Inflation ist wieder ein bedeutsames Thema gesellschaftlicher Debatten und politischer Maßnahmen. Während das Thema aufgrund seiner historischen Relevanz in den 1970er und 1980er Jahren zumindest ansatzweise soziologische Aufmerksamkeit auf sich zog, so gibt es kaum neuere Beiträge zum Thema aus soziologischer Sicht. Im Gegensatz zu Themen wie Märkten, Wettbewerb oder Kredit hat das Thema Inflation kaum wirtschaftssoziologische Aufmerksamkeit erhalten. Die aktuelle Lage und die ›Rückkehr der Inflation‹ (Block) bieten daher eine gute Gelegenheit, danach zu fragen, was eine wirtschaftssoziologische Perspektive zum Verständnis des Phänomens Inflation beitragen kann. Können bestehende Wissensbestände zum Thema Preise auch auf das Thema Inflation angewendet werden? Muss/Soll/Kann eine Wirtschaftssoziologie der Inflation etwas anderes sein als eine Marktsoziologie? Wo und wie kann die Wirtschaftssoziologie über ökonomische Ansätze hinausgehen und wo gibt es mögliche Anknüpfungspunkte? Warum wurde das Thema der Inflation, im Gegensatz zu anderen ökonomischen Kernthemen, bislang in der Wirtschaftssoziologie kaum näher untersucht? Bisherige Erklärungsansätze zu den Ursachen von Inflation beziehen sich vor allem auf die Rolle der Staatsausgaben oder die ›Lohn-Preisspirale‹, d.h. auf politische Verteilungskämpfe. Das gegenwärtige Inflationsgeschehen scheint allerdings mit den bestehenden Ansätzen nur unzureichend erklärbar zu
sein. Vielmehr scheinen aktuell die hohen Energiepreise, d.h. exogene Faktoren, eine Rolle zu spielen.Die Interpretation der Ursachen und Folgen der Inflation sind jedenfalls aktuell umstritten, ebenso wie die politischen und auch ökonomischen ›Rezepte‹ zu ihrer Bekämpfung. So zögerte die Europäische Zentralbank (EZB) vor schnellen und starken Zinserhöhungen, während die U.S.-amerikanische Federal Reserve (FED) ihre Geldpolitik rasch an die schnell und stark steigenden Inflationsraten ›anpasste‹. In jedem Fall ergibt sich die Frage nach den ›wahrgenommenen‹ Ursachen der Inflation sowie ihren ökonomischen und politischen Folgen. Soziologisch relevant sind z.B. die Fragen, ob steigende (und sinkende) Preise mit Inflation gleichgesetzt werden können. In diesem Fall wäre zu prüfen, inwieweit bestehende Ansätze zur Soziologie der Preise oder auch marktsoziologische Ansätze auf das Phänomen angewendet werden können. Oder muss/sollte eine Soziologie der Inflation etwas anders leisten als eine Soziologie der Preise oder eine Marktsoziologie?
Das Thema der sozialen Ungleichheit ist ein weiterer Ansatzpunkt für eine wirtschaftssoziologische Perspektive auf Inflation. Hierbei könnte es um die Auswirkungen der Inflation auf unterschiedliche soziale Gruppen gehen, da Inflation die Haushalte unterschiedlich stark betrifft. Auch stellt sich dann sogleich, ähnlich wie bei der Analyse der Ursachen der Inflation, die Frage, wie die Inflation auf Konsumentenseite messbar gemacht werden kann. So enthält ein durchschnittlicher, allgemeiner Warenkorb auch Komponenten, die zwar die allgemeine Teuerung nachverfolgen, aber diese Güter und Dienstleistungen werden unterschiedlich stark von verschiedenen sozialen Gruppen nachgefragt. Zu fragen wäre auch nach den Ursachen sowie den Effekten der objektiv gemessenen und der subjektiv wahrgenommenen Inflation auf soziale Deprivation und Teilhabechancen. Inflation und Ungleichheit sind offensichtlich miteinander verknüpft und ihre Erforschung bietet einen weiteren, guten Ansatzpunkt für wirtschaftssoziologische Untersuchungen.
Aufgrund der gegenwärtigen Lage scheint es eine günstige Gelegenheit zu sein, sich aus einer soziologischen Perspektive mit dem Thema Inflation auseinanderzusetzen und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaftssoziologie am Beispiel dieses bedeutsamen, aktuellen und klassisch ökonomischen Themas zu diskutieren. Dabei könnten folgende exemplarische Fragen behandelt werden:
- Welche bereits vorhandenen (wirtschafts-)soziologischen Begriffe, Konzepte oder Theorienkönnten für das Verständnis von Inflation fruchtbar gemacht werden?
- Was könnten Dimensionen einer genuin soziologischen Betrachtung der Inflation sein?
- Welche methodischen Ansätze könnten herangezogen werden, um Inflation empirisch zuuntersuchen?
- Wie könnte eine historisch-soziologische Betrachtung der gegenwärtigen Entwicklungen dazubeitragen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen unterschiedlichen historischen Inflationsphasen zu identifizieren?
- Welche Ansatzpunkte aus angrenzenden Feldern wie der Politischen Ökonomie, der Sozialen Ungleichheitsforschung oder der Sozialstrukturanalyse könnten fruchtbar gemacht werden?
- Was sind mögliche Gründe für die stiefmütterliche Behandlung des Themas Inflation in der Wirtschaftssoziologie?
- Was sind mögliche Gründe für das Auseinanderklaffen von ›objektiver‹ und „gefühlter
Inflation und wie werden diese Faktoren jeweils deutungs- und handlungsrelevant? Diese und andere Fragen würde wir gerne auf dem nächsten Kongress der Österreichischen Soziologie am 3.-5. Juli in Wien mit vielen Interessierten diskutieren. Wir laden daher zu Beiträgen ein, die sich mit diesen und anderen Fragen zum Thema Inflation befassen. Senden Sie uns Ihre Beitragsvorschläge von nicht mehr als 500 Wörtern, gerne auch Work-in-progress oder die aktuelle
Lage kommentierende Skizzen, bis zum 31.3.2023 bitte an: sebastian.nessel(at)wu.ac.at und jakob.gasser(at)uni-graz.at. Die Rückmeldung erfolgt bis zum 16.4.2023, danach ist die Einreichung über conftool bis zum 30.4.2023 möglich.
Bitte beachten Sie, dass die ÖGS Sektion Wirtschaftssoziologie auch eine zweite Veranstaltung auf dem ÖGS-Kongress zum Thema aktuelle wirtschaftssoziologische Forschung anbieten wird. Mehr dazu finden Sie demnächst auf der Homepage unserer Sektion: https://oegs.ac.at/wirtschaftssoziologie/