Tagung der Sektion Land-, Agrar- und Ernährungssoziologie, 24.-25. November 2017, Leibniz Universität Hannover
Das moderne Ernährungssystem basiert auf einer Reihe systematischer Trennungen: der Trennung von Produktion und Konsum, der Trennung der landwirtschaftlichen Produktion von ihren Produktionsmitteln und ihren lokalen Gemeinschaften, der räumlichen Trennung von Land und Stadt sowie der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen von Agrarwissenschaft und Ernährungswissenschaft. Diese, in Anlehnung an Giddens‘ Terminologie, räumliche und soziale ›Entbettung‹ der Landwirtschaft geht einher mit ihrer Integration in zunehmend globalisierten Warenketten (food chains) und nationalen sowie internationalen Regulierungsregimen. Dieses Ernährungssystem wird zunehmend als nicht nachhaltig und fragil bewertet. Das fand auch seinen Niederschlag im jüngst abgeschlossenen ›Dialog Landwirtschaft‹ des Bundesumweltministeriums, in dem eine soziale und ökologische Landwirtschaft gefordert wurde. Nach und nach scheint sich die Erkenntnis auf breiter Ebene durchzusetzen, dass das Ernährungssystem von Grund auf transformiert werden muss, damit die ökologischen Grundlagen der Gesellschaft erhalten werden können. Wie das Ziel und der Weg zu einem nachhaltigen Ernährungssystem aussehen können, ist – der Komplexität des Unterfangens der gesellschaftlichen Transformation eines über zwei Jahrhunderte in einem ko-evolutionären Prozess verflochtenen Systems von Institutionen, physischer Infrastruktur und Technologien geschuldet – noch unklar.
So hat beispielsweise der Agrarsoziologe van der Ploeg mit den Konzepten des ›Repositioning‹ (Neuausrichtung), ›Regrounding‹ (Erdung) und ›Self-Regulation‹ (Selbstregulierung) drei Prinzipien skizziert (van der Ploeg 2006), die eine grundlegende Orientierung für die Formulierung alternativer Entwürfe des Ernährungssystems bieten, aber in der Praxis Präzisierungen bedürfen. ›Repositioning‹ bezeichnet dabei die Neudefinition von Marktbeziehungen für die Landwirtschaft, die es ihr ermöglichen, sich den Zwängen der kapitalintensiven Landbewirtschaftung und vertikalen Marktintegration durch ökonomische Wirtschaftsstile und Diversifizierung zu entziehen und die natürliche Ertragskraft der Agrarökosysteme sowohl wirtschaftlich als auch sozial nachhaltig zu nutzen. ›Regrounding‹ bedeutet, den landwirtschaftlichen Produktionsprozess auf seine lokalen ökologischen Grundlagen zurückzuführen, während ›Self-Regulation‹ auf die Notwendigkeit der Stärkung lokaler Kooperationen verweist, die die Neuausrichtung und Erdung des landwirtschaftlichen Produktionsprozesses ermöglicht.
Diese Leitideen verweisen auf die Notwendigkeit einer Entwicklung ›von unten‹, um die verfestigten Trennungen des Ernährungssystems zu überwinden, und artikuliert zugleich Zweifel an der Möglichkeit, ein nachhaltiges Ernährungssystem ›von oben‹ zu planen. In der Tat beruhen die ›Gegenstrukturen für die Formulierung und Umsetzung einer Vision für eine andere Landwirtschaft […] auf Bündnissen [„von unten‹]: Bündnisse zwischen Produzenten/Produzentinnen und Konsumenten/Konsumentinnen; Bündnisse zwischen ökologisch und konventionell wirtschaftenden Landwirten/Landwirtinnen; Bündnisse, die aus einer Vielzahl von Akteuren und Vereinen, Bauernverbänden, Natur- und Verbraucherschutzorganisationen, Parteien sowie Kirchen bestehen; Bündnisse, die Brücken über alte politische Gräben bauen› (Gottschlich 2017) – und Bündnisse, die die Grenzen zwischen Stadt und Land überwinden.
Diese vom Land aus gedachte Perspektive ist um eine städtische Perspektive auf Nahrungsmittelproduktion und Ernährung zu ergänzen, denn veränderte globale Rahmenbedingungen führen dazu, dass sich die städtische Lebensmittelversorgung grundlegend wandelt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Ernährungspolitik in die Stadt „zurückkehrt‹ (Müller 2007, Stierand 2014). Charakteristisch für die neuen Ansätze der Urban Food Governance ist die Integration verschiedener Politikbereiche und -ziele, die direkt oder indirekt mit dem Thema Ernährung verbunden sind. Der nachhaltigen Gestaltung des urbanen Ernährungssystems kommt eine Schlüsselrolle in der kommunalen Nachhaltigkeits-Governance zu. Zivilgesellschaftliche Initiativen gehen hier häufig mit innovativen Lösungsansätzen voran. Im Mittelpunkt der Diskussion und der Aufmerksamkeit stehen in Deutschland vor allem Ansätze wie urbane oder solidarische Landwirtschaft, interkulturelle und Gemeinschaftsgärten oder das städtische Imkern (Stierand 2008). Aber auch auf kommunalpolitischer Ebene finden sich bereits innovative Ansätze, wie zum Beispiel das Konzept ›essbarer Städte‹ (z. B. Andernach) oder die Gründung von Ernährungsräten (z. B. in Berlin und Köln).
In dieser Tagung möchten wir insbesondere solche Strukturen und Bündnisse in den Blick nehmen, die auch die Stadt-Land-Beziehungen neu definieren. Aus soziologischer Sicht stellen sich dazu u. a. folgende Fragen:
- Was sind die Voraussetzungen und Formen/Geschäftsmodelle dauerhaft erfolgreicher Stadt-Land-Kooperationen?
- Gibt es eine ökologische Agrarfrage? Inwieweit lässt sich die These einer ›repeasantisation‹ (van der Ploeg) bestätigen? Welche Rolle spielen neue landwirtschaftliche Betriebskonzepte (z. B. solidarische Landwirtschaft)?
- Welche Vorstellungen, Ideen und Deutungen von nachhaltiger Landwirtschaft, nachhaltiger Ernährung und Region(alität) teilen die beteiligten Akteure und wie werden diese kommuniziert?
- Wer sind die Akteure und sozialen Milieus und wie sind soziale Arrangements (z. B. in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse oder die Sozialstruktur) gestaltet?
- Werden ökologische Effekte (welche und wie) erfasst und beschrieben? Welche Wissensressourcen/-formen werden dazu genutzt? Entsprechen die ökologischen Effekte den Erwartungen der beteiligten Akteure und wie gehen diese mit ggf. kontroversen Effekten um? Welchen Stellenwert haben weitere Auswirkungen etwa für die Lebensqualität?
- Mit welchen Entwicklungsbarrieren sehen sich die neuen Organisations- und Governance-Strukturen konfrontiert? Inwieweit lassen sich die gefundenen Lösungen auf andere Kontexte übertragen?
Veranstalter/innen der Tagung sind:
Jana Rückert-John, Hochschule Fulda, Fachbereich Oecotrophologie, Lehrstuhl für die Soziologie des Essens, Fulda
Tanja Mölders, Leibniz Universität Hannover, gender_archland, Hannover
Rosemarie Siebert, Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung, Institut für Sozioökonomie, Müncheberg
Lutz Laschewski, Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität Rostock, Rostock
Annett Steinführer, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Institut für Ländliche Räume, Braunschweig