Geschichte ist als Prozess der Veränderung von Temporalitäten lesbar wobei soziokulturell produzierte zeitbezogene Regeln, Wissensformen, Technologien und Routinen stets situativ mit dem Körper interagieren. In diesem Sinne fragt eine aktuelle Ausgabe von Body and Society (Poleykett/Jent 2023), inwiefern wir im gegenwärtigen technowissenschaftlichen Zeitalter und in der ökologischen Krise eine grundlegende Restrukturierung der zeitlichen Dimensionen des Körpers erleben. Dabei wird davon ausgegangen, dass ›relationships between bodies, environment and time have become differently parsed, punctuated and materially rendered‹ (Lappé/Hein 2023: 49). Die Jahrestagung möchte sich diesen grundlegenden Fragen nach den Transformationen in der Verkörperung von Zeit und von verkörperter Zeit unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Umgestaltung von Umwelten annehmen. Insofern wird das körperzeitliche ›attunement‹ (Nguyen 2020; Mol 2021) in instabilen und unsicheren Umwelten und mittels seiner soziomateriellen Verflechtungen in Infrastrukturen und (Stadt-)Räumen in den Fokus gerückt.
Die Transformation zeiträumlicher Habitate von Körpern lässt sich am soziomateriellen Wandel ganzer Regionen und Umgebungen beobachten, der reflexiv auf die Praxis professioneller Handlungsfelder und sozialer Alltagswelten rückwirkt und durch diese gleichermaßen mithervorgebracht wird. So werden z.B. in Designpraktiken, in der (Landschafts-)Architektur, im Städtebau, aber genauso auch im Kontext von Sport und Gesundheit zeitlich schleichende Prozesse von überhitzten Körpern, des Klimawandels, von Umweltkatastrophen oder Landverlusten zunehmend präsenter, wobei alle diese Phänomene spezifische körper-zeitliche Relationen mitproduzieren. Die Zukunft von Körperlichkeiten wird vor diesem Hintergrund nicht nur ökologisch angespannter, sondern infolgedessen auch soziotechnisch hergestellt und gestaltet, indem z.B. Praktiken der Kryokonservierung die Planung und Gestaltung von Lebensphasen mitproduzieren. Ebenso modifiziert der Einsatz von Bio- und AI- Technologien, affektives Datentracking etc., die miteinander verschränkten Verhältnisse von (Lebens-)Zeiten, Räumen und Körpern. Etwa wenn Nahkörpertechnologien, wie das Smartphone, Körper dauerhaft in eine datafizierte Chronologie bringen oder sensorische Daten kontinuierlich Prognosen bezüglich aktueller Fahrt- und Wartezeiten generieren. Im Kontext von medizinischer Wissensproduktion falten Diskurse um Epigenetik Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichtlinear ineinander und ziehen den individuellen Körper in neuer Weise zeitintensiv in die Verantwortung.
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Dieses krisenbezogene Fragen knüpft an etablierte sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder zum Zeitempfinden in der Moderne an: der Wettlauf mit der Zeit und das Vorausblicken und Vorauseilen in die Zukunft werden, wie soziologische Studien und Diagnosen vielfach gezeigt haben, immer auch körperlich wirksam. Aus kollektiv erfahrenen ›Beschleunigungen‹ (Rosa 2005) entstehen gleichsam Bedürfnisse neuer ›Resonanzerfahrungen‹ (Rosa 2013). ›Präventionen‹ (Bröckling 2004) werden priorisiert, um Körper zu schützen oder zu disziplinieren, sowohl in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als auch im Optimierungsstreben in die Zukunft. Helga Nowotny verdeutlichte bereits 1989, dass die sozialen ›Eigenzeiten‹ im Zusammenhang mit spezifischen gesellschaftlich-institutionalisierten Zeitregimen und in unterschiedlichen Zeitkulturen verortet werden können. Eine Bearbeitung dieses Konzepts im Kontext aktueller Phänomene und in Bezug auf Körperlichkeiten steht aus. Zudem hat Barbara Adams (1998) in ihrer Soziologie der Zeit mit dem Konzept der ›timescapes‹ die Kontextualität von Zeit und zeitlichen Praktiken und das vielfältige Ineinandergreifen von Zeit, Kultur, ökologischen Bedingungen und soziomateriellen Umwelten herausgearbeitet. An diese Ansätze möchten wir anknüpfen und sie als Impulse auf der Jahrestagung körpersoziologisch ausrichten und aktualisieren.
Die Tagung setzt sich zum Ziel, verschiedene Perspektiven auf das gegenwärtige Verhältnis von Körper und Zeit zusammenbringen. Dabei verfolgen wir vier Fragestellungen, die die prozessuale Verschränkung von Körperlichkeiten und Zeitlichkeiten in den Blick nehmen:
WelcheneuenZeitlichkeitenvonKörpernwerdeninHandlungen,Praktiken und Diskursen hervorgebracht und inwiefern re(kon)figurieren diese Zeitlichkeiten bestehende Wissensformen, Infrastrukturen und Öffentlichkeiten?
Welche bioethischen Verantwortlichkeiten, Biopolitiken, Reibungen, Diskurse, Praktiken, Umwelten und sozialen Herausforderungen entstehen vor dem Hintergrund aktueller relationaler Temporalitäten des Körpers?
Wie sind leiblich-sinnliche ›Eigenzeitlichkeiten‹ von Körpern anhand gegenwärtiger technowissenschaftlicher Phänomene und sozialer Umwelten zu fassen?
Wie lassen sich empirische Körperphänomene in Soziologien der Zeit und in etablierten zeitsoziologischen Forschungsfeldern verorten und durch diese ggf. weiterdenken? Und vice versa: welchen Beitrag leistet auch eine Soziologie des Körpers zum Verständnis von Zeit?
Wir ersuchen Beiträge, die sich mit einer oder mehrerer dieser Fragestellungen befassen. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge im Umfang von ca. 250 Wörtern bis zum 30.09.2024 an den Sektionsvorstand (E-Mails: hanna.goebel(at)hcu-hamburg.de; wiedemal(at)hsu-hh.de, clemens.eisenmann(at)uni-konstanz.de; ajit.singh(at)uni-bielefeld.de)