Kurzportrait
Willkommen auf der Webseite der Sektion Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie!
Die Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie ist eine der ältesten Teildisziplinen der Soziologie. Sie thematisiert die Sicherung der Ernährungsgrundlagen von Staaten und einer kontinuierlich wachsenden, urbanisierten Weltbevölkerung (food security) sowie die Entwicklung ländlicher Regionen. Hintergrund ihrer Entstehung war zunächst die Notwendigkeit der Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft und der Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Praxis landwirtschaftlicher Unternehmen. Sie ist in ihrer Entstehung somit selbst Teil dieses Modernisierungsprozesses, sieht sich aber zugleich mit deren sozialen Folgen konfrontiert.
Von herausragender Bedeutung sind dabei die ›Agrarfrage‹ nach der Überlebens- und Anpassungsfähigkeit des bäuerlichen Familienbetriebs und konkurrierender Modelle der Organisation landwirtschaftlicher Arbeit sowie die Bewältigung der Folgen des landwirtschaftlichen Strukturwandels und die Entwicklung der ländlichen Räume. Aus dieser frühen Phase entwickelten sich einige heute verbreitete sozialwissenschaftliche Wissensbestände wie die Theorie der Diffusion von technologischen Innovationen, die Likert-Skala oder das Konzept einer (partizipativen) integrierten Regionalentwicklung. Im internationalen Kontext ist die Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie mit diesen Themen auch ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklungssoziologie.
Im Zuge des fortschreitenden landwirtschaftlichen Strukturwandels haben sich die gesellschaftlichen Problemlagen verändert und die Themen der Disziplin erweitert. Häufig werden landwirtschaftliche Produktivitätssteigerungen mit negativen Umwelteffekten erkauft. Heute ist die Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie eng mit der Umweltsoziologie verbunden und behandelt insbesondere Fragen der nachhaltigen Landnutzung sowie wissens- und techniksoziologische Fragestellungen (z.B. Gentechnik). In Folge der Klimadebatte wird die Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie zu einer kritischen Begleiterin eines Wandels der Landwirtschaft als Teil einer Bioökonomie, die zusätzlich zur Ernährungssicherung auch wachsende Ansprüche an industrielle Rohstoffe und Energie bedienen soll.
Mit steigendem Wohlstand und Mobilität haben konsumtive Interessen der Landnutzung der Bevölkerung ein immer größeres gesellschaftliches Gewicht erfahren. Menschen leben auf dem Lande oder halten sich als Touristen bzw. Besucher dort zeitweise auf, nicht weil die Erträge hoch sind, sondern weil sie ›Natur‹ erleben, Ruhe suchen oder Aktivitäten nachgehen wollen, für die ihnen der städtische Raum keine ausreichenden Möglichkeiten bietet. In ländlichen Regionen treffen produktive und konsumtive Landnutzungsinteressen häufig konflikthaft in konkurrierende Entwicklungsvorstellungen aufeinander.
Durch krisenhafte Umbrüche in Verbindung mit einem allgemeinen demographischen Wandel erfahren insbesondere ›schrumpfende‹ ländliche Regionen neue Aufmerksamkeit. Dabei wird oft auf die historische ›Landflucht‹ - im Übrigen nie ein neutraler Begriff - Bezug genommen, obwohl sich wohn- und arbeitsbezogene Mobilitätsmuster heute ausgesprochen komplex darstellen und nicht nur in eine Richtung verlaufen. Die ›Schrumpfung‹ ländlicher Räume wird dabei oft als Peripherisierungsprozess verstanden. Es wird die Frage untersucht, ob und wie die in den ländlichen Räumen im Zuge des Ausbaus des Wohlfahrtsstaats West wie Ost in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweiterte, ja teils ›verstädterte‹ Daseinsvorsorge-Infrastrukturen erhalten und umgestaltet werden können.
Auch die Ernährungsfrage stellt sich heute neu. Die Perspektive verschiebt sich zunehmend von der Perspektive der Vermeidung von Unterernährung zu einer Perspektive der Vermeidung von Fehlernährung, die Unter- und Überernährung gleichermaßen beeinflusst. Zugleich sieht sich der Ernährungssektor mit differenzierten, teilweise widersprüchlichen und oft kontrovers verhandelten Ansprüchen der Konsumenten konfrontiert. Darüber hinaus wird vermehrt die Rolle der Verbraucher für die Nachhaltigkeit betont. Agrarentwicklung kann heute nicht mehr ohne eine Perspektive auf sich wandelnde Ernährungsmuster betrachtet werden.
Ein zentrales Thema ist das zukünftige Modell des internationalen Ernährungssystems (Food Regime). Kritische Perspektiven sehen den Kern des Problems in einer sich vertiefenden ökologischen Krise des dominierenden Modells einer industrialisierten Landwirtschaft, das von Agrarkonzernen und großen Agrarunternehmen geprägt wird und auf internationalen Handel ausgerichtet ist. Diesem wird ein durch Kleinbauern geprägtes und zunächst an der regionalen Selbstversorgung ausgerichtetes Agrarmodell gegenübergestellt (food sovereignty).