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Perspektivendifferenz: Zur Ethnographie des kommunikativen Handelns

Deadline: 15. März 2024

Beim Ethnographieren sind das erfahrungsbasierte Forschen und das kommunikative Handeln in verschiedenen Hinsichten eng miteinander verwoben: Kommunikatives Handeln ist erstens Gegenstand der ethnographischen Erfahrungsbildung, über die zu erfassen gesucht wird, wie Akteure sich im Feld kommunikativ aufeinander beziehen und ihr Miteinander gestalten; es gelangt zweitens als Mittel der Forschung zum Einsatz, wenn es darum geht, einen Zugang zum Feld über Gatekeeper zu finden, im Feld in bestimmten Rollen zu agieren, um dadurch etwas Neues zu erfahren, Daten zu erheben und schließlich das Feld wieder zu verlassen; kommunikatives Handeln liegt drittens der Interpretation des gewonnenen empirischen Materials und der Reflexion des Erhebungsrahmens und der Erhebungsumstände zugrunde – sei es in der Interpretationsarbeit einer Gruppe, sei es als ›einsame‹, gleichwohl zeichen- und sprachbasierte Auseinandersetzung mit Daten; und es ist viertens als Ausdrucksform für die Präsentation und Diskussion ethnographischer Ergebnisse in ihren verschiedenen Formaten unverzichtbar.

Allerdings ruht das kommunikative Handeln – betrachtet als eine Form sozialen Handelns – auf der Grundkonstellation individualisierter Subjekte, der daraus sich ergebenden Perspektivendifferenz und der damit verknüpfen Zeichengebundenheit des Fremdverstehens, woraus sich Re- präsentationsprobleme des Feldes in ethnographischen Arbeiten ergeben (vgl. Clifford & Mar- cus 1986; Berg & Fuchs 1993). Entgegen klassischen Positionen, die von einer institutionellen Stabilisierung der Sinndeutung durch typisierte und gemeinsam geteilte Wissensbestände ausgehen (vgl. Schütz 2004 [1932]; Mead 1978 [1934]), weisen neuere Entwicklungen innerhalb der Hermeneutischen Wissenssoziologie (vgl. Hitzler, Reichertz & Schröer 2020) und der Kommunikative Konstruktivismus (vgl. Keller, Knoblauch & Reichertz 2013) darauf hin, dass die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit radikaler erst im kommunikativen Handeln geschaffen und darin zugleich immer wieder (um)gestaltbar wird. Mit der Hervorhebung der Dynamik des kommunikativen Handelns rückt die Dezentralität menschlicher Erfahrungsbildung bei der zwischenmenschlichen Aushandlung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Zentrum. Von ihr aus ist das kommunikative Handeln zu beschreiben. Es fragt sich dann, ob dies in Anbetracht der Eigenperspektive der jeweils Forschenden überhaupt intersubjektiv verbürgt möglich ist.

Bei den 9. Feldarbeitstagen wird es entsprechend um die ethnographische Beschreibung der Dynamik und der Prozessualität gesellschaftlicher Wirklichkeiten aus den perspektivgebundenen Verständigungsprozeduren der Kommunikanten und um die Herausforderungen des Fremdverstehens für die Ethnographin und den Ethnographen gehen.

Hierzu gibt es bereits verschiedene Ansätze: So haben sich bspw. die Cultural Studies mit der Partikularität von Erfahrungen und Erlebensweisen und hierbei u.a. mit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion kultureller Objekte als Zeichen bzw. Bedeutungsträger befasst (vgl. Winter 2022). Kulturanalytische Auseinandersetzungen stellen die Geschlossenheit von Kulturbegriffen, deren westliche und androzentrische Überformungen und daraus resultierende Implikationen für Verstehensprozesse in Frage (vgl. Abu-Lughod 1991; Althoff et al. 2017; Kovach 2021). Wissenschaftstheoretische Arbeiten machen auf ›situierte Wissen‹ im Plural

(Haraway 1988) aufmerksam. Durchweg wird betont: Das Gelingen kommunikativen Handelns ist gerade in der Moderne weder garantiert noch selbstverständlich. Die individualisierte Subjektivierung verstärkt die Gefahr des Scheiterns von Beziehungsaufbauten und Verständigungen, da Kollektivangebote der Fremd- und Selbstdeutung an Verbindlichkeit verloren haben, brüchiger und legitimierungsbedürftiger werden (Poferl & Schröer 2021). Infolge der Fragmentierung gemeinsamer Bedeutungs- und Wissenshorizonte besteht die Aufgabe für moderne Subjekte darin, situativ passfähige Angleichungen in einem fortwährenden Dialog zu entwerfen. Dieser Dialog muss die kommunikativen Zeichen-, Wissens- und Symbolgefüge immer wieder neu ›ausbalancieren‹ und so die verschiedenen Perspektiven bis auf weiteres anschlussfähig machen. Dialogizität bleibt bis in die wissenschaftliche Praxis hinein vom Scheitern bedroht. Ethnographisch beschreibbar ist sie nur aus einem differenzlogischen Zeichenverständnis als jeweiliges – wie wir es nennen möchten – ›Zeichenpluriversum‹. Die solche Pluriversen im Miteinander tragenden Perspektiven unterscheiden, überlagern, vervielfältigen, separieren, entwickeln, verändern sich und passen sich, je nach lebensweltlicher, raumzeitlicher und nicht zuletzt historischer Konstellation, neu an.

Das krisenhafte Moment der Zeicheninterpretation und des Sprechens mit ›dem‹ und über ›den Anderen‹ erfährt – im Zuge globaler gegenwartsgesellschaftlicher Entwicklungen – neue Wendungen. Das Problem der Repräsentation hat sich dabei verallgemeinert und lässt sich keiner grobkörnigen Unterscheidung von ›Fremdheit‹ und ›Vertrautheit‹ unterordnen. Weltanschauliche Differenzen, aber auch voneinander abweichende Erfahrungshintergründe fordern Gewissheitsannahmen und Deutungsroutinen heraus: Sie betreffen die Zugehörigkeit zu differenten sozialen Milieus, migrationsbezogene, inter- und transkulturelle Erfahrungen, das Leben in lokal und global entfernten Räumen, geschlechtlich codierte Lebenszusammenhänge und Exis- tenzweisen, Alter(n)s- oder Krankheitserfahrungen, die Ausdifferenzierung von Szenen und Lebensstilen, historische Lagerungen, politisch-ideologische Parteinahmen und anderes mehr. Die perspektivgebundenen Zeichenreservoirs, die Horizonte der Symbolbenutzung und Symbolinterpretation werden in ihrer Unterschiedlichkeit und Ungleichheit, Vielfältigkeit und Machtförmigkeit teils deutlich wahrnehmbar, teils verschwommen. Sie entziehen sich etablierten Sichtweisen, brechen ›Gewohnheiten‹ der Beobachtung, Einschränkungen der Aufmerk- samkeit sowie das vermeintlich gesicherte Sinnverstehen auf.

Was bedeutet dies für eine Ethnographie, die ›fremde‹ und ›vertraute‹ Welten untersuchen will und deren Aufgabe darin besteht, das Selbstverständliche in Frage zu stellen? Das Ethnographieren von kommunikativem Handeln und das Ethnographieren als kommunikatives Handeln (hin zu einer soziologischen Theorie und deren empiriegesättigter Darstellung) kann sich bspw. die Strategien der ›künstlichen Dummheit‹ (Hitzler 1986), der ›Befremdung des Vertrauten‹ (Amann & Hirschauer 1997), der ›Dialogischen Anverwandlung‹ (Schröer 2007) und nicht zuletzt die des ›Existentiellen Engagements‹ (Honer 1993; Hitzler & Eisewicht 2016) zunutze machen. Deren Gelingensbedingungen sind komplex – für die Tagung fragt sich, ob und wie der Kanon an ethnographischen Strategien gerade in Hinsicht auf die Beschreibung von Perspektivendifferenz im kommunikativen Handeln erweitert werden kann, und ob und wie eine adäquate Erfassung der Perspektivendifferenz in Anbetracht einer dezentralen und ihrerseits perspektivdifferenten ethnographischen Positionierung überhaupt vorstellbar ist. Es geht dabei vorrangig um Dialoggestaltungen. Das heißt, es geht darum, Annäherungsmöglichkeiten aus- zuloten und sich selbst der Erfahrung des (vorläufigen) Nicht-Verstehens auszusetzen, sich auf ein kommunikatives Miteinander mit irritierenden Feldbewohnern und –bewohnerinnen einzulassen. Methodologisch erfordert das Ethnographieren von kommunikativem Handeln ein Aus- schöpfen der je ›unwahrscheinlichsten‹ Lesartenbildung (vgl. Soeffner 2002) und der soziologischen Phantasie (vgl. Poferl 2021 [1999]). Ethnographie Betreibende erkennen den aus dem Zusammenspiel der Perspektiven konstituierten Eigensinn des von ihnen erhobenen kommunikativen Handelns nicht ›an sich‹, aber sie erkennen ihn in einer Neuorientierung ›für sich‹ (Dammann 1992); sie machen sich und die Rezipienten ihres Forschungsberichtes so mit ihrer (Re-)Konstruktionsleistung vertraut und ermöglichen der scientific community eine Kritik dieser Aneignung. Als kommunikatives Handeln ist Ethnographie gefordert, sich auf ungesichertes Terrain der Welterkundung zu begeben. Darin liegt – zunächst – keine besondere Interpretationskunst, sondern eine Haltung, die ›uns‹ die soziale Wirklichkeit ihrerseits aufdrängt.

Die 9. Feldarbeitstage haben Ort und Anbindung gewechselt. Sie finden in Fortsetzung der bisherigen Fuldaer Feldarbeitstage im Juni 2024 ein erstes Mal an der TU Dortmund statt.

Einen Vorschlag zu einem theoretischen, methodologischen, methodenorientierten und/oder empirischen Vortrag zum Themenfeld ›Perspektivendifferenz. Zur Ethnographie des kommunikativen Handelns‹ richten Sie bitte in Form eines maximal 4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassenden Abstracts bis zum 15. März 2024 an Angelika Poferl (angelika.poferl@tu-dort- mund.de), und an Paul Eisewicht (paul.eisewicht(at)uni.muenster.de).Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen!