aber auch in Wohnungsbauunternehmen und der Wohnungswirtschaft zu? Und andersherum stellt sich auch die Frage: Inwiefern sollte Geschlechtergleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik die Frage des Wohnens berücksichtigen?
Auch Einreichungen zu weiteren Fragestellungen zum Zusammenhang von Wohnen und Geschlecht werden begrüßt.
Die Jahrestagung wird in Osnabrück an der Universität stattfinden. Einige Teile der Tagung werden hybrid, andere ausschließlich in Präsenz stattfinden. Wir gehen daher davon aus, dass die Vortragenden sich auf eine Präsenztagung einstellen. Sollte das nicht möglich sein, bitte bei der Einreichung des Abstracts vermerken.
Wir freuen uns über Beitragsvorschläge für Einzelvorträge, Diskussionsveranstaltungen, Workshops oder alternative erkenntnisvermittelnde Formate aus allen Statusgruppen, von Professor*innen ebenso wie von Postdocs und Doktorand*innen sowie von Akteur*innen aus der Praxis, oder die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis sowie den Künsten arbeiten. Bei Interesse schicken Sie bitte:
- ein Abstract (max. 1-2 Seiten) mit biographischen Kurzangaben und Kontaktdaten
- bis zum 30.04.2023 per Email an die Sektion Frauen- und Geschlechterforschung