Phänomenologie und Kritische Theorie sind zwei der einflussreichsten Denkströmungen des 20. Jahrhunderts und nehmen nach wie vor eine prägende Rolle für das intellektuelle Panorama der Gegenwart, insbesondere in den Sozialwissenschaften ein. Die Verbindung beider Traditionslinien ist jedoch alles andere als unproblematisch. Das zwischen ihnen bestehende Spannungsverhältnis war von Anfang an geprägt von Vorurteilen,Missverständnissen, Gleichgültigkeiten, Kommunikationsverweigerung und schulpolitischen Vorbehalten, die ein effektives Gespräch verhinderten. Trotz dieser Diskrepanzen gab es immer schon grundlegende theoretische Affinitäten zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie, und aktuelle Entwicklungen deuten darauf hin, dass es eine produktive Annäherung und Zusammenarbeit gibt.
Phänomenologie bezeichnet hier die insbesondere an Gründervater Edmund Husserl und Denker wie Max Scheler, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Alfred Schütz, Emmanuel Lévinas u.a. anschließende interdisziplinäre Denkströmung, die die Grundstrukturen der vortheoretischen, vorwissenschaftlichen lebensweltlichen Erfahrung systematisch beschreibt und analysiert. Einschlägige Vertreter der Kritischen Theorie der
Gesellschaft in der Tradition der Frankfurter Schule sind ihrerseits Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Axel Honneth u.a. Die zentrale Zielsetzung dieser Denkströmung besteht in der Identifikation›sozialer Pathologien‹– von›Entfremdung‹›Verdinglichung‹etc. –, d.h. von›Fehlentwicklungen‹oder›Störungen‹der modernen Gesellschaft.
Hinsichtlich der Spannungen zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie waren es insbesondere Horkheimer und Adorno, die die Phänomenologie als ideologisches Konstrukt verstanden, das ungerechte soziale Verhältnisse reproduziert und verdoppelt. Habermas wirft wiederum der Phänomenologie vor, dass sie nicht in der Lage sei, die Mechanismen der Systemintegration der Gesellschaft im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und bürokratischen Strukturen zu analysieren. Er beanstandet die›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ versteht die›Lebenswelt als harmlosen Ort‹und beschreibt die Phänomenologie als›hermeneutischen Idealismus‹ Von Seiten der Phänomenologie wird keine systematische Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, jedoch eine kritische Haltung ihr gegenüber erkennbar. So bezeichnet z.B. Aron Gurwitsch die›Frankfurter Philosophie‹als
›Soziologismus‹und postuliert:›(In Frankfurt) existiert die Philosophie nur nebenbei; im Vordergrund steht die demaskierende Soziologie derer, die hinter alles gekommen sind‹ Gegenwärtig werden jedoch Annäherungen beider Disziplinen erkennbar. Einerseits geht die aktuelle Kritische Theorie im Anschluss an Honneth u.a. davon aus, dass die normative Basis der Kritik stets in der Alltags- und Lebenserfahrung der sozialen Akteure mit der Fähigkeit zur
›innerweltlichen Transzendenz‹verankert ist. Aus phänomenologischer Perspektive werden sowohl in der Philosophie als auch in den Sozialwissenschaften aktuell Themen erforscht,welche herkömmlich von der Kritischen Theorie behandelt wurden: die Erforschung der lebensweltlichen Konstitution von sozialer Ungleichheit, Gerechtigkeit, Macht und Gewalt, und von subjektiven und intersubjektiven Erfahrungen der Entfremdung, Verdinglichung und des Leidens. In diesem Sinne erweist sich die phänomenologische Beschreibung als kritische
Diagnose.
Die Sektionsveranstaltung intendiert soziologiegeschichtlich nachzuzeichnen, welche Diskrepanzen, Affinitäten bzw. verdeckten Wahlverwandtschaften zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie bestanden? Inwiefern kann eine gegenseitige Beeinflussung beider Perspektiven historisch betrachtet festgestellt werden? Wir bitten um die Einreichung von Abstracts im Umfang von 1-2 Seiten inkl. einer kurzen biografischen Notiz bis zum 31.03.2025 an Jochen Dreher (Jochen.Dreher@uni-konstanz.de) und Alexis Gros (alexis.gros@uni-jena.de). Wir informieren Sie bis zum 15.04.2025 über die Annahme Ihres Vorschlags.