Phänomene der Gewalt waren lange Zeit das ›analytische Stiefkind‹ (von Trotha) der Sozialwissenschaften. Entweder wurde ihnen in der sozial- und gesellschaftstheoretischen Begriffsbildung überhaupt keine Beachtung geschenkt oder man subsumierte sie unter unspezifischen und normativen Begriffen. So wurden sie als ›soziales Problem‹ klassifiziert oder als ›staatliches Gewaltmonopol‹ unhinterfragt vorausgesetzt. Als eigenständiger Forschungsgegenstand blieben sie jedoch analytisch weitgehend unterbelichtet. Dass Gewalt als besondere soziale Praxis verstanden werden kann, dass sie auf spezifische Weise erlebt wird, dass sie an besondere Sinnwelten geknüpft und als eigensinnige ›Machtaktion‹ (Popitz) zu begreifen ist, die Personen verletzt, fiel aus den Betrachtung heraus.
Dies änderte sich ab Mitte der 1990er Jahre, als verschiedene Autor*innen einen radikalen Perspektivwechsel in der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Gewalt forderten. Ausgehend von der vehementen Kritik der Verdrängung von Gewalt aus sozialwissenschaftlichen Theorien und der Ignoranz gegenüber Gewalt als einem spezifischen interaktiven und dynamischen Geschehen setzten sie sich programmatisch für eine neue, innovative Gewaltforschung ein. Diese Intervention war seither immer wieder Gegenstand der fachlichen Diskussion und ging in das Bemühen über, Gewalt sozialwissenschaftlich zu verstehen und zu erklären. Zwar bedurften viele der Forderungen einer Revision und einige Punkte harren noch immer der Bearbeitung. Dennoch brachen sie alte Perspektiven auf und ermöglichten es, Gewaltphänomene neu zu fokussieren und sozialwissenschaftlich zu erkunden. Sie stießen eine teils kontroverse, jedoch empirisch, theoretisch wie auch methodologisch gewinnbringende Diskussion an, die zu neuen Einblicken in die sozialen Aspekte von Gewaltphänomenen führten.
Durch diese Debatten entwickelte sich die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung in den letzten drei Jahrzehnten zu einem lebhaften und ausdifferenzierten Forschungsfeld, auf dem mit den Grenzen des eigenen Gegenstandes, den methodischen und theoretischen Herangehensweisen und den empirischen Zugängen gerungen wird. Zentral war hierfür mit Sicherheit der ›situationistische Drift‹ (Braun/Keysers), der die Dynamiken von Gewaltereignissen und die darin verorteten Interaktionen in den Blick rückte. Auf ihn gehen viele erkenntnisreiche Forschungen zurück, zugleich aber bot er aufgrund seiner Limitierungen auch immer wieder Anlass für weiterführende Diskussionen, die eine Einbettung von gewalttätigen Interaktionen in umfassendere, auch gesellschaftstheoretische Perspektiven anmahnten. Für den fachlichen Reflexionsprozess war auch die Diskussion um das Gewaltverständnis und das Für und Wider begrifflicher Konzepte entscheidend: Enge Gewaltbegriffe, die sich auf körperliche und allenfalls auch psychische Gewalt beziehen, und weite Gewaltbegriffe, die auch strukturelle, symbolische, kulturelle und epistemische Gewalt umfassen, werden mittlerweile durch reflexive Gewaltbegriffe ergänzt, welche die Deutungen von Akteuren und Gruppen akzentuieren. Auch lässt sich eine zunehmende Ergänzung von rein täter*innenzentrierten Perspektiven beobachten: immer mehr Studien und Ansätze befassen sich auch mit dem Erleiden und dem Beobachten von Gewalt. Schließlich hat dieser Prozess auch zur Erosion eines Sicherbarkeitsbias beigetragen und die Forschung für weniger sichtbare Gewalt, wie etwa geschlechtsbezogene Gewalt im privaten Raum, geöffnet.
Mit der Tagung ›Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung‹ verfolgen wir das Ziel, diese vielfältigen Perspektiven zusammenzuführen, die sich in den letzten Jahren im Kontext der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung entwickelt haben. Mit unterschiedlichen Beiträgen wollen wir erschließen, wie das Forschungsfeld rund um das Thema Gewalt aktuell beschaffen ist, was ›erreicht‹ wurde und in welche Richtungen sich die Forschung in Zukunft bewegen kann. Interessant sind hierfür theoretische Ansätze, empirische Forschungen wie auch methodisch-methodologische Herangehensweisen. Die Veranstaltung soll die Theorieperspektiven unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher (Sub-)Disziplinen miteinander in Dialog bringen, verschiedene forschungspraktische Herausforderungen der Gewaltsoziologie beleuchten sowie Erkenntnisse und Beobachtungen zu den ›Feldern der Gewalt‹ zusammentragen. Durch diesen Austausch hindurch wollen wir gemeinsam mögliche Zukünfte der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung in den Blick nehmen.
Eingeladen sind Vorschläge für Vorträge aus allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die bestehende Debatten der Gewaltforschung und deren Aktualität diskutieren, empirische Forschung(sfragen) thematisieren, sich neuen Feldern und method(olog)ischen Herausforderungen widmen und/oder die Brücke zu sozial- und gesellschaftstheoretischen Ansätzen schlagen. Im Fokus der Vorträge sollen unter anderem folgende Fragestellungen stehen:
- Mit welchen altbekannten, aktualisierten und neuartigen Phänomenen wird die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung derzeit konfrontiert?
- Welche sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf Gewalt haben sich mittlerweile entwickelt, und wie lassen sie sich gewinnbringend in einen Dialog miteinander bringen?
- Wie werden in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung unterschiedliche Perspektiven (von Gewalterleidenden, Täter*innen, Dritten) untersucht?
- Welche method(olog)ischen und/oder theoretischen Herausforderungen der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung bestehen?
Abstracts im Umfang von maximal 4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) können bis zum 15. August 2024 an folgende E-Mail-Adresse gesendet werden: gewaltforschung(at)medien.uni-weimar.de
Rückmeldung zu den eingereichten Vorschlägen werden wir bis Ende September 2024 geben. Die Veranstaltung findet in Präsenz statt. Wir sind bemüht, Mittel für die Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten einzuwerben. Jedoch kann eine Kostenübernahme zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht zugesagt werden.
Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen!