Aktuell

Diversifizierung – Dezentrierung – Dekolonisierung Zur (Un-)Sichtbarmachung der Soziologiegeschichte

Deadline: April 30th, 2023

Die Soziologie ist im Zuge von Debatten um die Diversifizierung, Dezentrierung und Dekolonisierung ihrer Wissensbestände, Methoden und institutionellen Strukturen in Zugzwang geraten. Die Soziologiegeschichte nimmt hier eine Schlüsselposition ein, da sie als kulturelles Gedächtnis der Disziplin identitätsstiftend und zugleich exkludierend wirkt – in der Regel durch die Kanonisierung von Autor*innen und Werken. Ein Gang durch die Ahnengalerie der Soziologie verdeutlicht deren privilegierte Positionierung anhand kultureller, ethnischer, geopolitischer, sprach-, klassen- und geschlechtsspezifischer Kriterien. Mit der Heroisierung einiger weniger Denker(*innen) geht auch die Generalisierung von beschränkten Erfahrungshorizonten mitsamt der von ihnen abgeleiteten theoretischen und methodologischen Annahmen einher: aus einer kleinen und relativ homogenen, sich jedoch implizit oder explizit als Vertreter(*innen) der ›gesamten Menschheit‹ betrachtenden Gruppe aus einem relativ überschaubaren Teil der Welt wird die Deutungshoheit über die Welt und die dort beheimateten Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen beansprucht.

Mit Teresa Koloma Beck (2018: 90) gesprochen, hängen nicht weniger als die Relevanz und Zukunftsfähigkeit der Soziologie von der Aufarbeitung der Fachgeschichte und den daraus zu ziehenden Konsequenzen ab: ›Die diversitätssensible Transformation der Disziplin ist eine wissenschaftliche Aufgabe. Sie verlangt eine gründliche Selbstaufklärung der Soziologie über ihr koloniales und imperiales Erbe, verlangt zudem aber auch theoretische und methodologische Kreativität, die unabdingbar ist, soll dieses Erbe der Soziologie in konstruktiver Weise überwunden werden.‹

Dieser wissenschaftlichen Aufgabe widmet sich die kommende Sektionstagung und knüpft dabei an die vergangene Tagung an: ›Aus der Gegenwart des Faches blicken wir auf eine Geschichte des Vergessens zurück‹, hieß es in dem letzten Call for Papers der Sektion Soziologiegeschichte, der kritische Beiträge zur historischen Ausradierung von Frauen in der Soziologie adressierte. Diese Amnesie lässt sich in erweiterter Form auch auf den Umgang mit Beiträgen, Konzepten, Theorien und Begrifflichkeiten aus dem Erfahrungshorizont jenseits des Globalen Nordens und jenseits der Zentren konstatieren. Daher zielt die Tagung darauf ab, eine historische Perspektive auf die Soziologie ausgehend von ihrer ›Schweigsamkeit‹ (Trouillot 1995) sowie den von ihr produzierten ›Abwesenheiten‹ (De Sousa Santos 2002) und ›Peripherien‹ (Bueno et al. 2023) einzunehmen. Die Tagung richtet sich somit an Beitragende, die angesichts dieser inner- und interdisziplinären Machtgefüge in ihrer soziologiegeschichtlichen Arbeit ›diverse soziologische Traditionen‹ (Patel 2009) ausgraben und die ›coloniality of memory‹ (Boatcă 2021) herausfordern.

Das Erinnern und Vergessen soziologischer Beiträge lässt sich zunächst auf einer personalen Ebene feststellen: Dies zeigen vermehrt Studien, die lange Zeit verschwiegene Autor*innen des globalen Südens, der europäischen Peripherie oder rassifizierte und migrantisierte Autor*innen im globalen Norden mobilisieren: Ibn Khaldun, W.E.B. du Bois, Frantz Fanon, Gayatri Spivak, Homi Bhabha, Dipesh Chakrabarty, Stuart Hall, Paul Gilroy und weitere haben in Unterdisziplinen fast schon kanonischen Status erlangt (Morris 2015; Bhambra/Holmwood 2022) und wurden ihrerseits teils in zwei Wellen postkolonialen Denkens eingeordnet (Go 2016). Damit stellt sich zugleich dieFrage, welche erneuten Ausschlüsse mit einer Erweiterung des Kanons reproduziert werden – und welche konkreten inhaltlichen und strukturellen Schlüsse die Soziologie daraus zieht.

Als zweite Ebene eines solchen reflexiven soziologiegeschichtlichen Programms jenseits vergessener einzelner Autor*innen kann man die Ebene kollektiver Wissenschaftspraxen und Austauschbeziehungen ausmachen: Das Atlanta Sociological Laboratory, die Subaltern Studies Group, die New World Group, das Combahee River Collective, die Bielefelder feministische Entwicklungssoziologie, die South African Labor Studies, das Centre for Contemporary Cultural Studies und viele weitere institutionalisierte oder nicht-institutionalisierte Gruppierungen bzw. lose strukturierte Netzwerke bieten Anknüpfungspunkte für eine kritische Aufarbeitung – auch in ihren gegenseitigen Bezugnahmen und Abgrenzungen (u.a. Keim 2015; Ransby 2018; Wright 2017). Darüber hinaus adressiert die Tagung die für eine globale Soziologiegeschichte relevanten Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Akteur*innen und/oder Gruppen: Studien über die Verbindungen etwa zwischen Max Weber und W.E.B. Du Bois (McAuley 2019) oder der frühen französischen und brasilianischen Soziologien (Merkel 2022) stellen ebenso wie das transkontinentale, transtemporale In-Beziehung-Setzen Schwarzer Soziolog*innen (Kelly 2016) jüngere Beispiele einer auf Interdependenz ausgerichteten Soziologiegeschichtsschreibung dar.

Auf einer dritten, methodologischen Ebene werfen die globalen, transregionalen und transnationalen Konstellationen eine Reihe von Herausforderungen und Fragen auf. An die Stelle nationaler Soziologiegeschichten rücken verstärkt verflechtungssoziologische Ansätze, die die kritische Aufarbeitung der Fachgeschichtsschreibung mit der globalen Einbettung soziologischer Schlüsselbegriffe verbinden (Bhambra 2014; Randeria 1999). Daran anschließend und darüber hinaus ist es für die kritische Beschäftigung mit der Fachgeschichte relevant, sich auf ihre Konzepte zu verständigen: Erfolgt die Analyse der skizzierten Vergesslichkeit und Hierarchisierung beispielsweise in Nord-Süd oder Zentrum-Peripherie-Modellen? Mit welchen Zugängen können wir Verdrängungsmechanismen ebenso wie das teilweise und/oder verspätete Erinnern begrifflich treffend fassen: handelt es sich um Rezeptions-, Transfer-, Interaktions- oder Zirkulationsprozesse? Wie kann man das Soziale jenseits des modernen, handelnden, souveränen Subjekts erfassen (Dries/Morikawa 2019)? Mit welchem konzeptionellen Vokabular wie etwa Abhängigkeit, Autonomie und Extraktivismus kann die Geopolitik der Soziologiegeschichte beschrieben werden? Auch diesen und verwandten Fragen möchten wir, inspiriert durch bestehende Arbeiten zum Thema, Raum geben (u.a. Alatas 2022; Beigel 2016; Costa 2014; Dufoix 2022; Keim et al. 2014; Ruvituso 2020).

Über die hier skizzierten und viele weitere, damit zusammenhängende Diskussionsstränge möchten wir uns im Format der Sektionstagung auseinandersetzen. Sie richtet sich insbesondere an Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase (Promovierende und Postdocs) und dient der Vernetzung durch die Vorstellung und Diskussion von (Zwischen-)Ergebnissen, Befunden und Vorschlägen theoretischer, empirischer und methodischer Art. Vorträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden; es werden jedoch Grundkenntnisse der jeweils anderen Sprache für die aktive Teilnahme am gesamten Programm erwartet.

Wir freuen uns auf aussagekräftige Beitragsvorschläge (ca. 350 Wörter) und einer kurzen biographischen Angabe in einer der beiden Sprachen bis zum 30. April 2023. Bitte richten Sie Ihre Einreichung an alle drei

Organisator*innen

morikawa(at)flet.keio.ac.jp, fabio.santos(at)fu-berlin.de, do.schweitzer(at)soz.uni-frankfurt.de