Einerseits wird der Soziologie eine Wahlverwandtschaft mit der Demokratie nachgesagt. Andererseits ist das Bild, das die soziologiehistorische Forschung bislang vom Verhältnis zwischen Soziologie und Demokratie zeichnet, widersprüchlich – jedenfalls innerhalb des deutschen Kontexts. So wurde die Soziologie von den liberalen Eliten der Weimarer Republik als Verbündete im Kampf um die neu zu begründende Demokratie angesehen und als solche in ihrer Institutionalisierung gefördert – und tatsächlich befanden sich unter den Soziolog:innen
vergleichsweise viele›Vernunftrepublikaner:innen‹ Dennoch wurde die Weimarer Soziologie diesen Erwartungen nicht gerecht. Eingebunden in die normative Struktur des deutschen Bildungsbürgertums lehnte die Mehrheit ihrer Vertreter:innen die demokratische Republik immer noch ab. Im Selbstverständnis der beteiligten Akteur:innen sowie in der politisch-gesellschaftlichen Zuschreibung war die frühe bundesrepublikanische Soziologie dagegen eine Demokratisierungswissenschaft. Das gilt sowohl für die›Gründungsväter‹der Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg als auch für die›Zweite Generation‹ jene Fachvertreter:innen, die ihre Ausbildung in den 1950er Jahren erhielten und überwiegend in den 1960er Jahren Professuren übernahmen. Gesellschaftliche Demokratisierung wird in der Forschungs- ebenso wie in der Erinnerungsliteratur zeitgenössischer Fachvertreter:innen einerseits als
handlungsleitendes Motiv der Akteur:innen verstanden, andererseits als inhärente Funktion sozialwissenschaftlichen Wissens. Dieses Verständnis von Soziologie als Demokratisierungswissenschaft gilt auch als verbindendes Element verschiedener›Schulen‹innerhalb der Disziplin. Jedoch wurde bislang die positive Rolle der Soziologie für die
gesellschaftliche Demokratisierung zwar in der Forschungsliteratur häufig unterstellt, kaum allerdings empirisch untersucht. Außerhalb des deutschen Kontexts wird zwar die politische Dimension der Soziologie intensiv diskutiert, wobei Berührungspunkte mit der hier aufgeworfenen Frage nach ihrer Funktion als Demokratisierungswissenschaft naheliegen; etwa in Bezug auf ihre Entwicklung im Kalten Krieg oder ihre Rolle in Kolonialismus und Imperialismus. Zudem wird das Verhältnis von Soziologie und Demokratie hinsichtlich Burawoys Konzepts von›public sociology‹kontrovers verhandelt. Aber auch hier ist das Verhältnis von Soziologie und Demokratie kaum einmal Gegenstand empirischer disziplingeschichtlicher Untersuchungen geworden.
Vor diesem Hintergrund bietet das Kongressthema Anlass, das Verhältnis von Soziologie und Demokratie aus einer spezifischen Perspektive genauer in den Blick zu nehmen: Im Prozess demokratischer Transition(en), also am historischen Übergang zwischen einerseits autoritären, nicht-demokratischen und andererseits demokratischen politischen, sozialen und normativen Ordnungen sowie den damit einhergehenden Prozessen institutioneller, politischkultureller und gesellschaftlicher Demokratisierung. Dabei soll der Begriff der›Demokratisierung‹den dynamischen, prozesshaften Charakter solcher Transitionen betonen und darauf hinweisen, dass er nicht auf einen politischen Regimewechsel beschränkt bleibt, sondern auch Prozesse innerhalb gesellschaftlicher Teilbereiche (sowohl in demokratischen als auch in nicht-demokratischen Ordnungen) erfassen will. Soziologiegeschichtliche Untersuchungen können sich etwa mit folgenden Fragen beschäftigen:
Welche Rolle hat die Soziologie in politischen und gesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen gespielt? Welche Praktiken – Theoriebildung, empirische Forschung, Lehre, Vernetzung, Institutionalisierung, Disziplinierung – sind dabei von Bedeutung gewesen und in welcher Weise? Welche unterschiedlichen, möglicherweise konkurrierenden Vorstellungen von Demokratie lassen sich in spezifischen Transitionsphasen ausmachen? Inwiefern wurde die Soziologie von politischen und gesellschaftlichen Akteuren im Kontext demokratischer Transitionen angerufen, gefördert, herausgefordert oder behindert? Wie haben sich Demokratisierungsprozesse auf die Entwicklung der Soziologie selbst ausgewirkt? Lassen sich Selbstreflexionsprozesse in Bezug auf die eigenen disziplinären
Institutionen und auf feldinterne Prozesse feststellen? Welche nationalen Spezifika, welche übergreifenden Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen, nationalstaatlichen soziologischen Feldern lassen sich ausmachen?
Wir bitten um die Einreichung von Abstracts im Umfang von 1-2 Seiten inkl. einer kurzen
biografischen Notiz bis zum 31.03.2025 an Michael Becker: becker@em.uni-frankfurt.de.
Wir informieren Sie bis zum 15.04.2025 über die Annahme Ihres Vorschlags.