Aktuell

Technisierung von Wissen

Deadline: 10. Juli 2023

Die ›Gewissheit‹, dass die Dinge ›wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben‹, kurz: Wissen, ist eine soziale und kommunikative Hervorbringung, die die historische Gestalt gesellschaftlicher Institutionen und Sinnwelten prägt. Wesentlich für die gattungsgeschichtliche Weitergabe, aber auch für die subjektiv-zeitgenössische Aneignung und Abwandlung solcherlei Gewissheit ist ohne Zweifel die Sprache – nicht von ungefähr geht die DGS-Sektion Wissenssoziologie aus der ehemaligen Sektion Sprachsoziologie hervor. Diese bemerkenswerte Umbenennung von Sprach- in Wissenssoziologie verweist allerdings auch darauf, dass allein im Fokus auf Sprache die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion von Wissen nicht erschöpfend erfasst sein dürften. Weitergegeben und verändert wird Wissen auch als sedimentiertes Wissen: im habitualisierten Gebrauch beispielsweise von Werkzeugen, Gegenständen oder Maschinen. Reproduziert wird Wissen ferner in den vielfältigen Ausprägungen der Alltagskommunikation, nicht zuletzt in Prozessen wechselseitiger sozialer Beobachtung sowie in auf solcherlei Beobachtung zugeschnittenen Selbst-, Fremd- und Weltdarstellungen. Die Produktion und Reproduktion von Wissen spannt sich in diesem Sinne von der Verwendung vergleichsweise einfacher Gesten über den Gebrauch von Sprachen und basalen Grafismen (Texten, Bildern) bis hin zu zeitgenössischen digitalen Medientechniken auf. Sie manifestiert sich in der Weitergabe sedimentierten Wissens durch Artefakte ebenso wie in der gesellschaftspolitisch forcierten Zusammenführung professioneller Sonderwissensbestände zu ›Schlüsseltechnologien‹ und in der Umformung technischen Wissens in intuitive Oberflächen, automatisierte Abläufe, artifizielle Evidenzen (Metriken, Indizes) oder in ›Entitäten neuer Art‹ (Bots, Assistenzsysteme, autonome Fahrzeuge etc.). Wenn Peter Berger und Thomas Luckmann seinerzeit fragten, wie es vor sich geht, dass bestimme Ausschnitte des gesellschaftlichen Wissensvorrats ›Wirklichkeit‹ werden (und wenn sie in vorläufiger Beantwortung der von ihnen gestellten Frage auf Prozesse der Institutionalisierung, Legitimierung und Internalisierung verweisen), so stellt sich spätestens in dem Augenblick, da automatisierte Maschinensysteme, Plattformtechnologien, synthetische Interaktionssituationen, Wissensgraphen, globale mediascapes, Systeme künstlicher Intelligenz und Ähnliches alltagspraktische Relevanz erlangen, die Frage, ob zu den von Berger/Luckmann genannten Prozessen der Institutionalisierung, Legitimierung und Internalisierung nicht auch Prozesse der Technisierung zu zählen sind und welchen Anteil diese an der gesellschaftlichen Bearbeitung, Veränderung und Hervorbringung von Wirklichkeit haben.

Vor dem Hintergrund nicht nur dieses, hier kursorisch umrissenen Zusammenhanges, sondern auch des weit umfangreicheren wissenschaftlichen Wissens um die gesellschaftliche Produktion und Distribution von Wissen, bitten wir daher um Beitragsvorschläge, die sich mit (historischen oder gegenwärtigen) Phänomenen der Technisierung von Wissen und der soziologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung solcher Phänomene auseinandersetzen. Uns ist es mit dieser Themenstellung um Antworten auf die Frage bestellt, wie und mit welchen theoretischen Konzepten sich gegenwärtige Erfahrungen technisierter gesellschaftlicher Wirklichkeit(en) bzw. Prozesse der Technisierung von Wissen in ihrer Genese, ihren Voraussetzungen und ihren Folgen beschreiben, verstehen und erklären lassen. Prozesse der Technisierung von Wissen können hierbei beispielsweise im Sinne der Technisierung von Alltagskommunikation thematisiert werden, im Sinne der Veralltäglichung komplexer Technologien (exemplarisch: intuitive Oberflächen/automatisierte Abläufe), der Entwicklungvon Techniken automatisierter Wissensproduktion (exemplarisch: Wissensgraphen), des Gebrauchs entsprechender Technologien in der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion sowie in jedwedem anderen Verständnis. Mögliche Beitragsthemen ergeben sich ferner aus Fragen wie diesen:

  • Wie verändern sich gesellschaftliche Wissensbestände unter dem Eindruck der Technisierung von Wissen? Welche Formen nehmen die Ansammlung, Archivierung, Bereitstellung, Distribution, Reflektion oder Infragestellung von Wissensbeständen an oder welche Dynamiken gewinnen diese? Wie kommen Prozesse der Technisierung von Wissen in Gang? Wie perpetuieren sie sich? Korrespondieren sie gegebenenfalls mit Prozessen der De-Technisierung?
  • Wie verändern sich subjektive Erfahrungen von Gewissheit oder Ungewissheit z.B. in Bezug auf Institutionen, Kollektive, Individuen oder die eigene Person? Welche Ungewissheiten oder welches Nicht-Wissen bringt die Implementierung komplexer Technologien (exemplarisch: künstliche Intelligenz) in alltägliches Routinehandeln mit sich? Inwiefern wird sedimentiertes technisches Wissen also selbst zu ungewissem Wissen oder zur Quelle von Ungewissheit und zum Gegenstand mythisierender Beschreibungen?
  • Wie schlagen sich Prozesse der Technisierung in gesellschaftlichen Diskursen nieder? Verleihen sie diesen neue kommunikative Formen oder Dynamiken?
  • Welche Möglichkeiten der Beschreibung der Technisierung von Wissen und der empirischen Rekonstruktion entsprechender Phänomene und Prozesse ergeben sich aus den theoretischen Konzepten, die z.B. die wissenssoziologische Hermeneutik, die Diskursanalyse, der kommunikative Konstruktivismus, die Techniksoziologie oder die Klassiker der Soziologie und der Kulturphilosophie bereitstellen?

Nicht ohne Folgen dürfte die Technisierung von Wissen auch für die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion sein. Wenn Wissen als die Gewissheit verstanden werden kann, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben (s.o.), und wenn Wissenschaft die Infragestellung solcher Gewissheit zur notwendigen Voraussetzung hat, welche Möglichkeiten, Herausforderungen, Hindernisse oder Konsequenzen ergeben sich dann aus der Technisierung von Wissen für die Wissenschaften? Beiträge können sich folglich auch auf Fragen wie diese beziehen:

  • In welchem forschungspraktischen Verhältnis stehen digitale Techniken der Datengenerierung, der Datenanalyse oder der Datenorganisation zu interpretativen Methoden? Wie kann dieses Verhältnis methodologisch charakterisiert werden?
  • Wie können innerwissenschaftlich genutzte Techniken der Datafizierung, der Quantifizierung oder der automatisierten meta-analytischen Auswertung wissenschaftlicher Publikationen wissenssoziologisch thematisiert und untersucht werden?
  • Wie oder unter welchen Aspekten lassen sich die institutionellen oder epistemischen Konsequenzen der Nutzung oder einer Vermeidung solcher Techniken beschreiben? Wie verhält sich wissenssoziologische Forschung selbst zu solchen, gegebenenfalls auch institutionalisierten Techniken?

Beitragsvorschläge im Umfang von max. 500 Wörtern (pdf-Dokument) richten Sie bitte bis spätestens 10.07.23 an Michael R. Müller (michael-rudolf.mueller(at)phil.tu-chemnitz.de) und an Silke Steets (silke.steets(at)fau.de).

Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!