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Gesellschaftliche Spaltungen im und durch den Film. Verhandlungen über soziale Desintegration und Entsolidarisierung

Deadline: 31. Mai 2023

Filmische Artefakte – ob Spielfilme, Dokumentarfilme, Fernsehserien oder Bewegtbilder – fungieren als Seismographen sozialer Phänomene, Entwicklungen und Veränderungen. Sie wirken an der Konstruktion einer Vorstellung der Welt mit, durch Verhandlungen, Kommentare und Zuspitzungen, aber auch durch die Herstellung von (vermeintlichen) Zusammenhängen oder die narrative Konstruktion von Verschränkungen gesellschaftlicher Prozesse oder diskursiver Felder. Dabei müssen sie – wenngleich in unterschiedlich
ausgeprägter Spezifizität – die Erfahrungswelten ihrer Rezipient*innen tangieren. Für eine filmsoziologisch inspirierte Perspektive bedeutet dies, dass der Film nicht nur grundsätzlich als Quelle der empirischen Sozialforschung, sondern darüber hinaus als performatives Zeugnis zeitgenössischer Zustände taugt, die es aufzunehmen, auf deren Wandel es zu reagieren und die es (allgemein) zu verhandeln gilt.

In jüngerer Zeit ist in der Soziologie sowie insbesondere in öffentlichen und medialen Diskursen schnell – oder vorschnell – von neuartigen, zunehmenden oder besonders vehement hervortretenden sozialen Spaltungen und Spaltungsprozessen spätmoderner kapitalistischer Gesellschaften die Rede. Diese Diagnose umfasst Phänomene verschiedener gesellschaftlicher Provenienz, die unter einer Vielzahl von Begriffen firmieren (Cleavages, Konfliktlinien, Lagerbildung etc.): So scheinen Identitäts- und Differenzkonstruktionen sowie alltagskulturelle Klüfte in politischen Fragen an Definitionsmacht zu gewinnen. Zumindest werden explizit wie offensiv postulierte Spaltungen sicht- und hörbarer, vorgeblich befeuert durch die Struktur und Dynamik der sozialen Medien. Zudem erzeugt der politische Umgang mit gesellschaftlichen Krisen sichtbare Reaktanzen, die längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen bzw. dort tiefer verankert werden: sei es bezüglich der Pandemie, der Migration oder des Klimawandels – und ganz allgemein: in der verstärkten, mitunter reflexhaften Infragestellung offizieller Verlautbarungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse, kulminierend in Begriffen wie alternative facts oder fake news bis hin zu
Verschwörungsideologien. Viele führen vor diesem Hintergrund auch das Erstarken des Rechtspopulismus an – ebenso wie die Entstehung und Etablierung von Akteurskonstellationen und -bündnissen entlang veränderter gesellschaftlicher Achsen, was etwa in Schlagworten wie dem ›libertären Autoritarismus‹ (Amlinger/Nachtwey) anklingt.

Doch ist es wirklich so ungewöhnlich, dass Spaltungen stärker in den Fokus gerückt werden als sozialer Zusammenhalt? Und ist die postulierte gespaltene Gesellschaft nicht doch ›nur‹ eine polarisierte Gesellschaft (Kaube/Kieserling), in der bereits bestehende Differenzen lediglich distinktiver oder gar lustvoller inszeniert werden? In diesem Sinne wäre filmsoziologisch zu prüfen, inwiefern sich aus filmischen Artefakten Aufschlüsse über zeitgenössische wie historische Verhandlungen von Spaltungsnarrativen gewinnen lassen, ob und inwiefern filmische Artefakte aber auch Lösungsangebote unterbreiten.

Vor dem Hintergrund der oftmals überhitzten Debatten erscheint es naheliegend, einen Schritt zurückzugehen und den Begriff der sozialen Spaltung im Hinblick auf filmische Produkte grundlegend zu konzeptualisieren. Eine Heuristik müsste zumindest zwischen folgenden Dimensionen unterscheiden:

  1. Der Film als Motor oder Katalysator sozialer Spaltungen, also diejenigen filmischen Produkte, die Spaltungen induzieren oder vertiefen (sollen). Hieran knüpft die Frage nach dem Polarisierungspotenzial des Mediums an. Propaganda kann schließlich ebenso dazu dienen, Menschen oder Gruppen zu einen wie Menschen oder Gruppen identitär zu adressieren und gegeneinander in Stellung zu bringen.
  2. Der Film über soziale Spaltungen, also diejenigen filmischen Produkte, die Spaltungen thematisieren. Hierunter fielen Filme, in denen Spaltungen als zentrale Plotelemente fungieren (bspw. Filme über soziale Ungleichheit, Protestbewegungen, Aufstände, Revolutionen) oder in denen innerhalb der Narration von Figuren, Konstellationen oder Settings prominent auf Spaltungen in der Filmgesellschaft – und damit mittelbar auch in ›unseren‹ Gesellschaften – rekurriert wird.

Die von der AG Filmsoziologie in der Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ausgerichtete Tagung widmet sich also einerseits den Spaltungen durch den Film und andererseits den Spaltungserzählungen im Film. Der vorliegende Call fragt damit unter anderem:

  • Gibt es empirische bzw. historisch sich herleitende Evidenzen für soziale Polarisierungen durch Film(e)?
  • Inwiefern sind die Bereiche filmischer Produktion und Rezeption im Hinblick auf Spaltungserzählungen aufeinander zu beziehen – und welche Folgen ergeben sich daraus?
  • Vor welchen narrativen und stilistischen Herausforderungen stehen filmische Produkte, die sich der Thematisierung von sozialen Spaltungen verschreiben? Was verraten unterschiedliche Spaltungsverhandlungen (synchron wie diachron) über gesellschaftliche Zustände?
  • Ob und inwiefern werden aktuelle Spaltungsnarrative, die entlang von Konfliktlinien wie Migration, Klimakrise, Pandemie, Krieg, Armut o.ä. verlaufen, filmisch aufgegriffen und verarbeitet?
  • Welche Subjekt- und Gesellschaftsbilder liegen spezifischen Spaltungsnarrativen zugrunde?
  • Lassen sich filmische Problematisierungen oder Dekonstruktionen von Spaltungen auffinden? Existieren Gegenbewegungen, die soziale Kohäsion und Zusammenhalt – und damit kollektive Identitätsnarrative – herausstellen?
  • Allgemein: Welche theoretischen, methodologischen sowie empirischen Zugänge lassen sich für das Thema der sozialen Spaltung fruchtbar machen?

Der Call nimmt eine bewusst breite Perspektive ein und interessiert sich daher dezidiert auch für anderweitige Näherungen an filmisch evozierte oder verhandelte Spaltungen.

Die Tagung wird in den Räumlichkeiten der Universität Göttingen stattfinden. Im Anschluss an die Veranstaltung ist eine Veröffentlichung der verschriftlichen Vorträge in einem Sammelband angedacht. Beitragsvorschläge (max. 2.500 Zeichen) bitte per Mail bis zum 31.05.2023 an:
Jan Weckwerth (jan.weckwerth(at)uni-goettingen.de)
Oliver Dimbath (dimbath(at)uni-koblenz.de)
Carsten Heinze (carsten.heinze(at)uni-hamburg.de)