Aus den Sektionen

Call for Papers ›Politiken der Kindheit‹

Jahrestagung der DGS-Sektion ›Soziologie der Kindheit‹
vom 11. bis 13. November 2021 in Lüneburg

Kindheit ist politisch. Sie ist sowohl Ordnungselement des Politischen als auch Objekt und Effekt mannigfaltiger Politiken, die sich auf sie beziehen, die sie indirekt gestalten oder die von ihr ausgehen. So schreibt sich die für die westliche Moderne typische Problematisierung differenter Kindheiten als Elemente staatlicher Steuerungsbemühungen auch gegenwärtig fort, zum Beispiel in Fragen des familialen Alltags in der Pandemie, in der Kindheit maßgeblich zunächst als Organisationsproblem für Erwachsene (Home-Schooling, Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit usw.) problematisch wurde, oder in restriktiven Zugängen geflüchteter Kinder zu Institutionen von Bildung und Wohlfahrt.

Aber auch Kinder sind politisch, sei es passiv, wie im Paradox der moralischen Überhöhung ihrer Stimme bei gleichzeitigem Entzug ihrer Wahl- und Mitbestimmungsrechte, oder aktiv, wie in Bildungsstreiks oder sozialen Bewegungen. Zuweilen vertreten Kinder als politische Akteur*innen ihre eigenen Anliegen öffentlich auf nationalen und internationalen Bühnen, wie etwa die Bewegung ›Fridays for Future‹, die explizit an die normativen Erwartungen an ihren Status als Schulkinder anknüpft.

Diese Gegenüberstellung von Ordnungsbemühungen um und an Kindheit mit Formen politischer Aktivität von Kindern kann in Gesellschaften anderer Weltregionen oder auf supranationaler Ebene jedoch auch ganz anders ausfallen. Während in Europa allenfalls das Wahlrecht für Jugendliche diskutiert wird, zeichnen sich Länder des globalen Südens durch eine ganz andere Selbstverständlichkeit des politischen Aktivismus aus. Variation besteht darüber hinaus in der Verknüpfung von Kindheit mit salienten sozialen Problemen, so etwa mit Armut, ethnisierten Konflikten, Befriedung und Entwaffnung von Gesellschaften.

Politiken der Kindheit sind damit nicht allein als Kinderpolitik im engeren Sinne zu verstehen, sondern verknüpfen auch vermeintlich disparate politische Ziele mit dem sozialen Status von Kindheit als gesellschaftlicher Gruppe, in der sich private wie öffentliche Interessen kreuzen. Sie sind in die Aushandlungsprozesse in sozialen Arenen eingebunden und selbst mehrdimensionale Arena gesellschaftlicher Gestaltungsbemühungen, in denen Akteur*innen um die Durchsetzung und Legitimation von Interessen, um Verteilung von Ressourcen und Rechten sowie um Anerkennung von Identitäten ringen, die sich explizit auf Kinder als soziale Gruppe beziehen können, aber keinesfalls müssen.

Die Rede von Politiken der Kindheit umfasst daher dreierlei: Zum einen die Artikulation und Durchführung genuin kindheitspolitischer Zielsetzungen, das heißt die dezidierte Gestaltung der Lebenslagen, politischen Verfassung und Handlungsspielräume von Kindern. Die politische Bezug- und Inanspruchnahme von Kindheit und Kindernzur Begründung von Entscheidungen und Verfahren umfasst darüber hinaus auch solche, deren intendierte wie explizierte Ziele gar nicht die Ausgestaltung von Kindheiten sein müssen, die aber gravierende (Aus-)Wirkungen für Kinder und ihre Lebenswelten zeitigen. Zum zweiten beziehen sich Politiken der Kindheitauch auf nicht-intendierte oder nicht-explizierte Effekte politischer Entscheidungen und Steuerungsbemühungen, d.h. auf eine Vielzahl indirekter Konsequenzen der Ausgestaltungs- und Erfahrungsmöglichkeiten von Kind/Kindheit verschiedenster soziokultureller Felder und Logiken. Und zum dritten schließlich sind damit die Politisierungen und Politiken, die von Kindern selbst ausgehen, gemeint. Diese drei Bedeutungsebenen von Politiken der Kindheit bilden den Ausgangspunkt der Tagung und es ist davon auszugehen, dass diese Politiken der Kindheit im Spannungsfeld generationaler Zugehörigkeiten und den damit verbundenen Verteilungen von Rechten (auf Mitsprache und Entscheidungskompetenzen) und Ressourcen (von Wissen, Status, Mitgliedschaften, Geld) operieren.

1. Probleme und Programme

Ein erster thematischer Schwerpunkt der Tagung soll den normativen Orientierungen und (normalisierenden) Maßnahmen von gegenwärtigen Politiken der Kindheit nachspüren: Was sind die zentralen Gegenstände, Regelungsbereiche und normativen Ziele empirisch erfassbarer Politiken der Kindheit? An welchen Problembeschreibungen oder Verwerfungen von Gesellschaft setzen sie an und welche Gesellschaften – samt der mit ihnen verknüpften normativen Muster guter Kindheiten und generationaler Arrangements – sollen damit stabilisiert oder hervorgebracht werden? Politiken der Kindheit lassen sich dabei differenzieren in Politiken ihrer Definition (von Altersgruppen, ihren Qualitäten und Ansprüchen), Politiken materieller Produktion (von sozialmateriellen Arrangements ›gelungener‹ Kindheit und kindlicher Agency) sowie der Verteilung von Rechten und Ressourcen aber auch von Zumutungen und Zugriffen entlang sozialer Gruppenzugehörigkeiten, die je unterschiedlich in Anspruch genommen oder zum Ziel politischer Programme und konkreter Handlungsanweisungen der Kindheit gemacht werden (können). In welcher Beziehung oder Wechselwirkung stehen dabei Vorstellungen von Kindheit und politischer Ideen? Debatten um die Expansion demokratischer Prinzipien mittels der partizipativen Gestaltung pädagogischer Einrichtungen oder politischer Institutionen wie solche um die (Nicht-)Absenkung des Wahlalters verdeutlichen eine konzeptionelle Beziehung zwischen Kindheit und Politik, die gleichsam praktisch wirksam wird.

Aber auch anlässlich der Kritikpunkte an der UN-Kinderrechtskonvention – deren implizierte Erwartungshaltung der globalen Erfüllung der Rechte von Kindern universell moralisch hochhängt – müssen praktische Leerstellen hinsichtlich Dekolonialisierung, Überhang oder gar Dominanz westlicher Denkmodelle, Reproduktion generationaler Ordnung beziehungsweise adultzentrierter Haltung verortet werden. Kinder gelten nach dem Völkerrecht als Rechtsträger und können ihre Rechte einfordern, sind jedoch hinsichtlich der Erfüllungs- und Rechenschaftspflicht von Eltern, Staat und sorgetragenden Professionen abhängig. Die Verantwortung zur Wahrung der Kinderinteressen wird an Erwachsene übertragen. Auch die UN-Kinderrechte gehören nicht vorzugsweise und anwendungsfreiwillig den Kindern selbst. Das Fehlen von politischen Rechten für Kinder produziert grundlegende Limitationen und Ausschluss von vollwertigen gesellschaftlichen Mitgliedschaften. Politische demokratische Repräsentationsformen für Kinder, wie Kinder- und Jugendparlamente, bleiben hinter ihren Möglichkeiten der Partizipation mit lebensweltlichen Auswirkungen zurück. Durch welche kinderrechtlichen, institutionellen und sozialen Wirkmechanismen kann es gelingen, einen entscheidenden emanzipatorischen Beitrag in den Bereichen Nachhaltigkeit, Bildung, Beteiligung, Kinderschutz und Anerkennung von Kinderrechten in Familien zu leisten? Wie können Aufklärung und Menschenrechtsbildung als kinderrechtliche Ressource rechtssoziologisch wirksam verankert werden?

Historisch betrachtet sind politische Programme der Kindheit als Relationierung von Altersgruppen mit Regulierungsweisen des Sozialen verknüpft, zunächst mit Ordnungsinteressen von Kirche und Staat und später mit komplexen Wohlfahrtsstaatsregimen samt differenzierten Familienpolitiken. Lassen sich gegenwärtige Programme und Maßnahmen, die im oben skizzierten Sinne an Kindheiten ansetzen, noch immer auf dieses vornehmlich staatliche Ordnungskalkül beziehen? Oder ist es einem stärker ökonomischen gewichen? Und wie verändert sich dieses durch den Einfluss inter-/supranationaler Akteur*innen? Welche Konsequenzen hat dies für Gesellschaften, in denen staatliche Institutionen stärker mit Gruppen- und Familieninteressen kollidieren oder, umgekehrt, in diesen aufgehen? Damit geraten auch andere Autoritäts- und Herrschaftskonstellationen in den Blick, die quer zu den europäisch tradierten öffentlichen und privaten Instanzen gesellschaftlicher Ordnung stehen können.

Diese Fragen stellen sich nicht nur empirisch, sondern auch theoretisch: Die Entwicklungen neuer netzwerktheoretischer, symmetrischer und posthumanistischer Theorieprogramme in der Kindheitssoziologie haben sich auch dahingehend zu bewähren, ob es ihnen gelingt, wiederkehrende Muster der Hervorbringung von Kindheiten, Familien, politischen Gemeinschaften und Institutionen (Recht, Bildung, Expert*innenwissen usw.) sowie die damit verbundenen generationalen und vergeschlechtlichten Grenzen des Sozialen zu identifizieren und zu erklären.

2. Akteur*innen und politische Praxis

Ein zweiter Themenstrang der Tagung soll der Untersuchung der beteiligten Akteur*innen an Politiken der Kindheit und ihrer Modi der Artikulation gewidmet sein. Rechtliche Ziele wie Kinderschutz, Partizipation und Sorge können dabei in institutionelle Programme global agierender internationaler Organisationen eingebettet sein, aber auch als zentrale Forderungen lokal agierender sozialer Bewegungen fungieren, die für die Umsetzung konkreter Maßnahmen vor Ort kämpfen. Sie gehen vornehmlich von Erwachsenen aus, können aber auch von Kindern im lokalen, nationalen und internationalem Zusammenschluss initiiert werden. In welchen Netzwerken, Figurationen, Interdependenzen und Serien von Praktiken werden also Politiken der Kindheiten hervorgebracht, ausgehandelt und umgesetzt? Wie wirken unterschiedliche Akteur*innen dabei zusammen oder gegeneinander?

Gleichzeitig ist nicht gesichert, dass sich die Zielsetzungen empirisch beobachtbarer Politiken der Kindheit mit rechtlich verankerten Zielen decken. So ist immer auch zu erwarten, dass die Inanspruchnahme von Kindheit regelmäßig konkrete Interessen der Kinder ignoriert. Für die Umsetzung politischer Praxis kann sich Kindheit daher als bloße Legitimationsressource erweisen. Politische Unternehmungen, die den Anspruch erheben Kindheit(en) zu gestalten, können überdies im Gegenzug mit weitergehenden Zielen oder Forderungen verknüpft werden. Inwieweit werden also durch Politiken der Kindheit nicht-intendierte Nebenfolgen realisiert oder soziale und insbesondere generationale Asymmetrien (re-)produziert? Lassen sich Inkonsistenzen und Widersprüche dokumentieren? Werden bereits erzielte Erfolge in der Etablierung kinderbezogener Ziele mit Blick auf drängender markierte Probleme wieder preisgegeben oder gar ausgehöhlt? Und welche von Kindern initiierten Politisierungen und Politiken zeitigen welche Effekte für die generationale Ordnung, Partizipation/Teilhabe und Ausschluss?

3. Felder und Logiken

Mit einer solchen Perspektive auf Politiken der Kindheit ist also explizit nicht allein der Apparat politischer Institutionen aufgerufen, sondern eine Vielfalt an Feldern, in denen Kindheit und Kinder im Sinne der skizzierten drei Dimensionen Relevanz erlangen: Politiken der Kindheit können sowohl in lokalen Arrangements von Betreuung und Sorge, in regionalen oder nationalen Arenen der Ausgestaltung von Kindheit oder auch in internationalen und globalen Netzwerken sozialpolitischer Gestaltung wirksam sein. Zu diesen Feldern gehört nicht zuletzt auch die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung selbst, mit ihren Themen, Theorien, Forschungsagenden und ihren advokatorischen Forderungen nach einer gesellschaftlichen Anerkennung von Kindheit.

Korrespondierend stellen sich auch Fragen danach, ob und wie Kindheiten über einzelne lokale Felder hinausgehend politisch konstituiert werden und inwieweit zugleich supralokale Inanspruchnahmen, kindheitspolitische Zielsetzungen und generationale Zugehörigkeiten auf lokale Praktiken zurückwirken: Wo und wie lassen sich soziale Effekte empirisch beobachtbarer Politiken der Kindheit erfassen (zum Beispiel Durchsetzung kindheitsbezogener Forderungen in Bildung und Betreuung, Verschärfungen von Ungleichheitslagen oder auch Veränderungen in den institutionellen Ein- und Ausschlüssen marginalisierter Kindheiten) und wie lassen sich diese theoretisch erklären? Damit soll gezielt eine Perspektive eröffnet werden, die auf den gesellschaftsanalytischen Ertrag der zahlreichen empirischen (Einzel-)Befunde der Forschungen zu ›doing‹ Kindheiten, ›becoming‹ von Kindern und ›generationing‹ sozialer Kontexte abstellt: Der für die Kindheitsforschung gewohnte Blick auf die lokale Produktion von Differenzen und Asymmetrien soll um den der Isomorphien, Korrespondenzen und Transversalen zwischen Feldern, Klassen und Kulturen erweitert und ihre gesellschaftstheoretischen Potentiale ausgelotet werden.

4. Fragen für Einreichungen

Vor dem Hintergrund des dargestellten Tagungsthemas erwünschen wir uns sowohl empirisch-analytische als auch theoretisch-konzeptuelle Beiträge zu den folgenden oder ähnlich gelagerten Fragestellungen:

  1. In welchen grundsätzlichen und/oder speziellen Beziehungen stehen Konzepte von Kindheit und Vorstellungen von Politik und dem Politischen? Wie bedingen, legitimieren oder begrenzen sie sich wechselseitig beispielsweise in der Ausgestaltung demokratischer Strukturen und Institutionen? Welche ambivalenten politischen Bezugnahmen und Adressierungen von Kindern lassen sich identifizieren? Welche Bedeutung kommt dabei insbesondere auch den Kindern als politischen Akteur*innen zu?
  2. Inwieweit kann Kindheit als Arena gesellschaftlicher Ordnungs-, Veränderungs- oder auch Beharrungsbemühungen betrachtet werden? Welche Akteur*innen nehmen dabei welche Kindheit(en) in Anspruch und welcher Chiffren, Legitimationsmuster, Wissensbestände oder Erzählungen bedienen sie sich für die Kommunikation und Durchsetzung ihrer Anliegen und Ansprüche? Wie agieren Kinder selbst in der Arena Kindheit?
  3. In welcher Beziehung stehen Politiken der Kindheit zu weiteren Dimensionen sozialer Ungleichheit? Werden dadurch die mit generationalen Ordnungen auftretenden Intersektionalitäten stabilisiert, verschärft, abgemildert oder aufgelöst? Welche mit sozialen Zugehörigkeiten einhergehenden Rechte, Pflichten, Zugriffe und Zumutungen werden dabei artikuliert, oktroyiert, eingefordert, abgelehnt oder auch neu interpretiert?
  4. Welche Perspektiven lassen sich die politische Thematisierung von Kindheit(en) in Bezug auf generationale und globale Machtverhältnisse und politischer Strukturen entwerfen? Wo unterscheiden und wo einen sich politische Bewegungen und Themen von Kindheit im globalen Süden und Norden? Welcher Stellenwert kommt dabei Prozessen der Dekolonialisierung von Kindheit(en) zu?
  5. Welche Anwendungspraktiken, Limitationen und Weiterentwicklungsperspektiven können hinsichtlich der UN-Kinderrechtskonvention in lokalen, nationalen und globalen Arenen von Kindheit beobachtet werden? Inwieweit stehen damit etablierte generationale Arrangements und Herrschaftsverhältnisse (staatliche Prinzipien, Vorgaben internationaler Organisationen oder auch Ansprüche von Familienverbänden) zur Disposition?

Einreichungen im Umfang von max. 3.000 Zeichen richten Sie bitte bis zum 24.05.2021 an cfp_jahrestagungkindheit(at)leuphana.de.

Organisationsteam:

Lars Alberth (alberth(at)leuphana.de)

Christoph T. Burmeister (christoph.burmeister(at)hu-berlin.de)

Nicoletta Eunicke (eunicke(at)uni-mainz.de)

Markus Kluge (mkluge(at)uni-muenster.de)

Jessica Schwittek (jessica.schwittek(at)uni-due.de)