Tagungsarchiv

Egalisierende und Ungleichheit stiftende Wirkungen von Wissenschaft und Technik

Herbsttagung der Sektion Wissenschafts- und Techniksoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 04. - 08. Oktober 2004

Von sozialer Ungleichheit sprechen wir, wenn unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer sozialen Lage, ihres Geschlechts, ihrer Bildung, ihres ökonomischen Kapitals, ihres Berufs oder anderer sozialer Merkmale systematisch geringere oder größere Chancen besitzen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, begehrte Positionen zu erringen, Einfluss auszuüben, eigene Interessen durchzusetzen usw. Gemeint sind mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit also Unterschiede in den Zugangschancen zu gesellschaftlich relevanten Handlungsfeldern und Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieser Felder, die in der unterschiedlichen Verfügung über die dazu erforderlichen Ressourcen ihre Ursache haben. Dabei ist zumeist mitgedacht, dass der Erwerb dieser Ressourcen nicht allein von der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit des Einzelnen abhängt, sondern mindestens ebenso von der sozialen Stellung, in die er bzw. sie hineingeboren und hineinsozialisiert wird, sowie von gesellschaftlich zugeschriebenen sozialen Attributen.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach egalisierenden oder Ungleichheit stiftenden Wirkungen von Wissenschaft und Technik eine Frage danach, ob und in welcher Weise wissenschaftliches Wissen bzw. technische Artefakte dazu beitragen bzw. beitragen können, Differenzen in den Handlungsmöglichkeiten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu verringern bzw. zu vergrößern. Beide Richtungen sind denkbar und für beide Richtungen lassen sich einschlägige Überlegungen bzw. Beispiele anführen.

Ein aktuelles Beispiel für eine Technologie, deren Einsatz unter Umständen sogar zur Entstehung neuer Formen sozialer Ungleichheit führen könnte, ist die Gendiagnostik. Der Einsatz gendiagnostischer Verfahren zur Früherkennung erblicher Krankheitsdispositionen könnte zur Folge haben, dass Personen mit entsprechenden genetischen Dispositionen private Kranken- oder Lebensversicherungen nur noch zu ungünstigeren Konditionen angeboten bekommen oder gar überhaupt nicht mehr, oder auch, dass solche Personen Nachteile auf dem Arbeitsmarkt zu gewärtigen haben.

Auf der anderen Seite bieten uns vielerlei technische Geräte des alltäglichen Gebrauchs Beispiele für eine soziale Ungleichheit verringernde Wirkung des Technikeinsatzes. Alltagstechniken wie Auto, Kühlschrank, Elektroherd, Zentralheizung oder Kommunikationstechniken haben dazu beigetragen, dass die breite Bevölkerungsmehrheit in Sachen Mobilität, Wohn- und Ernährungsqualität oder Zugang zu Informationen Handlungsmöglichkeiten besitzt, die vor noch nicht allzu langer Zeit einer kleinen gesellschaftlichen Schicht vorbehalten waren. Diese Wirkung entsteht dadurch, dass Alltagstechniken den Ungleichheit stiftenden Vorteil des Besitzes von ökonomischem wie auch von Bildungskapital in einem gewissen Umfang abschwächen. Nicht nur führt die ebenfalls technisch ermöglichte Produktivkraftentwicklung dazu, dass diese Techniken für den Großteil der Bevölkerung erschwinglich werden. Die Automatisierung der Artefakte, die die Bedienung auf den Knopfdruck reduziert, verringert zugleich auch das zu ihrer Benutzung erforderliche Vorwissen. Diese Wirkung tritt jedoch nur ein, wenn die Technik tatsächlich erschwinglich oder der Zugang zu ihr möglich ist. Wo dies nicht der Fall ist, können sich bestehende Disparitäten weiter vergrößern. Ganze Völker und Kontinente können den Anschluss an den "technischen Fortschritt" verlieren.

Viele Geräte, die inzwischen als Alltagstechniken weite Verbreitung gefunden und Gleichheit stiftende Wirkungen entfaltet haben, wurden zunächst in Industrie und Handwerk in Produktionszusammenhängen genutzt. Technische Innovationen resultierten hier in "schöpferischer Zerstörung". Individuelle Fertigkeiten und Wissensbestände wurden ebenso entwertet wie Investitionen in konventionelle Technik. So ergaben sich gesamtwirtschaftliche Wachstumseffekte über die Erzeugung von Disparitäten.

Die Wirkung und die Wirkungsrichtung hängt also nicht nur von den individuellen Nutzungszwecken ab, zu deren Verwirklichung wissenschaftliches Wissen und Technik im konkreten Einzelfall eingesetzt wird – das wäre die These von der an und für sich "neutralen" Technik bzw. Wissenschaft, die je nach Absicht der Nutzer zum Guten wie zum Schlechten
eingesetzt werden kann. Die Beispiele sprechen vielmehr dafür, dass die Nutzung wissenschaftlichen Wissens und technischer Produkte bzw. Prozesse durchhaus in systematischer Weise richtungsgebunden auf Verhältnisse sozialer Ungleichheit einwirken kann. Die Beispiele machen zugleich auch deutlich, dass eine wissenschaftsdeterministische oder technikdeterministische Erklärung zu kurz greifen würde: Es ist die Existenz einer privatwirtschaftlichen Versicherungswirtschaft, die bereits jetzt beim Vorliegen von Krankheitsdispositionen Risikoaufschläge verlangt, welche die entsprechenden Befürchtungen gegenüber der Gendiagnostik plausibilisiert. Ebenso hängt die Verbreitung und Nutzung technischer Massengüter bekanntermaßen von sehr viel mehr Faktoren ab als nur der technischen Möglichkeit, sie kostengünstig produzieren und einfach bedienen zu können.

Die Frage nach den egalisierenden oder Ungleichheit stiftenden Wirkungen von Wissenschaft und Technik soll auf der Sektionssitzung dementsprechend als Frage nach sozio-technischen Konstellationen gestellt werden, die in systematischer Weise auf Verhältnisse sozialer Ungleichheit einwirken. Es soll um die Beschäftigung mit Prozessen gehen, in denen wissenschaftlich- technische Ressourcen in einer Weise in soziale Handlungsfelder eingebaut werden, die auf die bestehende Ressourcenverteilung und damit auf die bestehende Verteilung von individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten einen verändernden Einfluss hat. Erwünscht sind sowohl Beiträge, die solche Prozesse rekonstruktiv analysieren, wie auch Beiträge, die im Sinne prospektiver Wissenschafts- und Technikfolgenabschätzung entsprechende Entwicklungspfade thematisieren.

Alle Kolleginnen und Kollegen, die interessiert sind, sich mit einem eigenen Beitrag an der Diskussion zu beteiligen, bitten wir um Einsendung eines (max. 2 Seiten langen) Abstracts, bevorzugt per Email, bis spätestens am 31. März 2004, an:

Ingo Schulz-Schaeffer, schulz-schaeffer(at)tu-berlin.de 
Technische Universität Berlin, Institut für Soziologie, FR 2-5, Franklinstr. 28/29, D-10587
Berlin, Tel.: 030/314 25381
Raymund Werle, werle(at)mpi-fg-koeln.mpg.de 
Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung, Paulstr. 3, D-50676 Köln, Tel.: 0221 2767 224