Aus den Sektionen

Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft: Tagungsbericht der Jahrestagung der DGS-Sektion Jugendsoziologie

Tagungsbericht, Jahrestagung der DGS-Sektion Jugendsoziologie, 27.-29. September 2017 an der Universität Luxemburg

Eine Theoriedebatte zu initiieren, das war die Absicht der Jahrestagung der DGS-Sektion Jugendsoziologie, die vom 27. bis 29. September 2017 an der Universität Luxemburg stattfand. Unter dem Motto ›Entgrenzung der Jugend und Verjugendlichung der Gesellschaft‹ machten deutsche, luxemburgische und schweizerische Jugendforscher/innen Vorschläge zu einer – so der Untertitel des Tagungsthemas – ››Neuvermessung‹ jugendtheoretischer Konzeptionen‹. Ausgangspunkt der Tagung ist die Feststellung, dass sich der Forschungsgegenstand ›Jugend‹ im Spiegel empirischer Befunde diversifiziert hat, der Vielfalt empirischer Erkenntnisse aber ein Mangel an grundlagentheoretischer Reflexion gegenübersteht. So stammen die einschlägigen Theoriefiguren der ›Entstandardisierung‹ und ›Entstrukturierung‹ aus den 1980er Jahren. Auch die Verlängerung der Jugendphase bis ins dritte Lebensjahrzehnt wurde bereits in dieser Zeit unter dem Begriff der ›Postadoleszenz‹ theoretisiert. Ausgehend von Phänomenen, die gegenwärtig im Fokus der Jugendforschung stehen, ist zu fragen, ob diese mit den etablierten theoretischen Konzeptionen tatsächlich angemessen zu erfassen sind – auch wenn sie sich durchaus in sozialhistorische Entwicklungslinien einrücken lassen. So stellen sich Übergänge und ›Entwicklungsaufgaben‹, die ehemals der Jugend vorbehalten waren, heute nicht mehr nur in der adoleszenten oder postadoleszenten Lebensphase, sondern in den anschließenden Lebensdekaden noch immer bzw. sogar immer wieder. Solche Phänomene prägen auch das Erwachsenenalter, das nun ebenfalls seine klaren Konturen zu verlieren scheint. Einst verlässliche Merkmale des Jugendalters werden zunehmend fraglich.

Damit ist der Ausgangspunkt der Sektionstagung Jugendsoziologie umrissen. Im Zentrum des ersten Panels stehen theoretische Neuvermessungen der Jugendforschung im Anschluss an sozialisationstheoretische, entwicklungspsychologische oder anerkennungstheoretische Theorietraditionen. So macht Matthias Grundmann unter dem Stichwort ›Doing Youth‹ einen praxistheoretischen Zugang zum ›Eigentlichen von Jugend‹ stark. Diese Perspektive erlaubt es, das Spannungsverhältnis zwischen den lebensweltlichen Erfahrungen Jugendlicher und den idealisierenden Projektionen und Diskursen Erwachsener zu erfassen. Virulent wird dies im Experimentieren mit Entfaltungsmöglichkeiten, bei dem Jugendliche auch scheitern können. Albert Düggeli unterzieht diese Ambivalenz einem individualpsychologischen Blick und weist dem Thema des sich selbst Befragens eine handlungsleitende Funktion im Jugendalter zu. Auf der Grundlage einer Typologie skizziert er, wie Jugendliche im Anschluss an die Frage ›Schaffe ich das, was von mir verlangt wird?‹ Bilanzierungen vornehmen und Zukunftsperspektiven entwerfen. Christine Wiezorek bezieht sich in ihrem Vortrag kritisch darauf, dass das Ende der Jugendphase jugendtheoretisch noch immer an den Eintritt in die Erwerbstätigkeit gebunden wird. In anerkennungstheoretischer Absicht verdeutlicht sie, dass moderne Jugend nicht nur aus der Institutionalisierung des Bildungswesens sondern auch aus der Herauslösung aus herrschaftlichen und hausrechtlichen Abhängigkeiten entstanden ist. Insofern lässt sich Jugend auch über die Bewältigung von familialer Abhängigkeit bestimmen, die den Jugendlichen durch das Zugeständnis von Teilreifen sukzessiv ermöglicht wird. Vera King stellt den Begriff der Generativität ins Zentrum ihres Abendvortrags. Jugendliche orientieren sich demnach an der Ablösung von der Elterngeneration, die von dieser zugleich ermöglicht werden muss. Die Sorge für die Folgegeneration – ob als gesellschaftliches Generationsverhältnis oder als personale Generationsbeziehung – verändert sich jedoch gegenwärtig unter den Bedingungen von Beschleunigung.

Die Vorträge des zweiten Panels (28.09.) sind auf das Spannungsfeld von ›Individuation‹ und ›Integration‹ gerichtet und verknüpfen dabei empirische Beobachtungen und jugendtheoretische Betrachtungen. Jutta Ecarius arbeitet eine spätmoderne Form der familialen Erziehung des Beratens heraus, in der die Förderung evaluativer Fähigkeiten angesichts komplexer werdender Übergänge mit der Ausrichtung am Wohlbefinden der jüngeren Generation verbunden wird. In den Vorträgen von Anja Schierbaum und Jule-Marie Lorenzen wird der Blick auf die Bewältigungsleistungen der jungen Menschen gelenkt. Während Schierbaum den biografischen Konstruktionen Jugendlicher am Fallbeispiel einer jungen Frau auf den Grund geht, rekonstruiert auch Lorenzen solche selbstreflexiven Aneignungsprozesse gesellschaftlicher Anforderungen, die sie aber auf das Ende der Jugend und auf Fragen der ökonomischen Verselbständigung bezieht. Das dritte Panel steht unter der Überschrift ›Konzeptionelle Herausforderungen der Jugendforschung: Diversität und Differenz‹ und wird von Nora Gaupp eröffnet, die für eine diversitätssensible Forschungsperspektive auf Jugendliche plädiert. Am Beispiel der DJI-Studie ›Coming-out – und dann…?!‹ gewährt sie Einblicke in die forschungspraktische Berücksichtigung der Sichtweisen lesbischer, schwuler, bisexueller, trans* und queerer Jugendlicher. Eine Berücksichtigung von Diversität findet sich aber auch in der Perspektive der Intersektionalität, der sich Thomas Schroedter anschließend widmet. Anhand der hierfür zentralen Differenzkategorien betreibt er eine ›Spurensuche‹ in historischen Werken der Jugendforschung. Alexandra Retkowski stellt daraufhin Befunde eines quantitativen Forschungsprojekts zum Thema ›Studium und Sexualität‹ vor, bei dem Erfahrungen zum sexuellen Wohlbefinden von Studierenden, aber auch zu sexualisierter Gewalt erhoben wurden. Folke Brodersen liefert einen konzeptionellen Beitrag, indem er das ›Coming-out‹ als eigene Statuspassage innerhalb des jugendlichen Lebensverlaufs zu bestimmen sucht und dabei ebenso wie Gaupp an die Befunde der DJI-Studie ›Coming-out – und dann…?!‹ anknüpft.

›Konzeptionelle Herausforderungen der Jugendforschung‹ stehen ebenfalls im vierten Panel (29.09.) zur Debatte, nun allerdings mit Bezug auf ›ästhetische Praxis und Jugendkultur‹. So weisen Tim Böder und Nicolle Pfaff in ihrem Vortrag auf die Bedeutung der generationalen Lagerung für die Entwicklung von Jugendstilen hin. Ästhetische Praxis als Bezugspunkt jugendkultureller Vergemeinschaftung oszilliert dabei zwischen den Traditionen eines Stils und den Einflüssen des sozialhistorischen Kontextes. Paul Eisewicht und Julia Wustmann unterziehen die theoretischen Konzepte Jugendsubkultur, Jugendkultur und Jugendszene einer kritischen Prüfung und zeigen mit Bezug auf Entwicklungen der Digitalisierung, Hybridisierung und Entgrenzung Leerstellen auf – auch in der jüngsten Forschungslinie zu ›Jugendszenen‹. Das fünfte Panel steht unter dem Motto ›Entgrenzung von Jugend und Verjugendlichung: Wodurch bleibt die Jugendphase signifikant?‹ Andreas Heinen und Helmut Willems beleuchten den Zusammenhang von Jugendpolitik und Jugendforschung in Luxemburg. In einem diskursanalytisch angelegten Überblick über die Themenkonjunkturen der luxemburgischen Jugendforschung sensibilisieren sie für das Wechselverhältnis von Forschungsinteressen sowie -projekten und den jugendpolitischen Konstruktionen von Jugend, die den staatlichen Förderprogrammen zugrunde liegen. Anne Berngruber beschließt mit ihrem Vortrag die Tagung. Sie konfrontiert die sich widersprechenden Diagnosen einer Entgrenzung und Verdichtung der Jugendphase mit empirischen Befunden zur Übergansgestaltung von Jugendlichen aus dem DJI-Survey AID:A. Dabei macht sie auf Bildungs- und Geschlechterunterschiede aufmerksam, aus denen zu folgern ist, dass sich die empirische Realität jugendlicher Statusübergänge nicht eindeutig einer der beiden Diagnosen zuordnen lässt. Mit der Jugendphase selbst – so ist zu resümieren – hat sich auch deren Erforschung stark ausdifferenziert. Die Zielsetzung der Tagung, die Auseinandersetzung mit Jugend auf ihre theoretischen Fundamente zu befragen, hat sich als eine fruchtbare erwiesen. Allerdings werden uns die damit verbundenen Fragen wohl noch länger beschäftigen, denn es ist gerade die Diversifikation des Forschungsgegenstands Jugend, die diese Fragen virulent werden lässt.

(Marcel Eulenbach)