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Kinder und Kindheit in gesellschaftlichen Umbrüchen

Interdisziplinäre Jahrestagung der Sektion Soziologie der Kindheit am 11.-13. Oktober 2018, Stendal

Wie wirken sich gesellschaftliche Umbrüche auf die Strukturen der Kindheit sowie auf kindliche Erfahrungen aus? Was trägt eine von Kindheit und der sozialen Position von Kindern ausgehende Beschreibung gesellschaftlicher Umbrüche zu deren Analyse bei? Ausgehend von diesen Fragen beschäftigt sich die interdisziplinär angelegte Jahrestagung mit dem Verhältnis von Kindheit und gesellschaftlichen Umbrüchen.

Als ›gesellschaftliche Umbrüche‹ lassen sich rasch ablaufende, tiefgreifende und seltene Veränderungen der Strukturen eines sozialen Systems bezeichnen (Mayntz 1995). Nach Mayntz beschädigen und zerstören gesellschaftliche Umbrüche ganze Staaten, ihre Institutionen und deren Regulierungen und bringen neue hervor; sie schaffen und verstärken horizontale und vertikale Mobilisierungen, die zu sozialen Neustrukturierungen führen können. Von Einzelnen werden sie eher ungeplant und als unintendierte Folgen intentionalen Handelns produziert. Sozialwissenschaftlich untersucht wurden und werden Umbrüche auch mit Begriffen wie ›Transformation‹ oder ›Zäsur‹.

Derartige Umbrüche sind etwa Aufstände und Revolutionen, erlebte Kriege und Kriegsniederlagen, Kolonisierungen und entkolonialisierende Befreiungen; sie sind mithin fast immer von heftigen Konflikten begleitet, die nicht selten äußerst gewaltsam ausgetragen werden. Sie können von den von ihnen erfassten Menschen unter Einfluss der jeweiligen Positionierung und der jeweils besonderen Erfahrungen als biographische Umbrüche erlebt werden. Entsprechende Verarbeitungen und Neuorientierungen sind oft durch starke Emotionen getragen, die zwischen Katastrophenstimmung und Euphorie changieren können.

Neben (gewaltsamen) Umbrüchen, die ganze (nationalstaatlich verfasste) Gesellschaften und ihre Institutionen betreffen, lassen sich als Umbrüche in der Gesellschaft aber auch solche verstehen, die ihre Relevanz insbesondere für spezifische gesellschaftliche Bereiche entfalten. Im Hinblick auf die Institution Kindheit wären dies etwa politische Entscheidungen über neue Konzepte, Gesetze und Verordnungen in der Kinder- und Jugendhilfe oder im Jugendstrafrecht, die Einführung marktförmiger Steuerungsinstrumente in das Bildungssystem oder die Erfindung und Einführung neuer digitaler Medien in das gesellschaftliche Leben. Solche Umbrüche können Teile eines sich über längere Zeiten erstreckenden sozialen Wandels (etwa die Entstehung der Moderne, die Herausbildung des modernen Staates, die Industrialisierung, der Aufbau sozialer Sicherungssysteme usw.) sein, diesen beschleunigen oder verlangsamen und in diesem Zusammenhang wiederum eigene weitreichende und langfristige gesellschaftliche Folgen haben.

Im historischen Rückblick werden für das 20. Jahrhundert in Europa gesellschaftliche Umbrüche meist mit spezifischen Jahreszahlen angegeben und als historische Zäsuren gekennzeichnet. Obwohl der Begriff der historischen Zäsur wegen seiner begrifflichen Unschärfe, sozialen Perspektivgebundenheit und dem Spannungsverhältnis zwischen historischem Ereignis und biografischer Erfahrung umstritten ist, kann er als heuristisches Instrument dienen (Sabrow 2013), mit dem Möglichkeiten und Grenzen eines Erkenntnisgewinns im Kontext historischer Ereignisse ausgelotet werden können. Diskutiert werden können mit Begriffen wie Umbruch, Transformation, Zäsur aber auch relativ aktuelle Ereignisse, die bereits jetzt Potential für gravierende gesellschaftliche Veränderungen erkennen lassen – etwa gegenwärtige globale Migrations- und Fluchtbewegungen.

Der Fokus auf gesellschaftliche Umbrüche kann auch als Ausgangspunkt der Frage nach kurzfristigen oder nachhaltigen strukturellen Veränderungen von Kindheit sowie nach institutionellen Beharrungstendenzen in Umbrüchen dienen. Zu mittel- und langfristigen Wandlungsprozessen von Kindheit liegen inzwischen etliche Untersuchungen vor, während die Bedeutung kurzfristiger und radikaler gesellschaftlicher Umbrüche für Kinder und Kindheit zumindest in soziologischer Hinsicht bisher weniger diskutiert wurde. Derartige Umbrüche und ihre Rückwirkungen auf die Strukturen der Kindheit sowie auf kindliche Erfahrungen stehen daher im Mittelpunkt der interdisziplinären Jahrestagung.

Die Diskussion der Umbruchsthematik erscheint gerade vor dem Hintergrund eines angenommenen langfristigen Wandels des Begriffs der Kindheit und seiner Institutionalisierungen neue Erkenntnisperspektiven zu eröffnen. Wenn ›Kindheit‹, zunächst in West- und Mitteleuropa und dort vor allem in den gehobenen bürgerlichen Milieus, als besonders schützens- und behütenswerte Lebensphase verstanden und institutionalisiert wurde, und wenn dieses Verständnis tendenziell für alle gesellschaftlichen Schichten gültig sein sollte, dann müssen Umbrüche, die diesen Schonraum in Frage stellen oder gar zerstören, als umso skandalöser erscheinen. Als Verstoß gegen ›normalisierte‹ Kindheitsvorstellungen und insofern als Skandal gewertet wird in der öffentlichen Wahrnehmung beispielweise, wenn Kinder nicht zur Schule gehen können, wenn sie ihre familiäre Einbettung verlieren, einer gewalttätigen sozialen Umwelt hilflos ausgeliefert sind oder von neuen Medien ›überflutet‹ werden. Umgekehrt sind Umstände denkbar, in denen gesellschaftliche Umbrüche als Möglichkeit zur Institutionalisierung einer "guten Kindheit" gesehen werden, in denen Schutz- und Schonraum vor einer sozial und physisch destruktiven Umwelt auftauchen.

Nimmt man Kindheit erstens als in spezifischen Formen institutionalisiert und organisiert an (etwa in Familien, in der Religion, in Bildungs- bzw. Erziehungseinrichtungen, im öffentlichen Kinder- und Jugendschutz und in der – kirchlichen, kommunalen oder staatlichen – Sozialhilfe und -aufsicht), so wirft dies die Frage nach entsprechenden Strukturbrüchen und Umbildungen in den gesellschaftlichen Umbrüchen auf.

Unter der Annahme, dass Kindheit historisch spezifisch institutionalisiert und konstitutiver Teil der Sozialstruktur ist, lässt sich zudem zweitens fragen, ob und wie sich die soziale Position von Kindern im Verhältnis zu ihrer Familie, zu anderen Erwachsenen, zu sozialen Rahmeninstitutionen und auch zwischen Eigen- und Fremdgruppen von Kindern in gesellschaftlichen Umbrüchen verändern – etwa zwischen sozialen Schichten und Milieus, im Verhältnis zur Gewalt, in der jeweils gruppenspezifischen sozialen Wahrnehmung usw.

Einreichungen sind insbesondere zu folgenden Schwerpunkten der Tagung erwünscht:
Kindheit als Institution/ Institutionen und Organisationen der Kindheit

  • Inwiefern und in welchen Zusammenhängen verändern sich in gesellschaftlichen Umbrüchen Kindheit als Institution bzw. die Bilder oder Vorstellungen von Kindern und Kindheit?
  • Welche neuen Normierungen, welche Institutionen und Organisationen der Kindheit sind in Umbrüchen kurzfristig oder nachhaltig entstanden, und mit welchen Legitimationsdiskursen sind sie verknüpft? Welche nichtkindlichen Akteure und Interessen waren oder sind beteiligt? Wie und in welchen Formen waren oder sind Kinder aktiv oder passiv daran beteiligt?
  • Welche institutionellen Deutungsangebote, welche Organisationen und welche sozialen Räume stehen Kindern in Umbrüchen und für die Verarbeitung von Umbruchserfahrungen zur Verfügung, wie nutzen sie diese bzw. haben sie diese genutzt? Wie werden sie von Kindern selbst erlebt?

Soziale (Ungleichheits-)Strukturen

  • Inwiefern bringen oder brachten gesellschaftliche Umbrüche Mobilisierungen von Kindern als soziale Gruppe und/oder soziale Gruppen von Kindern hervor?
  • Inwiefern verändern sich dabei auch generationale Strukturen? Welche gesellschaftlichen Folgen hat dies?
  • Welche neuen sozialen Positionen und Rollen eröffnen sich (welchen) Kindern, welche verschließen sich ihnen?
  • Wie werden Kinder gesellschaftlich platziert?
  • Welche sozialen Positionen bzw. Rollen beanspruch(t)en Kinder selbst, welche erfüllen sie spezifisch?

Methodologische und methodische Fragen

  • Wie können institutionelle und strukturelle Veränderungen bzw. Beharrungstendenzen im Hinblick auf Kindheit in historischen und gegenwartsbezogenen Perspektiven untersucht werden?
  • Wie können Perspektiven von Kindern als Kinder bzw. nicht nur im Rückblick als Erwachsene zugänglich gemacht werden, etwa auf der Basis von Tagebüchern, Interviews, Gruppendiskussionen, Aufsätzen, Briefen, Protokollen, Blog-Beiträgen, Zeichnungen oder Fotos?

Mit der Jahrestagung sollen minimal und maximal kontrastierende Vergleiche angeregt werden, die sowohl historische und aktuelle Ereignisse als auch unterschiedliche Orte gesellschaftlicher Umbrüche einbeziehen. Unter der Annahme der Institutionalisierung einer (modernen westlichen) Kindheit als Schutz- und Schonraum bzw. des normativen Musters einer langen, behüteten Kindheit sollen sich die Beiträge vor allem auf das 20. und 21. Jahrhundert beziehen.

Die Tagung zielt damit sowohl auf konkrete als auch auf allgemeinere Einsichten und Erkenntnisse über Kinder und Kindheit in gesellschaftlichen Umbrüchen.

Erwünscht sind vor allem entsprechende empirische Studien aus (kindheits-)soziologischen und historischen Perspektiven, aber auch politik- und erziehungswissenschaftliche oder interdisziplinär angelegte Beiträge. Ausdrücklich erwünscht sind Beiträge des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Tagungsort ist die Hochschule Magdeburg-Stendal in Stendal.

Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.

Tagungsvorschläge sind in Form von Abstracts im Umfang von 3000 Zeichen an die unten stehenden Email-Adressen zu senden. Einsendeschluss für die Abstracts ist der 28.02.2018. Nachfragen können an Prof. Dr. Claudia Dreke und Prof. Dr. Beatrice Hungerland gestellt werden.

Kontakt: claudia.dreke@hs-magdeburg.de; beatrice.hungerland(at)hs-magdeburg.de

Die Tagung wird ausgerichtet von der Sektion Soziologie der Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Kooperation mit der Hochschule Magdeburg-Stendal.