Die Expansion von Praktiken des Experimentierens, des trans- und interdisziplinären Austauschs, sozialer Innovationen und partizipativer und transformativer Forschung – seien es Living Labs, Nischenexperimente, offene Arenen etc. – in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, setzt die Soziologie vor eine erneute Richtungsentscheidung. Welche Rolle soll sie analytisch zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen einnehmen und welche Rolle kann (und soll) sie selbst in diesen Transformationsprozessen spielen (Böschen, Groß & Krohn 2017, aber auch Bogusz 2018)? Befeuert wird diese Entwicklung durch einen hohen normativen gesellschaftspolitischen Erwartungsdruck, der eine neue Rolle der Sozialwissenschaften in der Ausgestaltung gesellschaftlichen Wandels – etwa hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft – einfordert. Für eine Transformationssoziologie stellt sich die Frage von ›Engagement und Distanzierung‹ (so Elias) mithin auf eine ganz neue Weise.
Dieses Problem wird noch dadurch vertieft, dass Gesellschaft immer weiter in Milieus, Lebensstilen, Weltanschauungen und Wertesystemen gleichsam zerfasert, bei denen Differenzen, Konflikte und die Gleichzeitigkeit von sehr unterschiedlichen Wandlungsdynamiken zu polarisierten öffentlichen Debatten führen (wie etwa jüngst das Fortsetzen der Kernkraft- und Erdgaspolitik im Rahmen einer nachhaltigen Nomenklatur). Praktiken experimentellen Erprobens eröffnen dabei zum einen die Chance auf Erprobung neuer Wege, lassen sich aber zum anderen immer weniger einhegen. Wie die Metapher von der ›Gesellschaft als Labor‹ auf die Expansion akademischer Wissensproduktion in anderen Teilbereichen der Gesellschaft hin, so konstituieren sich jetzt ›Labore als Gesellschaft‹, in denen z.B. Nachhaltigkeitsprobleme gelöst werden sollen.
Deshalb geht muss es darum gehen, die wissenschaftlichen Mittel zu erarbeiten, um solche Prozesse besser verstehen zu können. Und das nicht in einer historischen Perspektive als abgeschlossene Transformationen (klassisch bei Geels 2002), sondern in Echtzeit als gerade ablaufende Prozesse, die auch polarisierte Konflikte aushalten müssen. Hier stellt sich die Frage nach den Beobachtungskonstellationen, die man soziologisch schaffen müsste, um diese Prozesse angemessen zu untersuchen. Wie gestaltet sich der Feldzugang und die eigene Positionierung relativ zum jeweiligen Feld? Dabei wird in den letzten Jahren auch immer stärker von einem ›experimental turn‹ in den Sozialwissenschaften gesprochen, um besser zu verstehen, welche Interventionen unter den heutigen Bedingungen funktionieren und Transformationen antreiben (Bogusz & Lamla 2019). Diese Experimente sind aber immer häufiger ganz grundsätzlich auch Teil der beobachteten Transformationsprozesse und affizieren damit unausweichlich die Rolle und das Rollenverständnis der Soziologie. Mit diesen Experimenten partizipieren Sozialwissenschaftler*innen zum einen viel stärker in den zu untersuchenden Veränderungsprozessen, da sie diese ja auch initiieren und in die sie reflektierend intervenieren möchten, zum anderen tragen aber auch andere Akteursgruppen aktiv zur Erweiterung des Wissens um Transformation bei. Neben der Positionierung von Forschung und Forscher*innen in diesen Prozessen gilt es darüber hinaus das methodische Vorgehen in Bezug auf die Kontexte neu zu reflektieren. Die Unterscheidung zwischen einer rein beobachtenden, einer politik-beratenden und einer öffentlich aufklärenden Soziologie (Burawoy 2005) wird hier dann ebenso durchlässig und eine klare Trennung dieser Rollen immer anspruchsvoller (so man sie aufrechterhalten möchte).
Die Tagung Transformationssoziologie möchte sich mit diesem Themenkreis beschäftigen, interessierte Forscher*innen versammeln und einen Startpunkt für ein Community Building schaffen. Wir bitten daher um Beiträge, die eine oder mehrere der folgenden Fragestellungen, entweder in der Form eines Impulsvortrags oder eines Werkstattgesprächs aufgreifen:
- Wie lassen sich Transformationsprozesse verstehen, welche Theorien und Methoden stellen für eine Transformationssoziologie sinnvolle Angebote dar und wo liegen jeweils ihre Stärken und Schwächen?
- Gibt es emblematische empirische Fälle, die für eine Soziologie der Transformation besonders instruktiv sind?
- Inwiefern befördern oder blockieren gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken Transformationsaktivitäten?
- Welche Rolle spielen experimentelle Praktiken aus der Sicht der Soziologie in solchen Transformationsprozessen und was kann man von ihnen lernen?
- Welche Rollen kommen der Soziologie oder der Soziolog*in selbst in diesen Prozessen zu und inwiefern hat dies Rückwirkungen auf das eigene Selbstverständnis?
- Welches Qualitätsverständnis von Forschung ist dieser Art von Projekten zu eigen und wie kann es überprüft werden?
- Wie ist die spezifische Rolle universitärer Forschung im Vergleich zu außeruniversitären oder anwendungsorientierten Forschungseinrichtungen und Hochschulen zu charakterisieren?
- Wie kann man die stärkere Partizipation in und das Anstiften von Veränderungsprozessen kritisch reflektieren und wie lassen sich hierbei wissenschaftliche Ergebnisse sichern, um z.B. auch in polarisierten Umfeldern fruchtbar zu bleiben?
- Welche unterschiedlichen Arten sozial-ökologischer Transformationsprozesse lassen sich auf Basis welcher Systematik unterscheiden?
- Welche normativen und/ oder theoretischen Implikationen stecken in dem Begriff der (sozial-ökologischen oder digitalen) Transformation selbst?
Es soll viel Zeit für Diskussionen geben, die durch die Impulsvorträge angeregt werden oder problem-basiert in der Form eines Werkstattgesprächs zu laufenden Forschungen, als gemeinsame Bearbeitung eines Problems eingebunden werden. Bitte geben Sie in Ihrem Abstract an, für welches der beiden Formate (Impulsvortrag oder Werkstattgespräch) Sie sich bewerben. Gerahmt werden soll die Veranstaltung durch Keynotes, für die Prof Dr. Sighard Neckel (Universität Hamburg) und Prof. Dr. Henning Laux (Universität Hannover) zugesagt haben.
Beitragsvorschläge von max. 1 Seite bitte bis zum 30.06.2023 an mschmitt(at)soziologie.rwth-aachen.de.